Dokumente zum Zeitgeschehen

»Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei«

Rede von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, 18.6.2021

Den 22. Juni 1941 erlebt Boris Popov als junger Panzergrenadier. Er ist 19. Seine Einheit liegt wenige Kilometer vor Minsk. Nach dem Frühstück am Morgen des 22. Juni, erzählt er, seien er und seine Kameraden in den Garten gegangen, um sich in die Sonne zu legen. Die ersten Schüsse und Explosionen hört Boris Popov dort, im Gras liegend. Es ist ein Sonntag.

Zwei seiner Kameraden kommen gleich in den ersten Gefechten ums Leben, sein Panzer wird zerstört. Der Regimentskommandeur befiehlt den Rückzug. Die Soldaten machen sich zu Fuß auf den Weg nach Minsk. Dass dort bereits die deutsche Wehrmacht auf sie wartet, wissen sie nicht. So gerät Boris Popov – zehn Kilometer vor Minsk, noch in den ersten Kriegstagen – in deutsche Gefangenschaft.

Das erste Lager, in das man ihn bringt, ist Drosdy, fünf Kilometer nördlich von Minsk – kein Lager eigentlich, eine Sammelstelle unter freiem Himmel. Bilder der deutschen Wochenschau aus diesen Tagen zeigen den Ort: eine unüberschaubar weite Fläche, mit Stacheldraht umzäunt, auf der abertausende sowjetische Soldaten und Offiziere im Staub hocken oder stehen, in sengender Hitze, junge und schon ältere Männer und irgendwo in dieser Menge ist auch Boris Popov. Zu den deutschen Wochenschaubildern hören wir den Sprecher sagen: ""Die Gesichter dieser Untermenschen sind von Raubgier und Mordlust gezeichnet."" Was man tatsächlich sieht auf diesen Bildern, sind die von Hunger und Durst versehrten Gesichter völlig entkräfteter Gefangener.

Allein in Drosdy werden Zehntausend dem sogenannten ""Kommissarbefehl"" zum Opfer fallen. Vermeintliche ""Politkommissare"" der Roten Armee, so die Anweisung der Wehrmacht, seien nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern ""an Ort und Stelle zu erledigen"".

Boris Antonowitsch Popov, Soldat und Veteran der Roten Armee, verstarb vor genau einem Jahr, am 20. Juni 2020, im Alter von 98 Jahren. Ich habe ihn nie kennengelernt, aber ich habe mir seine Geschichte erzählen lassen. Boris Popov selbst hat sie uns erzählt, in Vorträgen, in Reden und zuletzt, vor fünf Jahren, in einem Dokumentarfilm des Rundfunks Berlin-Brandenburg.

Man sieht Boris Popov in diesem Film auf einer Bank sitzen, in einem Park in Minsk, wo er seit 1950 lebte. Er sitzt dort nicht wie ein Mann in den Neunzigern. Alt, ja, aber ohne eine Spur von Müdigkeit. Lebhaft, geistesgegenwärtig – eine beeindruckende Erscheinung.

Er hatte Glück. Er überlebte den Krieg. Und wir hatten Glück, dass er uns seine Geschichte erzählen konnte.

Es ist die Geschichte nur eines einzigen Soldaten. Und der Krieg, von dem er erzählt, begann schon zwei Jahre zuvor mit dem deutschen Überfall auf Polen. Ich habe am ersten September 2019 in Wieluń, in Polen und in Warschau daran erinnert. Zwei Jahre, in denen der Zweite Weltkrieg weite Teile Europas schon mit Zerstörung, Besatzung und Gewaltherrschaft überzogen hatte.

Was nun folgte, was am 22. Juni 1941 begann, war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion.

Die diesen Krieg führten, töteten auf jede erdenkliche Weise, mit einer nie dagewesenen Brutalität und Grausamkeit. Die ihn zu verantworten hatten, die sich in ihrem nationalistischen Wahn gar noch auf deutsche Kultur und Zivilisation beriefen, auf Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, sie schändeten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei.

Die vollständige Rede finden Sie hier.