Dokumente zum Zeitgeschehen

»Das Versprechen eines offenen Europas einlösen«

Stellungnahme der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL zur EU-Flüchtlingspolitik anlässlich einer Anhörung im Innenausschuss des Bundestages, 2.7.2014

Zusammenfassung

PRO ASYL dankt dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages für die Gelegenheit, an der Anhörung zum Antrag der Fraktion Die Linke „Das Massensterben an den EU-Außengrenzen beenden – für eine offene, solidarische und humane Flüchtlingspolitik in der Europäischen Union“ (Deutscher Bundestag 2014a: Drucksache 18/288) mitwirken zu dürfen. PRO ASYL begrüßt, dass sich der Innenausschuss des Deutschen Bundestages mit der Frage der europäischen Asylpolitik und mit dem tausendfachen Sterben an Europas Grenzen befasst. Die Tatsache, dass nach neueren Berechnungen über 23.000 Flüchtlinge und Migranten seit dem Jahr 2000 starben (The Migrants Files 2014), drückt die Dimension dieses größten Menschenrechtsskandals in der europäischen Flüchtlingspolitik aus. Der Antrag der Fraktion Die Linke übernimmt zahlreiche Forderungen, die von PRO ASYL und anderen Menschenrechtsorganisationen in Deutschland und Europa erhoben werden, um dieses Massensterben zu beenden.

PRO ASYL bearbeitet in dieser Stellungnahme vor allem die zwei drängendsten Problemkomplexe, die aus unserer Sicht die Systemkrise der europäischen Flüchtlingspolitik kennzeichnen: Die Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen und die fehlende Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der 32 europäischen Staaten (sogenannte Dublin-Staaten). Welche legalen und damit gefahrenfreien Zugangswege auf das Territorium der EU und zum Schutz müssen eröffnet werden, um die Todesrate vor Europas Grenzen zu senken bzw. das Sterben zu beenden? Und wie müsste eine solidarische Aufnahme von Asylsuchenden innerhalb Europas aussehen? In anderen Worten: Welche Alternativen gibt es zum technokratischen, extrem Ressourcen verschwendenden und inhumanen Dubliner Asylzuständigkeitssystem?

Am Beispiel der aktuellen syrischen Flüchtlingskrise wird PRO ASYL außerdem das bisherige Versagen der Europäischen Union dokumentieren und Handlungsoptionen aufzeigen, die das Versprechen eines „offenen Europas“ (Europäischer Rat 2009: Stockholmer Programm) einlösen können.

Vordringlich ist aus Sicht von PRO ASYL, dass an Europas Grenzen die Menschenrechte geachtet werden. Die Praxis der Zurückweisungen und Zurückschiebungen, wie sie in Griechenland tausendfach dokumentiert sind, aber auch in Bulgarien oder Spanien vorkommen, muss gestoppt werden.

PRO ASYL fordert die Bundesregierung zudem auf, sich für legale Zugangswege für Schutzsuchende in Europa einzusetzen. Nur so kann das Sterben auf dem Meer verhindert werden. Den syrischen, eritreischen und somalischen Schutzsuchenden, prima facie-Flüchtlingen, die sich aktuell im nordafrikanischen Transit – überwiegend in Libyen – befinden, müssen legale Wege eröffnet werden.

Außerdem muss die Lebensrettung im Mittelmeer europäisch organisiert und finanziert werden: Im Zuge der italienischen Militäroperation „Mare Nostrum“ wurden allein in diesem Jahr knapp 60.000 Bootsflüchtlinge gerettet und nach Italien gebracht. Die fehlende europäische Solidarität wirft in Italien jedoch die Frage auf: Bis wann und in welchem Umfang soll die Seenotrettung beibehalten werden? PRO ASYL fordert, den in den EU-Verträgen normierten „Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“ (Artikel 80 AEUV – Vertrag über die Arbeitsweise der EU) mit Leben zu füllen. Dies bedeutet aus der Sicht von PRO ASYL: Die Seenotrettung im Mittelmeer muss europäisch geregelt und die Kosten von allen Mitgliedsstaaten getragen werden. Die militärische Operation sollte in eine zivile umgewandelt werden.

Flüchtlingen muss darüber hinaus die Weiterreise zu ihren Verwandten und Communities in der EU eröffnet werden. Ein solcher Solidarmechanismus, wie ihn kürzlich auch das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen gefordert hat (Reuters, 13. Juni 2014), wäre ein Akt der Humanität und der Solidarität.

Allen aktuellen Überlegungen im Sinne der europäischen Externalisierungspolitik, „Asylverfahren“ in Drittstaaten auszulagern, ist eine klare Absage zu erteilen. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat am 20. Mai 2014 gefordert, dass die Vereinten Nationen die Verwaltung der Flüchtlingslager in Libyen übernehmen sollen (ANSA, 20. Mai 2014). Dort solle geprüft werden, wer ein Recht auf Asyl in Europa habe. Die Berichte aus dem wichtigsten nordafrikanischen Transitland Libyen werden unterdessen immer besorgniserregender: Bei einer Recherchemission im April 2014 dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wie Migranten und Flüchtlinge in Haftzentren, die unter der Kontrolle der libyschen Regierung sind, gefoltert werden (HRW 2014a). Die italienische Regierung will die Flüchtlingsthematik zum prioritären Thema während ihrer EU-Präsidentschaft im 2. Halbjahr 2014 machen.

Der Antrag der Fraktion Die Linke greift auch die gemeinsam erarbeitete Position von AWO, Diakonie, Deutscher Anwaltsverein, Neue Richtervereinigung, Jesuiten- Flüchtlingsdienst, Paritätischer Wohlfahrtsverband und PRO ASYL zur Änderung der Dublin-Verordnung auf. Das Memorandum mit dem Titel „Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit“ soll eine Debatte darüber anstoßen, wie Europa künftig mit Flüchtlingen umgehen will. Diese Forderung nach einer grundlegenden Änderung des Dublin-Systems wurde auch vom DGB-Bundeskongress im Mai 2014 beschlossen. Mit dem Memorandum machen die unterzeichnenden Organisationen einen eigenen Vorschlag für einen menschenrechtlichen Umbau des Dublin-Systems: Das heutige maßgebliche Kriterium für die Asylzuständigkeit – der „Ort der illegalen Einreise“ – muss gestrichen werden. Ersetzt werden muss dieses durch das „Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates“. Asylsuchende sollen also selbst bestimmen können, in welchem Land der EU sie den Antrag auf Schutzgewährung stellen und ihr Asylverfahren durchlaufen möchten. Etwaige finanzielle Ungleichgewichte können durch Finanztransfers ausgeglichen werden.

PRO ASYL setzt sich seit Beginn des Vergemeinschaftungsprozesses im Asylrecht für ein gemeinsames europäisches Schutzsystem ein. Knapp vierzehn Jahre nach dem Start zu einem gemeinsamen europäischen Asylrecht in Tampere ist auch nach der zweiten Vergemeinschaftungsetappe kein "Europa des Asyls" (so der Anspruch im demnächst auslaufenden so genannten Stockholmer Programm der EU von 2009) oder gar ein "gemeinsamer Schutzraum für Flüchtlinge" (ebd.) geschaffen worden. Bedauerlicherweise werden die bis jetzt beschlossenen Asylrichtlinien und die Verordnungen zur Asylzuständigkeit (Dublin III) die „europäische Schutzlotterie“ nicht beenden.

Deutschland spielt eine herausragende Rolle bei der Gestaltung der künftigen europäischen Flüchtlingspolitik. CDU/CSU und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag formuliert: „Menschenrechte sind unteilbar und universell gültig. Wir setzen uns für ihren Schutz und ihre Förderung ein, sowohl innerstaatlich als auch in den auswärtigen Beziehungen. Verstöße gegen die Menschenrechte verletzen nicht nur die Würde der jeweils Betroffenen, sondern sie können auch den Frieden und die internationale Sicherheit bedrohen. Unser Ziel ist eine menschenrechtlich konsequente und kohärente Politik. Die Basis bilden das Grundgesetz, die europäischen und internationalen Menschenrechtskonventionen sowie das humanitäre Völkerrecht.“ (S. 179)

Die aktuelle Praxis im Umgang mit Flüchtlingen vor Europas Grenzen, an Europas Grenzen und in Europa ist an diesem Anspruch zu messen. Der „Lackmustest“ für den gemeinsamen Willen der EU-Mitgliedsstaaten, Flüchtlinge zu schützen und für die Achtung der Menschen einzutreten, ist der Umgang mit syrischen Flüchtlingen. Der Deutsche Bundestag hat am 8. Mai 2014 die Tatenlosigkeit der EU kritisiert und eine europäische Flüchtlingsaufnahmekonferenz gefordert - der Bundestag hatte dazu aufgerufen, die Konferenz noch vor Sommerbeginn durchzuführen. Der aktuelle Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Minister Ralf Jäger, hat gefordert: „Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brauchen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmeprogramm, das den Menschen schnell und wirksam hilft.“ (tagesschau.de, 8. Juni 2014). 

Die volständige Stellungnahme finden Sie hier (pdf).