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»Das Klimaschutzgesetz ist teilweise mit den Grundrechten unvereinbar«

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, 29.4.2021

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 (Klimaschutzgesetz <KSG>) über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen. Im Übrigen wurden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

Das Klimaschutzgesetz verpflichtet dazu, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 55 % gegenüber 1990 zu mindern und legt durch sektorenbezogene Jahresemissionsmengen die bis dahin geltenden Reduktionspfade fest (§ 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2). Zwar kann nicht festgestellt werden, dass der Gesetzgeber mit diesen Bestimmungen gegen seine grundrechtlichen Schutzpflichten, die Beschwerdeführenden vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, oder gegen das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG verstoßen hat. Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen aber in ihren Freiheitsrechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treibhausgasemissionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfassungsrechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klimaneutralität reichen die gesetzlichen Maßgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treibhausgasemissionen ab dem Jahr 2031 nicht aus. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Fortschreibung der Minderungsziele der Treibhausgasemissionen für Zeiträume nach 2030 bis zum 31. Dezember 2022 näher zu regeln.

Sachverhalt:

Das Klimaschutzgesetz reagiert auf die vom Gesetzgeber gesehene Notwendigkeit verstärkter Klimaschutzanstrengungen und soll vor den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels schützen (§ 1 Satz 1 KSG). Grundlagen sind nach § 1 Satz 3 KSG zum einen die Verpflichtung nach dem am 4. November 2016 in Kraft getretenen Übereinkommen von Paris, wonach der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist, sowie zum anderen das Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland, Treibhausgasneutralität bis 2050 als langfristiges Ziel zu verfolgen. Nach § 3 Abs. 1 KSG werden die Treibhausgasemissionen bis zum Zieljahr 2030 im Vergleich zum Jahr 1990 schrittweise um mindestens 55 % gemindert. In § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 sind die der Minderungsquote für das Zieljahr 2030 entsprechenden zulässigen Jahresemissionsmengen in verschiedenen Sektoren geregelt. Eine Regelung über 2030 hinaus enthält das Gesetz nicht. Vielmehr legt nach § 4 Abs. 6 KSG die Bundesregierung im Jahr 2025 für weitere Zeiträume nach dem Jahr 2030 jährlich absinkende Emissionsmengen durch Rechtsverordnung fest.

Mit ihren Verfassungsbeschwerden machen die Beschwerdeführenden vor allem geltend, der Staat habe mit § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 keine ausreichenden Regelungen zur alsbaldigen Reduktion von Treibhausgasen, vor allem von Kohlendioxid (CO2), unternommen, die aber erforderlich seien, um die Erwärmung der Erde bei 1,5 °C oder wenigstens bei deutlich unter 2 °C anzuhalten. Dies sei notwendig, weil bei einem Temperaturanstieg um mehr als 1,5 °C Millionen von Menschenleben sowie das Überschreiten von Kipppunkten mit unabsehbaren Folgen für das Klimasystem auf dem Spiel stünden. Mit der im Klimaschutzgesetz geregelten Reduktion von CO2-Emissionen könne das der Temperaturschwelle von 1,5 °C entsprechende „CO2-Restbudget“ nicht eingehalten werden. Die zum Teil in Bangladesch und Nepal lebenden Beschwerdeführenden stützen ihre Verfassungsbeschwerden vor allem auf grundrechtliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus Art. 14 Abs. 1 GG, auf ein Grundrecht auf menschenwürdige Zukunft und ein Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum, welche sie aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20a GG und aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ableiten. Hinsichtlich der von den Beschwerdeführenden als „Vollbremsung“ bezeichneten künftigen Belastung durch Emissionsminderungspflichten für Zeiträume nach 2030 berufen sich die Beschwerdeführenden allgemein auf die Freiheitsrechte.

Den vollständigen Beschluss finden Sie hier.