Studie von terre des hommes und der Welthungerhilfe zu den Zusammenhängen zwischen Migration und Entwicklung, 20.7.2015
A) Migration bietet Chancen und Potentiale.
1) Der Großteil der Migrantinnen und Migration weltweit strebt nach besseren Chancen durch den dauerhaften oder temporären Aufenthalt andernorts – Erwerbschancen, Bildungschancen etc.
2) Menschen, die migrieren, weil sie andernorts Chancen suchen, verfügen über wirtschaftliche und gesellschaftliche Potentiale: Sie sind motiviert, ihre Kompetenzen und Kenntnisse, ihre Arbeitskraft und ihre Kreativität dort einzusetzen, wohin sie sich bewegt haben. Dafür sind sie nicht selten auch bereit, Bedingungen in Kauf zu nehmen, die Einheimische ablehnen.
3) Räume starker Zuwanderung waren schon immer Knotenpunkte von Produktivität und Innovation – die 40 größten, durch starke Migration gekennzeichneten globalen städtischen Zentren umfassen gegenwärtig weniger als 18 Prozent der Weltbevölkerung, bündeln aber zwei Drittel der globalen ökonomischen Aktivitäten und ragen technologisch und wissenschaftlich hervor.
4) Potentiale bietet Migration auch für die Herkunftsräume der Migrantinnen und Migranten. Jene, die abwandern, senden häufig nicht nur Geld in die Herkunftsregion, sondern fungieren auch innerhalb ihrer Netzwerke als Mittlerin oder Mittler anderer Weltsichten, neuer technischer oder technologischer, ökonomischer oder kultureller Kenntnisse und Kompetenzen. Damit verschaffen sich Migrantinnen und Migranten, aber auch jene, die in den Herkunftsgesellschaften Leistungen durch Transfer von Geld und Wissen empfangen, ein Mehr an Handlungsmacht, d.h. mehr Einfluss und Entscheidungskompetenzen.
B) Migration bietet Gefahren und Bedrohungen.
1) Zwangs- und Gewaltmigrationen sind Ausdruck der staatlichen und gesellschaftlichen Akzeptanz der Beschränkung von Freiheit und körperlicher Unversehrtheit. Bis in die Gegenwart ist unter staatlichen und kollektiven Akteuren die Vorstellung verbreitet, Herrschaft lasse sich stabilisieren, indem Menschen durch Gewalt zur räumlichen Bewegung genötigt werden. Die Aufnahme von Schutzsuchenden, die der Gewalt in ihren Herkunftsländern und -regionen zu entkommen suchen, verweist zugleich auf die Akzeptanz von Menschenrechten und der Verpflichtung zur Hilfeleistung jenseits der Frage der nationalen und sozialen Herkunft.
2) Begrenzte Teilhabemöglichkeiten und eingeschränkte Handlungsmacht führen oft zu Diskriminierung und Marginalisierung, Ausbeutung und beschränktem Schutz durch staatliche Institutionen oder Gerichte. Migrantinnen und Migranten, die auf der Suche nach Chancen andernorts sind, haben in der Zielregion oft weniger Rechte. Deshalb sind ihre Möglichkeiten der Teilhabe an Politik, Arbeitsmarkt, Bildungs-, Rechts- oder Sozialsystem (stark) beschränkt. In den Zielländern werden Migrantinnen und Migranten nicht selten als Konkurrenten um begehrte (knappe) Ressourcen (zum Beispiel Erwerbsmöglichkeiten, Versorgungsgüter oder Sozialleistungen) wahrgenommen und müssen deshalb mit Ablehnung bis hin zu Hass rechnen. Außerdem gelten sie nicht selten als Gefahr für innere und äußere Sicherheit und für gesellschaftliche Gewissheiten, wie zum Beispiel Vorstellungen über die Homogenität von Bevölkerungen oder Kulturen.
C) Die Debatte um die Frage des Zusammenhangs von Migration und Entwicklung bzw. ob und inwieweit Migration für die Gesellschaften des globalen Südens Entwicklungspotentiale beinhaltet, brachte viele ambivalente Ergebnisse hervor.
Sie hat beispielsweise deutlich gemacht, dass Geldüberweisungen von Migrantinnen und Migranten wegen ihres enormen Umfangs ein hohes Gewicht für die Herkunftsfamilien und -regionen haben, Armut bekämpfen, Bildungschancen eröffnen und für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung sorgen. Allerdings können sie auch neue Ungleichheiten mit sich bringen, die Inflation befördern oder zu einer Fixierung auf Erwerbsmöglichkeiten andernorts führen, die Potentiale vor Ort vernachlässigt. Sie hat damit auch veranschaulicht, dass die Abwanderung gut und sehr gut qualifizierter Kräfte zu einem „brain drain“ führen kann und mithin hohe Ausbildungskosten der Herkunftsgesellschaft nicht zum Tragen kommen können. Gerade für den Bildungs- und Gesundheitssektor im globalen Süden sind vielfach solche Phänomene dokumentiert. Allerdings können sich durch den Transfer von Wissen oder die Rückwanderung von Migrantinnen und Migranten, die neue Kompetenzen und Kenntnisse im globalen Norden erworben haben, transformatorische Potentiale von Wirtschaft und Gesellschaft in den Herkunftsländern entwickeln. Der „Nexus Migration und Entwicklung“ verweist mithin auf einen sehr komplexen Diskussionsgegenstand. Voraussetzung für die Entwicklung von Konzepten und Projekten, die auf die Erschließung von Entwicklungspotentialen in Gesellschaften des globalen Südens durch Migration ausgerichtet sind, ist an erster Stelle die Einsicht in diese Komplexität.
1) Bislang werden die Diskussionen über den „Nexus von Migration und Entwicklung“ vornehmlich im globalen Norden geführt. Wenngleich auch Debatten innerhalb Südafrikas, Indiens und Chinas stattfinden, geben Sichtweisen aus dem Norden vor, was unter erwünschter bzw. unerwünschter „Migration“ und was unter erwünschter bzw. unerwünschter „Entwicklung“ verstanden wird. Die Debatten haben in den vergangenen Jahren vornehmlich deshalb an Dynamik gewonnen, weil politische und ökonomische Interessen aus dem Norden sie vorangebracht haben – Interessen an einer Anwerbung von (hoch)qualifizierten Arbeitskräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels in Europa, Interessen an einem globalen „Management“ von Migration, um erwünschte Bewegungen in den Norden lenken und unerwünschte, weil als Belastung verstandene Migration abwehren zu können oder gar nicht erst entstehen zu lassen.
2) Demgegenüber sind Interessen aus dem globalen Süden deutlich seltener zu hören, werden vielmehr in paternalistischer Manier im Norden (vor)formuliert. Das gilt gleichermaßen für Stimmen von Migrantinnen und Migranten, die sich in der Debatte erst recht nicht ausmachen lassen. Dieser Aspekt verweist noch einmal auf das zentrale Problem der Debatte über das Wechselverhältnis von Migration und Entwicklung: Im Vergleich zu Akteuren im globalen Norden verfügen jene im Süden – Migrantinnen und Migranten, deren Netzwerke und Familien, zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure, überstaatliche Bündnisse – über relativ wenig Handlungsmacht. Erst wenn maßgebliche Akteure im Norden bereit sind, Akteure aus dem Süden als gleichberechtigte Partner in der Aushandlung dessen zu akzeptieren, was unter Migration und Entwicklung verstanden wird und in welcher Beziehung beide Elemente zueinander stehen, lässt sich ein Ausgleich von Interessen herbeiführen und ein Gesamtkonzept entwickeln, das Abstand von der heute allenthalben zu beobachtenden Ad-hoc-Thematisierung von Migration und der weithin ausschließlich auf Projektbasis betriebenen Entwicklungszusammenarbeit gewinnt.[...]
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