Dokumente zum Zeitgeschehen

»Der Wohlstand in Deutschland ist seit 1991 nur schwach gewachsen«

Studie der Hans Böckler Stiftung, 3.7.2017

Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwischen 1991 und 2015 um knapp 32 Prozent gewachsen. Der gesamtwirtschaftliche Wohlstand in der Bundesrepublik hat hingegen im gleichen Zeitraum lediglich um knapp 6 Prozent zugenommen. Zwar hat sich der Wohlstand zuletzt erstmals seit langem wieder im Gleichklang mit dem BIP entwickelt. 2015, so die nun vorliegenden neuesten Daten, stieg er um 1,4 Prozent, 2014 sogar um 2,6 Prozent. Doch trotz dieser Beschleunigung befand sich das gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsniveau Ende 2015 nur auf dem gleichen Stand wie Mitte der 1990er Jahre. Das zeigt der „Nationale Wohlfahrtsindex 2017“ (NWI 2017), den ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Hans Diefenbacher (Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) Heidelberg) im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung aktualisiert hat. Hauptgrund für das relativ schwache Abschneiden bei der Wohlfahrtsentwicklung ist nach Analyse der Forscher der deutliche Anstieg der Einkommensungleichheit vor allem in den 2000er Jahren.

Für den Zeitraum seit 1991 identifizieren die Forscher drei abgeschlossene Phasen der Wohlfahrtsentwicklung. Möglich ist, dass die aktuellsten Jahre 2014 und 2015 den Beginn einer vierten Phase mit wieder beschleunigter Wohlstandssteigerung markieren: „Ob diese über einen längeren Zeitraum anhalten wird, lässt sich allerdings noch nicht beurteilen“, schreiben die Wissenschaftler.

- Zwischen 1991 und 1999 stiegen BIP und NWI im Gleichklang – um durchschnittlich etwa 1,5 Prozent im Jahr. Den moderat positiven Trend bei der Wohlfahrtssteigerung erklären die Wissenschaftler mit zwei Entwicklungen: Erstens stiegen die privaten Konsumausgaben spürbar, während die Einkommensungleichheit in etwa gleich blieb. Zweitens gingen die Kosten der Umweltverschmutzung deutlich zurück. Allerdings trug dazu neben technischem Fortschritt auch der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland bei. Die dadurch verursachte massive Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern führte zwar nicht zu Einbrüchen beim Konsum, sie dämpfte die Wohlfahrtsentwicklung aber vor allem zwischen 1991 und 1994.

- Von 1999 bis 2005 reduzierte sich das jährliche BIP-Wachstum spürbar auf durchschnittlich ein Prozent. Noch deutlich stärker schlug die Krise nach dem Platzen der Internet-Blase aber auf die im NWI gemessene Wohlfahrtsentwicklung durch. In Jahren hoher Arbeitslosigkeit und stagnierender Löhne wuchs die Einkommensungleichheit spürbar an, was die nur noch geringfügige Steigerung der Konsumausgaben überlagerte. Der Wert des Gini-Koeffizienten stieg von 0,25 auf 0,29 – eine in diesem kurzen Zeitraum auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich starke Zunahme der Ungleichheit. Die Umweltbelastung sank zwar weiter, doch viel zu schwach, um den Negativ-Trend zu stoppen. Unter dem Strich sank der NWI in diesem Zeitraum um durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr.

- In der dritten Phase, zwischen 2005 und 2013, beschleunigte sich das BIP-Wachstum trotz Finanz- und Wirtschaftskrise wieder auf jahresdurchschnittlich 1,4 Prozent. Die Wohlfahrtsentwicklung nach dem NWI stagnierte – genau gesagt, sank sie um 0,1 Prozent im Jahresmittel. Das liegt vor allem daran, dass der Konsum lediglich moderat wuchs, während das im NWI mitgemessene Volumen der Hausarbeit zurückging. Die Umweltparameter verbesserten sich geringfügig. Recht positiv fiel die Wohlfahrtsbilanz für 2009 aus. Im Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise brach zwar das BIP massiv ein, der Konsum ging jedoch nur minimal zurück. Damit schlägt sich der Erfolg der damaligen Antikrisenstrategie aus Konjunkturstimulierung, Kurzarbeit und Arbeitszeitverkürzung, die vor allem in mitbestimmten großen Industriebetrieben umgesetzt wurde, auch im NWI nieder.

- In den beiden aktuellsten für den NWI auswertbaren Jahren wuchsen BIP und Wohlstand erstmals seit anderthalb Jahrzehnten wieder annähernd gleich stark: 2014 legte der Wohlfahrtsindex um 2,6 Prozent zu und ließ das Wirtschaftswachstum (1,6 Prozent) damit sogar hinter sich. 2015 nahm der NWI um 1,4 Prozent zu, das BIP um 1,7 Prozent. Nach Analyse der Forscher beruhte die Annäherung vor allem auf einer soliden Zunahme beim Konsum im Gefolge spürbarer Reallohnzuwächse. Dazu kamen 2014 niedrigere Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, weil witterungsbedingt der Verbrauch von Heizenergie sank. Die Entwicklung der Einkommensungleichheit wirkte sich unterschiedlich aus: 2014 nahm sie leicht ab, 2015 stieg sie nach der vorläufigen Gini-Schätzung leicht wieder an.

Insgesamt zeige der alternative Wohlfahrtsindex ein deutlich differenzierteres Bild als das BIP, betonen Diefenbacher und seine Forscherkollegen: „Erst wurde es besser, dann wieder schlechter. Es folgte eine Zeit der Stagnation, und auch die deutliche Steigerung der letzten beiden Jahre führt bisher lediglich auf das Niveau von 1995 zurück.“

Die vollständige Studie finden Sie hier