Bericht von Amnesty International zur weltweiten Lage der Menschenrechte 2014/15, 24.2.2015
Das Jahr 2014 war ein schwarzes Jahr für alle, die es wagten, für Menschenrechte einzutreten, und für Menschen auf der ganzen Welt, die erleben mussten, wie sich ihre Heimat in ein Kriegsgebiet verwandelte.
Regierungen weltweit werden nicht müde zu betonen, wie sehr ihnen der Schutz der Zivilbevölkerung am Herzen liegt. Und doch versagen die politischen Entscheidungsträger kläglich, wenn es darum geht, denjenigen Schutz zu gewähren, die ihn am dringendsten benötigen. Amnesty International ist überzeugt, dass sich diese Situation ändern kann und muss.
Das humanitäre Völkerrecht legt die Regeln für die Austragung bewaffneter Konflikte fest. Darin heißt es klipp und klar: Niemals dürfen sich Angriffe gezielt gegen Zivilpersonen richten. Es gilt der Grundsatz, jederzeit zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten zu unterscheiden. Für Menschen, die sich den Schrecken des Krieges gegenübersehen, ist dies ein grundlegendes Schutzprinzip.
Und dennoch werden Konflikte immer und immer wieder auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen. In dem Jahr, in dem sich der Völkermord in Ruanda zum 20. Mal jährte, traten politische Führungskräfte die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung wiederholt mit Füßen – oder sahen einfach weg, wenn andere Akteuren sich über diese Regeln hinwegsetzten.
Der UN-Sicherheitsrat hatte angesichts der Krise in Syrien bereits in den vergangenen Jahren keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, als noch Zeit gewesen wäre, unzählige Menschenleben zu retten. Dies setzte sich 2014 fort. Der Konflikt hat in den letzten vier Jahren mehr als 200000 Menschen - leben gefordert. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Zivilpersonen, die bei Angriffen der Regierungstruppen getötet wurden. Etwa 4 Mio. syrische Staatsangehörige sind mittlerweile in andere Länder geflohen. Über 7,6 Mio. Menschen befinden sich innerhalb Syriens auf der Flucht.
Der Syrien-Konflikt ist eng mit der Krise im Nachbarstaat Irak verbunden. Die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS, zuvor Islamischer Staat im Irak und Syrien/ISIS) beging in Syrien Kriegsverbrechen und im Nordirak Entführungen, Hinrichtungen und ethnische Säuberungen in großem Ausmaß. Gleichzeitig verschleppten und töteten schiitische Milizen im Irak mit der Duldung der irakischen Regierung unzählige Sunniten.
Als israelische Streitkräfte im Juli 2014 den Gazastreifen angriffen, wurden 2000 Palästinenser getötet. Auch hier handelte es sich bei den meisten Opfern, nämlich mindestens 1500 Menschen, um Zivilpersonen. Amnesty International hat einen detaillierten Bericht zu dem Konflikt veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die israelische Militäroperation ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung geführt wurde und dabei Kriegsverbrechen begangen wurden. Auch die palästinensische Hamas beging Kriegsverbrechen, indem sie wahllos Raketen auf Israel abschoss und so sechs Menschen tötete.
In Nigeria rückte der im Norden des Landes wütende Konflikt zwischen Regierungstruppen und der bewaffneten Gruppierung Boko Haram ins Zentrum der Weltöffentlichkeit, als Boko Haram in der Stadt Chibok 276 Schülerinnen entführte. Dies war nur eines von vielen Verbrechen, die von der bewaffneten Gruppe begangen wurden. Weniger Schlagzeilen machten die Gräueltaten der nigerianischen Sicherheitskräfte und ihrer Verbündeten gegen Personen, die man verdächtigte, Boko Haram anzugehören oder zu unterstützen. Einige dieser Taten wurden auf Video festgehalten, wie Amnesty International im August 2014 aufdeckte. Das Filmmaterial zeigte, wie Menschen getötet und in einem Massengrab verscharrt wurden.
In der Zentralafrikanischen Republik wurden trotz der Präsenz internationaler Schutztruppen bei gewalttätigen Ausein - andersetzungen zwischen religiösen Gruppen mehr als 5000 Personen getötet. Die damit einhergehenden Fälle von Folter, Vergewaltigung und Massenmord fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Wieder stammten die meisten Todesopfer aus der Zivilbevölkerung.
Auch im Südsudan, dem jüngsten Staat der Welt, lieferten sich Regierungstruppen und Oppositionskräfte bewaffnete Auseinandersetzungen, in deren Folge bereits Zehntausende Zivilpersonen getötet und 2 Mio. Menschen vertrieben wurden.
Beide Konfliktparteien haben dabei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.
Wie dieser Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte deutlich zeigt, sind diese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs. Manche mögen sagen, dass man einfach nichts tun kann, dass Kriege immer auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wurden und sich das auch nicht ändern wird.
Doch das stimmt so nicht. Menschenrechtsverletzungen an Zivilpersonen müssen geahndet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. In dieser Hinsicht wurden bereits praktische Schritte eingeleitet: Amnesty International begrüßt den Vorschlag für einen Verhaltenskodex für die Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates, freiwillig auf Einlegen eines Vetos zu verzichten, wenn dadurch der Sicherheitsrat in Situationen von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in seinem Handlungsvermögen blockiert würde. Etwa 40 Länder haben sich bereits für einen solchen Kodex ausgesprochen.
Dies wäre ein wichtiger erster Schritt, der viele Menschenleben retten könnte.
Die Weltgemeinschaft muss sich jedoch nicht nur vorwerfen lassen, ungeheure Schreckenstaten nicht verhindert zu haben. Auch den Millionen von Menschen, die vor Gewalt in ihren Heimatdörfern und -städten fliehen mussten, wurde die nötige Hilfe verwehrt.
Diejenigen Regierungen, die die Versäumnisse anderer Länder gerne am lautesten anprangern, zeigen sich sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Flüchtlingen wichtige Unterstützung zu gewähren – sowohl finanziell als auch durch die Aufnahme in ihrem Land. Weniger als 2% der syrischen Flüchtlinge waren Ende 2014 in Drittländern aufgenommen worden. Diese Zahl muss 2015 massiv erhöht werden.
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Die vollständige Studie finden Sie hier (pdf).