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»Deutschland gehört zu den als fortschrittlich eingestuften Einwanderungsländern«

Jahresgutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, 28.4.15

Zehn Kernbotschaften

Das Jahresgutachten 2015 ist breit angelegt und holt weit aus: Es thematisiert unter dem Gesichtspunkt eines ‚Lernens von anderen‘ das gesamte Spektrum migrations- und integrationspolitischer Fragestellungen. Welche migrations- und integrationspolitischen Ziele verfolgt Deutschland und wie erfolgreich ist es dabei im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern?

Die international vergleichende Analyse kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis, das dem öffentlichen Diskurs widerspricht: Deutschland hat politisch-konzeptionell in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrations- und Teilhabeförderung nicht nur deutlich aufgeholt, sondern reiht sich mittlerweile ein in die Riege der als fortschrittlich eingestuften Einwanderungsländer. Dabei wurde Deutschland nicht mit migrations- und integrationspolitischen Nachzüglern verglichen, sondern mit Staaten, die als ‚Musterschüler‘ eingestuft werden, beispielsweise Kanada, Schweden oder den Niederlanden. Umso bemerkenswerter ist das Resultat.

Ist also Selbstzufriedenheit angesagt? Keineswegs, denn die Analysen dieses Jahresgutachtens haben auch deutlich die Defizite und Versäumnisse deutscher Politik dokumentiert. Die folgenden Kernbotschaften fokussieren die Bereiche, in denen die Politik in der Pflicht steht, dringend benötigte Reformen umzusetzen. Das Gutachten macht aber auch deutlich, dass es kein Lernpotenzial gibt in dem Sinne, als Best Practice ausgewiesene Maßnahmen in anderen Ländern zu identifizieren und sie einfach zu übertragen. Deutschland muss seinen eigenen Weg finden, der eingebettet ist in die konkreten Rahmenbedingungen und geleitet davon, die Zukunftsfähigkeit des Landes zu sichern (s. Kap. C).

Die zehn Kernbotschaften beziehen sich zunächst schwerpunktmäßig auf die Migrationspolitik (Kernbotschaften 1 bis 6), dann auf die Integrationspolitik (Kernbotschaften 7 bis 10).

1 Fortschrittliche Arbeitsmigrationspolitik adäquat vermarkten

Deutschland hat in den vergangenen Jahren, ohne groß darüber zu sprechen, ein fortschrittliches migrationspolitisches Instrumentarium (für Drittstaatsangehörige) entwickelt, das mit dem allgemein als vorbildlich eingestuften kanadischen Einwanderungsregime ohne Weiteres Schritt halten kann. Mit der Einführung von § 18c AufenthG, der deutlichen Verkürzung der Mindestaufenthaltszeiten für Blue-Card-Inhaber zur Erlangung eines Daueraufenthalts und zuletzt der weiteren Öffnung des Arbeitsmarktes für nichtakademische Fachkräfte hat es sich für ein liberales arbeitsmigrationspolitisches Hybridmodell entschieden. Damit ist Deutschland im Wettbewerb um ‚die Besten‘ zumindest rechtlich-institutionell sehr gut aufgestellt – das ist aber noch nicht überall in der Welt angekommen. Es genügt nicht, neue migrationspolitische Instrumente zu entwickeln und zu implementieren, man muss diese auch bekannt machen und die Botschaft in die Welt tragen, dass Deutschland ein modernes Einwanderungsland ist, dessen Türen den Talenten der Welt offen stehen. Bei der Vermarktung seiner fortschrittlichen und liberalen Regelungen kann – und muss – Deutschland also von den klassischen Einwanderungsländern durchaus noch etwas lernen.

Die Vermarktung wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen, denn alle Industriestaaten mit wachsender Wirtschaft und tendenziell schrumpfender Bevölkerung wollen qualifizierte Zuwanderer an sich binden. Der Wettbewerb um die Qualifizierten wird zunehmen und es wird auch nicht mehr genügen, sich auf den Wanderungsraum Europa zu verlassen. Angesichts der demografischen Entwicklung gerade in den süd-, mittel- und osteuropäischen EU-Staaten werden diese als Herkunftsgebiete der Zuwanderung von morgen ausfallen. Deutschland muss sich deshalb auch außerhalb der EU als Einwanderungsland positionieren. Zwar haben zahlreiche politische Akteure wie etwa das Bundeswirtschaftsministerium oder das Auswärtige Amt begonnen, das Thema der Fachkräftegewinnung durch Zuwanderung ressortspezifisch aufzugreifen; zudem entwickelt sich die Online-Plattform www.make-it-in-germany.com immer mehr zur zentralen virtuellen Anlaufstelle für Zuwanderungsinteressierte. Das allein genügt aber nicht. Deutschland benötigt ein zuwanderungspolitisches Gesamtkonzept (s. Kernbotschaft 2), das ebenso die Frage der Vermarktung beinhaltet wie eine längerfristige Strategie.

Die veränderte migrations- und integrationspolitische Rahmensetzung muss aber auch der Bevölkerung in Deutschland offensiv vermittelt werden. Diese Neuorientierung von Migration und Integration in Deutschland wird – abgesehen von Details – von allen im Parlament vertretenen Parteien und von den zivilgesellschaftlichen Kräften mit großer Mehrheit getragen. Der in Gang gesetzte Politikwechsel ist eine Antwort auf grundlegende demografische, arbeitsmarktbezogene, sozialpolitische sowie menschen- und völkerrechtliche Herausforderungen. Er muss offensiv als Fortschritt und als Notwendigkeit für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland, Europa und der Welt erläutert und immer wieder begründet werden. Während Politik manchmal durch Veränderung der rechtlichen Bestimmungen nur nachvollzieht, was in breiten Teilen der Bevölkerung längst akzeptiert und ‚angekommen‘ ist, verhält es sich bei den hier behandelten Themen Migration und Integration genau umgekehrt:

Die politischen und rechtlichen Grundlagen wurden stark verändert, nun müssen Teile der Bevölkerung für diesen Wandel im Nachhinein aktiv gewonnen werden. Wie die Ende des Jahres 2014 relativ plötzlich entstandene Pegida-Bewegung zeigt, muss die Debatte über die ökonomischen, kulturellen, politischen, sozialen und rechtlichen Veränderungen, über die Chancen und auch die Herausforderungen von Migration intensiver und evidenzbasierter geführt werden als bisher. In diesem Bereich hat die Politik eine Bringschuld.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.)

2 Zuwanderungspolitisches Gesamtkonzept ressortübergreifend entwickeln statt Politik ‚nach Lust und Laune‘

Trotz der deutlichen Fortschritte insbesondere im Bereich der Arbeitsmigration, die dazu geführt haben, dass Deutschland sich – auf der rechtlichen Ebene – hinter klassischen Einwanderungsländern nicht verstecken muss, fehlt der Migrationspolitik in Deutschland nach wie vor ein roter Faden. Es gilt, ein zuwanderungspolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln, Migrations- und Integrationspolitik ganzheitlich und ressortübergreifend zu konzipieren, die Arbeit an der Sache an die erste Stelle zu setzen und parteipolitische Opportunitäten hintanzustellen. Das Ziel muss eine von Beginn an abgestimmte Migrations- und Integrationspolitik sein, die bei den Botschaften im Ausland beginnt und im lokalen Umfeld des Wohnorts endet. Dazu müssen verschiedene institutionelle Akteure eingebunden werden: Neben den zuständigen Ministerien und den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften als Sozialpartner sind dies die Hochschulen und Forschungseinrichtungen, aber auch die Länder als Verantwortliche für das Schulsystem, Unternehmen und auch zivilgesellschaftliche Einrichtungen.

Möglich, kurzfristig umsetzbar und als erster Schritt auch sinnvoll wäre die Einrichtung eines Lenkungsausschusses, der sich mit dem Prozess und der Struktur eines solchen gesamthaften Migrationskonzepts befasst. Dabei müssen Arbeitsbereiche definiert (u. a. Arbeits- und Familienmigration, Flucht- und Asylzuwanderung, Zuwanderung und Verbleib ausländischer Studierender, Integration in den Arbeitsmarkt, Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen, Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen bei der Anwerbung und Integration etc.) und Maßnahmen zur Umsetzung entwickelt werden. Zudem sollten für einzelne Bereiche Experten-AGs eingerichtet werden, die sich mit spezifischen und komplexen Fragen beschäftigen, z. B. einer nachhaltigen Steuerung von Fachkräftepolitik.

Um ein Beispiel zu nennen: Aufgabe einer entsprechenden Experten-AG könnte sein, die Vor- und Nachteile der Rekrutierung von Fachkräften ohne akademischen Abschluss über die Definition von Mangelberufen zu erörtern, wie es derzeit in Deutschland in Teilen des Arbeitsmigrationsrechts geschieht. Zwar verringert die Zuwanderung in berufsspezifische Arbeitsmarktsegmente auf den ersten Blick einen festgestellten Fachkräftemangel ohne negative Lohn- und Beschäftigungseffekte für einheimische Arbeitskräfte.

Jedoch trifft gerade die Bestimmung berufsspezifischer Arbeitskräftebedarfe auf erhebliche praktische Probleme. Aufgrund fehlender geeigneter Daten und unzulänglicher (langfristiger) Prognosemöglich- keiten ist es nahezu unmöglich, einen langfristigen Mangel an Fachkräften in einem bestimmten Beruf verlässlich zu identifizieren. Ebenso unklar sind die konkreten Ursachen eines berufsspezifischen Fachkräftemangels. Sind es die Lohnrigiditäten, mangelnde Mobilität der einheimischen Arbeitskräfte oder nur zyklische Schwankungen der Produktion, die zu einem Fachkräftemangel führen? Und ist eine Zuwanderung bzw. der Versuch, Zuwanderung in bestimmte Arbeitsmarktsegmente zu steuern, strukturell sinnvoll?

Solche komplexen Fragen können nicht isoliert erörtert werden, sondern sind langfristige Zukunftsaufgaben, die einer Einbettung in eine gesellschafts- und zuwanderungspolitische Gesamtstrategie bedürfen. Ein Nationaler Aktionsplan Migration (NAM) könnte ein zentrales Element zur Formulierung einer solchen Strategie darstellen. Die im Herbst 2014 eingerichtete ressortübergreifende Staatssekretärs-Arbeitsgruppe zur internationalen Migration war ein wichtiger erster Schritt in die genannte Richtung. Sie könnte und sollte den Nukleus für den skizzierten Prozess darstellen.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1, A.2, A.3, A.4.)

3 Rettet die Blue Card: nachhaltige Migrationspolitik ist auch eine gesamteuropäische Aufgabe

Klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada und Australien haben bei der Anwerbung hoch qualifizierter Zuwanderer klare Markt- und Attraktivitätsvorteile, nicht nur in sprachlicher Hinsicht. Die in Europa bestehenden nationalstaatlich geprägten Steuerungssysteme – unabhängig davon, wie sie heißen und in welchen Details sie sich unterscheiden – reichen nicht aus, um hoch qualifizierte und abwanderungsbereite Personen z. B. aus Indien, Brasilien, China oder Vietnam zu motivieren, nach Deutschland, Österreich oder Schweden zu ziehen. Einer der großen Vorteile der US-amerikanischen Green Card ist, dass man damit Zugang zu einem Arbeitsmarkt hat, der vom Atlantischen bis zum Pazifischen Ozean und von Alaska bis Florida reicht.

Entsprechend wichtig war die Verabschiedung der Blue Card als gesamteuropäische Antwort auf die zuwanderungsrechtlichen Offerten von arbeitsmigrationspolitischen ‚Giganten‘ wie den USA, Kanada oder Australien. Umso bedauerlicher ist, dass die Blue Card zwar in Deutschland ein Erfolg, in Europa aber ein Flop ist. Mehr als neun von zehn in Europa vergebenen Blue Cards stammen aus Deutschland. Andere Staaten haben die Blue Card zwar pflichtgemäß umgesetzt, sie aber gegenüber ihren nationalstaatlichen Anwerbeinstrumenten hintangestellt oder in ihrer politischen Praxis vollständig ignoriert. Die mit der Verabschiedung der Blue Card verbundene Absicht, Europa als Einwanderungskontinent auch für Arbeitsmigranten zu stärken, wird damit konterkariert.

Um Europa insgesamt als Einwanderungskontinent auch für international umworbene hoch qualifizierte Fachkräfte zu stärken, wären die Mitgliedstaaten gut beraten, einen ‚Rettungsplan‘ für die Blue Card und damit eine gemeinsam getragene Strategie zu entwickeln, die den bestehenden europäischen arbeitsmigrationspolitischen Rahmen effektiv nutzt und dabei gleichzeitig die arbeitsmarktpolitischen Besonderheiten der einzelnen Länder berücksichtigt. Deutschland sollte sich weiterhin auf der europäischen Ebene für die Blue Card einsetzen und die anderen Mitgliedstaaten davon überzeugen, dass ein Wanderungsraum mit fast 30 unterschiedlichen Regelungen unübersichtlich und unattraktiv ist.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.1.)

4 Die Hochqualifizierten sind schon da: ausländische Hochschulabsolventen im Land halten

Die Zuwanderung ausländischer Studierender ist – vereinfacht gesagt – die ideale Arbeitsmigration: Aus Studierenden werden Graduierte, die nicht nur fachlich qualifiziert sind, sondern auch die ersten Integrationsschritte bereits hinter sich haben. Um die Nachwuchstalente der Welt an sich zu binden, muss ein Einwanderungsland frühzeitig ansetzen. In den vergangenen Jahren hat Deutschland seine rechtlich-institutionelle Qualität im Hochschulbereich wie auch beim Arbeitsmarktzugang von Studierenden und Graduierten erheblich verbessert. Der Vergleich der Bleiberegelungen in ausgewählten Staaten im Rahmen dieses Gutachtens hat deutlich gemacht, dass Deutschland in dieser Hinsicht mittlerweile eher zu den liberalen Ländern gehört. Und viele der Absolventen wollen auch bleiben.

Verlässliche Daten dazu, wie viele dieser Bleibewilligen dann tatsächlich den Übergang von der Universität in den deutschen Arbeitsmarkt schaffen, liegen allerdings bis heute noch nicht vor. Nur eines ist gewiss: Die vorgenommenen Gesetzesänderungen allein stellen nicht sicher, dass internationale Studierende nach dem Hochschulabschluss in einen Beruf einsteigen können, der ihrer Qualifikation entspricht. So berichten die Absolventen in Deutschland, aber auch in anderen Staaten von großen Herausforderungen beim Übergang in den Arbeitsmarkt wie Sprachbarrieren, fehlenden persönlichen und beruflichen Netzwerken sowie Vorbehalten vieler kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) gegen Bewerber ohne muttersprachliche Deutschkenntnisse. Eine intensivere Beratung und Betreuung internationaler Studierender, aber auch der potenziellen Arbeitgeber, kann diese Einstiegsbarrieren senken. Pilotprojekte in einzelnen Hochschulregionen liefern bereits erste Erkenntnisse zu wirksamer Berufseinstiegsunterstützung. Hochschulen, Unternehmen, Behörden, Arbeitsvermittlungsstellen und andere regionale Akteure sind aufgerufen, ein fachkräftefreundliches Übergangsmanagement für internationale Studierende zu entwickeln. Hier besteht aber noch erheblicher Forschungs-, Handlungs- und Klärungsbedarf: Wer soll diesen Prozess der Entwicklung eines fachkräftefreundlichen Übergangsmanagements in die Hand nehmen? Wer finanziert ihn, wer gibt den Auftrag dazu und wer beobachtet den Erfolg? Die Politik ist jedenfalls gefordert, in diesem Bereich aktiv zu werden.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.2.)

5 Flucht und Asyl: Dublin und free choice in Europa versöhnen

In kaum einem anderen Feld der Politikbereiche Migration und Integration besteht so offensichtlicher Reformbedarf wie bei Flucht und Asyl. Steigende Asylbewerberzahlen und täglich neue Bilder von Flüchtlingsschiffen, die unter dramatischen Umständen die sicheren Häfen Europas zu erreichen versuchen, verlangen politisches Handeln. Dabei steht vor allem ein zentrales Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) unter Druck: das Dublin-Prinzip als europäische Zuständigkeitsregelung, nach der prinzipiell der Staat der Ersteinreise für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Vor allem Italien steht im Verdacht, als indirekte Kompensation für ausschließlich aus nationalen Mitteln bestrittene Aufwendungen im Bereich der Seenotrettung und der Flüchtlingserstaufnahme die Dublin-Vorschriften bewusst zu unterlaufen und Flüchtlinge ohne Identitätsfeststellung Richtung Norden weiterwandern zu lassen. Diese unangemessene Politik eines ‚kalten Boykotts von Dublin‘ verweist auf ein strukturelles Problem im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem: Die gesamteuropäische Aufgabe des Grenzschutzes, der Seenotrettung, der Unterbringung und Versorgung und der Durchführung von Asylverfahren wird zu großen Teilen den Ländern an den Außengrenzen der EU aufgebürdet. Auf der anderen Seite birgt die ‚kalte‘ Unterminierung wie auch jede andere Relativierung des Dublin-Mechanismus die Gefahr, dass die Asyl- und Flüchtlingspolitik wieder in die Hände der Nationalstaaten gelegt und damit renationalisiert wird.

Kritiker des Dublin-Systems diskutieren als grundlegende Alternative eine unter dem Schlagwort free choice bekannt gewordene Reform, in der die grundsätzliche Zuständigkeit des Ersteinreisestaats aufgehoben und Flüchtlingen freigestellt wird, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen.

Der SVR schlägt einen Weg vor, wie sich das Dublin-Prinzip aufrechterhalten und mit der Idee von free choice sinnvoll kombinieren lässt. Er sieht vor, dass für die Erstaufnahme, die Durchführung der Asylverfahren (unter Berücksichtigung der Ausnahmen, die die Dublin-III-Verordnung auch jetzt schon vorsieht) und auch die Rückführung nicht anerkannter Asylbewerber weiterhin die Ersteinreisestaaten zuständig sind. Sichergestellt werden muss dabei allerdings, dass die Ersteinreisestaaten finanzielle und logistische Hilfe dabei erhalten, dass sie einen großen Teil der gesamteuropäischen Aufgabe des Grenzschutzes und der Seenotrettung sowie der Unterbringung und Verfahrensdurchführung übernehmen. Die Ersteinreisestaaten müssen sich aber im Gegenzug verpflichten, die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem festgelegten Standards bei der Unterbringung und den Asylverfahren strikt einzuhalten. Wenn das gelingt und die Erstaufnahmestaaten im Süden Europas eine ähnliche Anerkennungspraxis zeigen wie im restlichen Europa, dann kann ein weiterer Schritt getätigt werden, nämlich die Zuerkennung der freien Wohnortwahl nach Abschluss des Asylverfahrens. Dieser Schritt ist neu und im europäischen Asylsystem bislang nicht vorgesehen. Anerkannte Asylbewerber bekämen die Möglichkeit, den Ersteinreisestaat zu verlassen und das Land ihrer Wahl aufzusuchen. Anerkannte Flüchtlinge erhielten eine europaweite Mobilitätsoption und damit Rechte, die ihnen bislang nicht zustehen. Dieser Vorschlag kann aber nur dann realisiert werden, wenn Dublin als zentrale Zuständigkeitsregel stärker als bisher eingehalten wird und Standards der Unterbringung und der Anerkennungsverfahren erfüllt werden.

Der Vorteil einer solchen Reform für die Mitgliedstaaten liegt auf der Hand: Die als Erstaufnahmestaaten stark in der Verantwortung stehenden Staaten im Süden Europas erhalten nicht nur die vorgesehene finanzielle und logistische Hilfe, sondern auch die Gewissheit, dass ein Teil der in diesen Ländern anerkannten Flüchtlinge in andere Länder im Westen und Norden Europas weiterwandern und dort aufgenommen werden wird. Die Länder des Nordens werden zwar mehr anerkannte Flüchtlinge aufnehmen, aber weniger Asylbewerber, denn derzeit ‚exportiert‘ der Süden Europas einen Teil des flüchtlingspolitischen Problems in den Norden. Weniger Asylbewerbern im Verfahren würden mehr im Land lebende anerkannte Asylbewerber gegenüberstehen, denen auch unmittelbar der Zugang zum Arbeitsmarkt offensteht und damit die Möglichkeit, für sich selbst aufzukommen.

Diese vorgeschlagene Lösung mag weitreichend erscheinen. Die in den letzten Monaten immer offensichtlicher gewordenen Probleme der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik machen aber deutlich, dass Europa in diesem Bereich keine kleinteiligen Reparaturen benötigt, sondern eine Großreform, was Fluchtursachenbekämpfung ebenso einschließt wie die Etablierung von Mobilitätsprogrammen, um eine legale und zirkuläre Arbeitsmigration zu ermöglichen. Deutschland als politisches und ökonomisches Schwergewicht in Europa sollte hier eine Vorreiterrolle übernehmen und mit Weitblick auch an Visionen arbeiten, die nur mittel- oder langfristig zu realisieren sind.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.4.)

6 Familienmigrationspolitik: keine Lehren aus den USA

Der Familiennachzug stellt in vielen Einwanderungsländern die zentrale Form des Zuzugs dar; dennoch ist die öffentliche Aufmerksamkeit für diesen Zuzugskanal im Vergleich zur Arbeits-, Flucht- und Asylmigration deutlich geringer. Dabei ist der Familiennachzug aus drei Gründen sozialpolitisch höchst relevant: Zum einen besteht eine direkte Verbindung zwischen der Ausgestaltung der Familiennachzugspolitik und der Arbeitsmigrationspolitik und damit verbunden dem Wettbewerb um internationale Fachkräfte. Zum anderen erlaubt gerade Familiennachzugspolitik keine auf Qualifikationen basierende Zuwanderungssteuerung; die Sorge vor einem Zuzug von auf dem Arbeitsmarkt nur ‚eingeschränkt passfähigen‘ Personen und daraus resultierenden erhöhten Aufwendungen für Sozialtransfers ist entsprechend in der öffentlichen Diskussion stets virulent. Darüber hinaus hat der Familiennachzug für das Individuum eine besonders integrative und persönlichkeitsstabilisierende Funktion: Die soziale Unterstützung durch die Familie kann die gesellschaftli- che Teilhabe des Einzelnen stärken, das Wohlbefinden im Zielland steigern und damit zu einer stärkeren Identifikation mit dem Aufnahmeland beitragen.

Die Regelung der Familienmigration ist maßgeblich davon abhängig, welcher Familienbegriff zum Tragen kommt. Dabei zeigt sich in der Analyse ein interessanter Gegensatz: Die USA, die gegenüber europäischen Einwanderungsländern einen weiter gefassten Familienbegriff zugrunde legen und eine auf den ersten Blick großzügigere Regelung verfolgen, schotten sich über eine quotenbasierte Regelung mit sehr langen Wartezeiten für Zuwanderer ab. Dem gegenüber steht das EU-Europa, das mit einem engeren Familienbegriff operiert, dem Familiennachzug aber einen hohen rechtlichen und moralischen Stellenwert einräumt. Eine quotenbasierte Familienzusammenführung wird nicht angestrebt und wäre mit der Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG) auch nicht kompatibel. Darüber hinaus zeigt die Analyse einen bemerkenswerten Trend: Auch Schweden, das in vielen migrations- und integrationspolitischen Feldern als besonders liberal gilt, hat 2010 die Pflicht zum Nachweis eines Mindesteinkommens und ausreichenden Wohnraums eingeführt.

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und einer zunehmenden Fachkräftenachfrage könnten und sollten den nachziehenden Familienmitgliedern verstärkt Arbeitsmarktperspektiven eröffnet werden. Es muss sichergestellt werden, dass auch Familienangehörige vom ausgebauten Angebot einer Sprachlerninfrastruktur profitieren können und dass eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie besonders Frauen die Aufnahme einer Erwerbsarbeit ermöglicht. Ein kritisches Monitoring in diesem Bereich ist notwendig. Ebenso ist sicherzustellen, dass die Pflicht für nachziehende Drittstaatsangehörige, vor dem Zuzug einfache Deutschkenntnisse nachzuweisen, eine ‚Integrationshilfe‘ bleibt und keine ‚Migrationsbremse‘ wird. Die in Deutschland in diesem Zusammenhang neu etablierte Härtefallregelung, die unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit schafft, auch ohne den Nachweis von Deutschkenntnissen zu einem Ehepartner nachzuziehen, ist daher zu begrüßen. Sie sollte allerdings auf echte Härtefälle beschränkt bleiben.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. A.3.)

7 Bildungspolitik: Unterschichtung stoppen – Aufstieg ermöglichen

Zu lange hat Deutschland betont, es sei kein Einwanderungsland. Migrationspolitische Paradigmen wie ‚Rückkehrförderung‘ und ‚Zuwanderung auf Zeit‘ verdrängten integrationspolitisch notwendige Schritte, die andere Einwanderungsländer sehr viel früher in Angriff genommen haben. Diese Realitätsverweigerung in der Vergangenheit macht es heute nötig, die Versäumnisse aufzuholen. Lange Zeit wurden in Deutschland eher niedrig qualifizierte Zuwanderer vor allem für einfache und nicht selten von der einheimischen Gesellschaft verschmähte Arbeiten angeworben, und das Schulsystem in Deutschland hat (anders als etwa in England, Schweden oder den Niederlanden) den Kindern der Zuwanderer den Bildungsaufstieg nicht im erforderlichen Maß ermöglicht. So hat sich eine neue Unterschicht aus Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gebildet, räumlich manifestiert und sozial verfestigt. Ihre prekären Sozialmilieus werden intergenerativ weitergegeben und nur selten durchbrochen.

Das Bildungssystem stellt unzweifelhaft eine integrationspolitische Kerninstitution dar, welche die Voraussetzungen für einen sozialen Aufstieg schaffen muss, wenn es gilt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. In diesem Bereich sind daher dringend weitere Anstrengungen erforderlich: Der Kindergarten muss als Bildungseinrichtung verstanden werden und Deutschkenntnisse müssen frühzeitig gefördert werden, damit Kinder – unabhängig von Staatsbürgerschaft und Migrationshintergrund – beim Eintritt in die Grundschule keine Startnachteile mehr haben. Eine durchgängige und die Bildungsbiografie kontinuierlich begleitende Sprachbildung in Deutsch muss an deutschen Schulen Standard werden, um bildungssprachliche Kompetenzen, die für den Bildungserfolg vor allem im weiterführenden Bereich unverzichtbar sind, sukzessive aufzubauen.

Hinsichtlich des schulischen Umgangs mit sprachlicher, sozialer und kultureller Vielfalt – vor allem im Bereich der Klassenführung und der Kooperation mit anderen Lehrern und den Eltern – bedarf es einer umfassenden interkulturellen Qualifizierung von angehenden und im Dienst stehenden Lehrkräften. Schul- und Unterrichtsentwicklung müssen interkulturell geplant und umgesetzt werden. Zudem müssen die Deutschkenntnisse von Kindern und Jugendlichen, die als Seiteneinsteiger ins deutsche Schulsystem kommen, gezielt gefördert werden. Zu erwägen wäre in diesem Zusammenhang auch die Vergabe von Sondermitteln nach einem Sozialindex an Schulen, die in sozial benachteiligten Stadtteilen vor besonderen Integrationsherausforderungen stehen.

Dies könnte dazu beitragen, die Qualität und Attraktivität dieser Schulen so zu steigern, dass der ethnische und soziale Mix der Bevölkerung vor Ort sich als förderlich für die schulischen Integrationsprozesse erweist. Entsprechende Programme sollten implementiert, aber auch regelmäßig evaluiert werden.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.1.)

8 Staatsbürgerschaft: moderne Einwanderungsgesellschaften benötigen moderne Konzepte

Die vermeintlich simplen Staatsbürgerschaftskonzepte des 19. Jahrhunderts sind in einer globalisierten Welt längst überholt; daher versuchen Staaten, der Tatsache gestiegener und weiter steigender räumlicher Mobilität staatsangehörigkeitspolitisch mit dem richtigen Mischungsverhältnis von ius sanguinis und ius soli zu begegnen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Geburtsorte und spätere Wohnorte immer häufiger voneinander abweichen und Sesshaftigkeit weniger als in der Vergangenheit als gesellschaftliche Norm zu betrachten ist, schlägt der SVR ein neues Staatsbürgerschaftskonzept vor, das sehr viel stärker als das aktuelle Recht auf die reale Lebenssituation der Zuwanderer und deren tatsächliche Verbindung zur Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft Bezug nimmt.

Konkret empfiehlt der SVR ein staatsangehörigkeitspolitisches Reformpaket, das aus mehreren Einzelelementen besteht. Vergleichsweise einfach umzusetzen wären dabei (1) die Einführung einer ‚Turbo-Einbürgerung‘ mit einer reduzierten Mindestaufenthaltsdauer für besonders gut integrierte Zuwanderer sowie (2) eine als Beitrag zu einer Willkommenskultur angelegte kommunikative Einbürgerungsoffensive, die aktiv für Einbürgerung wirbt und einbürgerungsberechtigte Personen gezielt anspricht und zur Einbürgerung einlädt. Komplexer ist (3) ein Modell, das der SVR bereits 2014 detailliert als adäquate staatsangehörigkeitsrechtliche Antwort von Einwanderungsländern auf steigende Migration und Mobilität propagiert hat und das – wie dieses Gutachten zeigt – zumindest ge- genüber den eigenen Staatsbürgern auch in einwanderungspolitisch als progressiv geltenden Ländern praktiziert wird.

Dieses Modell wäre imstande, die im gegenwärtigen Recht bestehende ‚Doppelpass-Asymmetrie‘ aufzulösen, die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kindern ausländischer Eltern in der Regel die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht, diese aber bei der Einbürgerung nicht zulässt. Dazu wäre auch keine generelle und unkonditionierte Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft erforderlich; diese Option hatte der SVR aus rechtlichen und demokratietheoretischen Gründen verworfen. Konkret schlägt der SVR stattdessen vor, dass der Staat Mehrstaatigkeit auch bei Einbürgerung zulässt, gleichzeitig aber versucht, in Verhandlungen mit wichtigen Herkunftsstaaten von Zuwanderern zu erreichen, dass eine zeitlich unlimitierte Weitergabe der Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes über das ius sanguinis durch einen Generationenschnitt unterbunden wird. Einen solchen Generationenschnitt gegenüber im Ausland lebenden eigenen Staatsbürgern praktiziert nicht nur Deutschland, sondern ihn kennen auch Länder wie Kanada oder Schweden.

Entsprechend konsequent wäre es nun, dass ein Einwanderungsland wie Deutschland in Verhandlungen mit wichtigen Herkunftsländern von Zuwanderern für diesen Mechanismus wirbt, der gegenüber den eigenen im Ausland lebenden Staatsbürgern bereits zum Tragen kommt, und damit den Bereich der Staatsbürgerschaftspolitik für das Zeitalter der Migration neu ausrichtet.

Obwohl der Bereich der Staatsbürgerschaftspolitik einzig und allein in den Händen der Nationalstaaten liegt und die EU in diesem Bereich über keinerlei Regelungskompetenzen verfügt, haben die entsprechenden nationalen Politiken auch eine europäische Dimension. Denn mit dem Pass eines Mitgliedstaats der EU werden gleichzeitig die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte erworben. Vor diesem Hintergrund sind nicht nur die kürzlich aus Malta und Portugal bekannt gewordenen ‚citizenship for sale‘-Politiken kritisch zu sehen, sondern auch die zwischen einzelnen EU-Staaten extrem divergierenden Einbürgerungsvoraussetzungen. An dieser Stelle wäre ‚mehr Europa‘ im Sinne eines europäisch abgestimmten Bandbreitenmodells sinnvoll, das den Nationalstaaten hinsichtlich der Anforderungen für die Einbürgerung einen Korridor vorgibt.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.4.)

9 Terminologie: sensible Begriffe entwickeln, bewährte statistische Kriterien beibehalten

Mit der im Mikrozensus 2005 erstmals verwendeten Kategorie ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ wurde für Deutschland eine differenzierte Betrachtung der Teilhabe- und Zugehörigkeitschancen von Zuwanderern möglich. Die Ambivalenz dieser neuen Kategorie zeigt sich an der Kritik, die von vielen Zuwanderern und auch von der Wissenschaft formuliert wird. Der Begriff des Migrationshintergrunds hat jenseits seiner statistischen Bedeutung und Notwendigkeit in der Öffentlichkeit eine negative Karriere gemacht und ist tendenziell zu einer ‚Containerkategorie‘ für ‚problematische und unterstützungsbedürftige Personengruppen‘ mutiert. Gleichwohl gibt es keine Alternative dazu, mögliche systematische Diskriminierung bestimmter Zu- und Einwanderungsgruppen statistisch dadurch festzustellen, dass der Migrationsstatus der Personen und ihrer Elterngeneration systematisch erhoben wird. Denn nur wenn Vielfalt und unterschiedliche Teilhabe- und Zugehörigkeitschancen expliziert und gemessen werden, können auch entsprechende Maßnahmen entwickelt werden, um Diversität zu managen und Unterschiede in Teilhabe- und Zugehörigkeitschancen zu reduzieren.

Die in Deutschland etablierte Kategorie ‚Person mit Migrationshintergrund‘ hat bezeichnungspolitisch international weder echte Vorbilder noch Nachahmer. Während sich in vielen anderen migrations- und integrationspolitischen Bereichen Konvergenztendenzen feststellen lassen und vormals als stabil erachtete länderspezifische Unterschiede in den politischen Ansätzen sich auflösen, zeigen sich im internationalen Vergleich fundamentale Unterschiede in den migrationsrelevanten (staatlichen) Bezeichnungspolitiken. Die Extrempositionen dabei markieren die weitgehende Nichtthematisierung migrationsrelevanter gesellschaftlicher Unterscheidungen im öffentlichen Diskurs (französisch-republikanische Tradition) und als Gegenmodell eine Politik der immer stärker ausdifferenzierten Erfassung migrationsrelevanter Merkmale und sozialer Gruppen (angelsächsisch-liberale Tradition). Beide Extreme stellen aus Sicht des SVR für das Einwanderungsland Deutschland keine Alternative dar; entsprechend sollte der Migrationshintergrund als statistische Hilfskategorie beibehalten werden. Ungeachtet dieses Plädoyers für ein Festhalten an dieser statistischen Kategorie sieht es der SVR als unabdingbar an, dass Begriffe und Narrative für die Einwanderungsgesellschaft entwickelt werden, die inklusiv und nicht exklusiv sind. Eine Basis für ein solches Narrativ ist aus Sicht des SVR die Aufarbeitung der migrations- und integrationsbezogenen Bezeichnungspolitiken der Vergangenheit. Dies betrifft vor allem die sog. Gastarbeiterpolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gerade um Nationalismen, Partikularismen und populistischen Strömungen der Ausgrenzung von Minderheiten vorzubeugen, ist dies ein wichtiges Gebot, um eine zukunftsfähige und für Einwanderer attraktive Gesellschaft zu entwickeln.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.5, B.6.)

10 Langer Atem und Geduld: Integrationsprozesse sind Generationsprozesse

Auch wenn vermeintliche Phrasen wie ‚Fördern und Fordern‘ und ‚Integration ist keine Einbahnstraße‘ auch aufgrund ihrer Dauerpräsenz in Politik, Medien und Öffentlichkeit zuweilen abgenutzt erscheinen, weisen sie auf eine zentrale integrationspolitische Botschaft hin: Integrationspolitik ist keine für einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung reservierte Sonder- oder Klientelpolitik. Vielmehr gilt es, beide Seiten der Einwanderungsgesellschaft anzusprechen und zu aktivieren. Wer Platz nehmen soll, dem muss auch Platz gemacht werden.

Der in Deutschland gewählte Weg des Förderns, aber auch Forderns entspricht einer im internationalen Vergleich sichtbaren Tendenz. Es geht dabei um nicht mehr, aber auch nicht weniger, als den Einzelnen zu wirtschaftlicher Autonomie und Unabhängigkeit von staatlicher Alimentierung (kurz: zur Selbstbestimmung) zu befähigen. Zur Erreichung dieser ‚liberalen Ziele‘ setzen nun auch liberale Staaten auf vordergründig ‚illiberale‘ Mittel wie etwa die Verpflichtung zur Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen und die Androhung des Entzugs staatlicher Transfers bei Nichtkooperation. Deutlich ist, dass der Staat hierbei stets innerhalb der ihm eingeräumten liberalen Koordinaten bleiben muss, d. h. im Zentrum steht nicht kulturelle Assimilation, sondern die Möglichkeit des Einzelnen, gleichberechtigtes Mitglied in einem freiheitlichen Gemeinwesen zu sein.
Die beschriebene Kombination von Fördern und Fordern bildet derzeit den gemeinsamen Nenner der Integrationspolitik europäischer Einwanderungsländer und markiert den Übergang von einer Zeit integrationspolitischer Illusionen und technischer Masterpläne zu einem prozessorientierten Politpragmatismus. Solche Integrationsprozesse benötigen jedoch Zeit und sind oft Generationenprojekte, Erfolge sind nicht sofort messbar. Wer meint, dass Zugewanderte in wenigen Monaten oder Jahren ‚Deutsche‘ werden – was auch immer man darunter verstehen mag –, der hat aus der Geschichte der Migration und Integration nichts gelernt.

Jede Einwanderungsgesellschaft ist durch wachsende Heterogenität gekennzeichnet. Sie muss sich von der Illusion befreien, dass Zuwanderer nur Gäste sind, und sie muss (auch terminologisch) akzeptieren, dass der Migrationsstatus nach einigen Generationen verloren geht. Aus Zugewanderten werden Deutsche, aber nicht verstanden im Sinne einer völkischen Abstammung, sondern verstanden als Menschen, die mit allen Rechten und Pflichten in Deutschland leben und sich zu diesem Land bekennen. Sie werden hinsichtlich ihrer ethnischen Herkunft heterogen sein und möglicherweise unterschiedliche Hautfarben haben, aber sie werden alle Teil dieser pluralistischen Gesellschaft sein. Gesellschaftliche Pluralität hat es immer gegeben, sie differenziert sich in einer modernen Gesellschaft nur weiter aus und destabilisiert diese in keiner Weise, solange ein festgefügtes Fundament all- gemein verbindlicher Werte und ein Bekenntnis zur Ge- sellschaft, zu Einigkeit und Recht und Freiheit vorhanden sind. Um dieses immer wieder zu ringen, kann im Idealfall zu einem wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenhalts werden.
(Für weitere Informationen und Handlungsempfehlungen s. Kap. B.2, B.3, B.6.)
 

Das vollständige Gutachten finden Sie hier.