Arbeitspapier der Otto Brenner Stiftung, 4.3.2021
1989/90 hatten sich die DDR-Bürger*innen so gut wie aller Milieus in einem historischen Selbstermächtigungsprozess selbstbewusst und weitgehend friedlich demokratisiert. Durch den gewählten Vereinigungsprozess und die Übernahme des Ostens durch die Bundesrepublik wurde dieser Prozess gelähmt. Intellektuelle und akademische Selbstverständigung gerieten im Osten zu einem schwierigen Unterfangen, auch weil Ostdeutsche unzureichend in Massenmedien repräsentiert wurden. In bundesweiten massenmedialen Diskursen blieben Ostdeutsche ebenso zu lange Objekte von Berichterstattung wie sie in den Elite-Netzwerken der Bundesrepublik bis heute Außenseiter blieben. Nicht nur für Politik-, Sozial-, Geschichts- und Medienwissenschaftler*innen ergeben sich daraus viele Fragen, deren detaillierte Erforschung und öffentliche Diskussion zur Heilung historischer Narben beitragen könnten. Welche Zusammenhänge und Wechselwirkungen bestehen bspw. zwischen der massiven Provinzialisierung und Monopolisierung der ostdeutschen Presse- und Medienlandschaft, der jahrzehntelangen Minderrepräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Elitenetzwerken einerseits sowie der ausgeprägten Sympathie vieler Ostdeutscher für rechtspopulistischer Bewegungen andererseits? Was bewirken Unterrepräsentation generell und speziell von Minderheiten gesellschaftspsychologisch? Erfüllte der ausgeprägte Chauvinismus überregionaler westdeutscher Leitmedien in den Ost-West-Machtkonstellationen der Bundesrepublik nach 1989 Funktionen? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den Nachwende-Erfahrungen und dem Misstrauen vieler Ostdeutscher in demokratische Institutionen und welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Wie nun weiter? Heiko Hilker erklärt, Massenmedien können ihren Auftrag, Vielfalt in einer lebendigen Demokratie zu sichern, nur gerecht werden, wenn Tiefe und Qualität der Informationen und Hintergründe von Meinungsverschiedenheiten komplex aufgearbeitet würden. Je komplexer also eine Frage sei, so der Institutsleiter und ehemalige Medienpolitiker, umso notwendiger ist die vielfältige Aufarbeitung der vorhandenen Wertungen und Erfahrungen. Dies untermauern auch die mühsam erkämpften Rechtsmaßstäbe der Bundesrepublik. Und Medien in Ost wie West täten gut daran, sich auf diesen demokratischen Auftrag und ihre Aufgabe und Funktion in der repräsentativen Demokratie zu besinnen, so wie sie etwa in verschiedenen Bundesverfassungsgerichts-Urteilen festgeschrieben wurden. Im Spiegel-Urteil von 1966 ist bspw. formuliert: „In der repräsentativen Demokratie steht die Presse zugleich als ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie faßt die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen auch in Einzelfragen der Tagespolitik ständig am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können“ (Bundesverfassungsgericht 1966). Ausgrenzung, Benachteiligungen und
Diskriminierungen sind Gift für das demokratische Gemeinwesen. Das Gegenmittel dazu ist Partizipation.
Handlungsempfehlungen
Aus dem Skizzierten lassen sich einige Handlungsvorschläge ableiten.
1. Die Diskussion über Quoten für Ostdeutsche sollte gesamtgesellschaftlich als Gerechtigkeitsdiskussion ernst genommen werden. Führungskräfte und Personal-Abteilungen in Unternehmen, Organisationen, Wissenschaftseinrichtungen und Verwaltungen sollten diesbezüglich insbesondere in Ostdeutschland stärker sensibilisiert und aufgefordert werden, das demokratiefeindliche Phänomen der Unterrepräsentation Ostdeutscher stärker zu beachten.
2. ARD und ZDF sollten dafür sorgen, die Repräsentanz Ostdeutscher und ostdeutscher Perspektiven in Leitungsgremien und zentralen Nachrichtensendungen wie Tagesschau oder heute und investigativen Formaten zu sichern und die Chancen von Quotenlösungen zu diskutieren. Die Ergebnisse sollten in Berichten veröffentlicht werden.
3. Das Bundesforschungsministerium sollte einen Sonderfonds zur Erforschung der Situation von Journalismus und Massenmedien in Ostdeutschland bereitstellen, dessen Mittel bevorzugt an qualifizierte Ostdeutsche und Medienforschungseinrichtungen mit Sitz in Ostdeutschland ausgereicht werden. Unter anderem sollte die Rolle von Medienpolitik und Propaganda und der überregionalen Medien sowie der Zeitungs- und Zeitschriftenverbände im Wende- und Vereinigungsprozess stärker erforscht werden.
4. Westdeutsche Medienunternehmen sowie entsprechende Verleger- und Branchenverbände sollten ihre Archive für eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung des Wende- und Vereinigungsprozess zugängig machen.
5. Um den kritisch-kontrollierenden Journalismus in den Neuen Bundesländern zu stärken und zu fördern, sollten die Bundes- und die Landesregierungen Sonderförder- und Stipendienprogramme für journalistische Initiativen in und für Ostdeutschland auflegen. Durchführungsorganisationen können unabhängige Journalistenorganisationen und -verbände wie Netzwerk Recherche, Journalist*innen-Union oder die Freischreiber sein.
6. Journalisten-Schulen und Journalistik-Studiengänge sollten in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe reflektieren, weshalb sie so wenige ostdeutsche Absolvent*innen haben und Auswege aus dieser Situation finden.
7. Die ostdeutschen Landesregierungen sollten deutlich mehr Mittel für mehrjährig konzipierte Veranstaltungsreihen in mittleren und kleineren Städten und Landgemeinden Ostdeutschlands bereitstellen, um dort u. a. gesellschaftliche Gespräche über das Pro und Contra von Journalismus und Massenmedien zu fördern. Durchführen sollten diese Demokratie fördernden Projekte ostdeutsche Wissenschafts-, Kulturund Berufsorganisationen und -initiativen.
Das vollständige Arbeitspapier finden Sie hier.