Dokumente zum Zeitgeschehen

»Die Asylpolitik ist auf Abwehr von Menschen ausgerichtet«

Positionspapier zur Migrationspolitik der Nichtregierungsorganisation PRO ASYL, des Interkulturellen Rats und des DGB anlässlich der Bundestagswahl 2013, 14.6.2013

Menschenrechte für Migranten und Flüchtlinge

Positionen und Forderungen von PRO ASYL, Interkulturellem Rat in Deutschland und Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) zur Bundestagswahl 2013

Einleitung:

Die Europäische Union ist in einer schweren politischen, sozialen und ökonomischen Krise. Die Kluft zwischen Privilegierten und Marginalisierten wird größer: weltweit, innerhalb der Europäischen Union und in den einzelnen Mitgliedstaaten. Statt die eigentlichen Ursachen der Krise zu benennen, werden diejenigen als Verursacher diskreditiert und stigmatisiert, die in besonderem Maße von ihr betroffen sind – die Bevölkerung der sogenannten Krisenstaaten Süd- und Osteuropas sowie Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten und andere gesellschaftliche Minderheiten. Zunehmend überlagert oder verhindert die Art und Weise, wie die Krise gedeutet und bearbeitet wird, dringend erforderliche Debatten über eine verfehlte Migrations-, Integrations- und Asylpolitik in Deutschland und Europa. Solche Fehlentwicklungen sind:

Die Freizügigkeitsrechte als eine der zentralen Errungenschaften der Europäischen Union und die sozialen Rechte von Unionsbürgern aus einzelnen Mitgliedstaaten werden als Wegbereiter einer ungewollten »Armutsmigration« diskreditiert und zur Disposition gestellt.

– Die Asylpolitik ist auf Abwehr von Menschen ausgerichtet, die in Deutschland und der Europäischen Union Schutz vor Verfolgung, Krieg oder massiver gesellschaftlicher Ausgrenzung in ihren Herkunftsländern suchen.

– Der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes wird unter einen Leistungsvorbehalt gestellt, ohne dass ungleiche Teilhabechancen, strukturelle und alltägliche Diskriminierungspraktiken oder bis in die Mitte der Gesellschaft reichende rassistische Einstellungen als Ursachen für die soziale Situation von Minderheiten benannt und angegangen werden.

– Die Analyse der Dimension rassistischer Gewalt und ihrer Wechselwirkungen mit rassistischen Einstellungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung unterbleibt. Die Auseinandersetzung mit den Gründen und Konsequenten des Versagens der Ermittlungs-und Sicherheitsbehörden im Hinblick auf den selbsternannten »Nationalsozialistischen Untergrund« mündet nicht in die erforderlichen Reformen und Maßnahmen.

Die Tonlage, in der insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der Regierungsparteien in den letzten Monaten die Debatte um die Ausgestaltung der Freizügigkeit auf EU-Ebene führen und das Asylrecht populistisch zu einer »Armutsmigrationsdebatte« umdeuten, fördert Rassismus und Ressentiments vor allem gegen Roma.

Diesem Populismus setzen PRO ASYL, Interkultureller Rat und der Deutsche Gewerkschaftsbund in den nachfolgenden 20 Kapiteln ihre Positionen und Forderungen zur Bundestagswahl 2013 entgegen. Wir fordern eine grundlegende Neuausrichtung der Migrations-, Integrations- und Asylpolitik, die

– sich von der überkommenen Abwehrpolitik gegenüber eingewanderten und künftig einwandernden Menschen abwendet und Migrations-, Integrations- und Asylpolitik nicht länger als Gefahrenabwehrpolitik begreift;

– humanitäre Aspekte, soziale und rechtliche Lebensbedingungen in Deutschland, den Schutz vor Verfolgung und den Abbau von Rassismus und Diskriminierung in den Mittelpunkt stellt und

– die Einwanderung und die gesellschaftliche Vielfalt als Chance und Bereicherung wahrnimmt, die auf der Grundlage des Grundgesetzes zu gestalten ist.

Im Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf fordern wir die politischen Parteien und ihre Repräsentanten dazu auf, jeden Versuch zu unterlassen, auf dem Rücken von gesellschaftlichen Minderheiten Wähler- stimmen zu mobilisieren.

Von der Bundesregierung und dem Bundestag erwarten wir, dass sie sich für ein Deutschland und Europa der Menschlichkeit statt der Märkte einsetzen und die gesellschaftliche Ausgrenzung von Migrantinnen und Migranten ebenso beenden wie die Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen.

1. Rassistische Einstellungen überwinden

Rassistische Einstellungen sind in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet. Seit über einem Jahr- zehnt ermitteln repräsentative Befragungen die Einstellungen und Haltungen der deutschen Bevölkerung gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten. Die Befunde sind dramatisch: Die ablehnenden Haltungen gegenüber Nicht-Deutschen, Muslimen, Flüchtlingen, Juden, Roma, Schwarzen Menschen, Obdachlosen und Empfängern staatlicher Transferleistungen wie Hartz IV sind nicht nur am Rand, sondern besonders in der Mitte der Gesellschaft auf dem Vormarsch.

Eine repräsentative Befragung (»Die Mitte im Umbruch«) im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt im Jahr 2012 u.a. zu dem Ergebnis, dass etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung den Aussagen »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen« und »Die Bundesrepublik Deutschland ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« mindestens teilweise zustimmen. Dass »Juden (...) etwas Besonderes und Eigentümliches an sich [haben] und eigentlich (...) nicht so recht zu uns passen«, halten knapp 40 Prozent der Bevölkerung für eine mindestens zum Teil berechtigte Position. Und bis zu 80 Prozent der Bevölkerung stehen Meinungsäußerungen wie »Der Islam ist eine archaische Religion, unfähig, sich an die Gegenwart anzupassen« oder »Muslime und ihre Religion sind so verschieden von uns, dass es blauäugig wäre, einen gleichen gesellschaftlichen Zugang zu allen Positionen zu fordern« grundsätzlich offen gegenüber.

Insbesondere im Schutz der Anonymität des Internets werden solche Vorurteile, Stereotype und Ressentiments gegen Muslime und andere gesellschaftliche Minderheiten ungefiltert und unkontrolliert verbreitet. Über einschlägige Blogs und Foren wird häufig zu Hass und Gewalt angestachelt, dazu aufgerufen, prominente Angehörige von Minderheiten und ihre Unterstützer unter Druck zu setzen und die Kommentarseiten von Onlinemedien zu beeinflussen. Die Betreiber und Kommentatoren in solchen Blogs und Foren machen es sich dabei zu Nutze, dass wenige Aktive dazu ausreichen, die veröffentlichte Meinung in Onlinemedien nachhaltig zu bestimmen. Vorurteile, Stereotype und Ressentiments entfalten Wirkung: Sie werden von gewaltbereiten Rassisten als Legitimation für ihre Verbrechen instrumentalisiert, von rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen als Mobilisierungsthemen benutzt und finden ihren Niederschlag auch im Alltag. Diskriminierungen finden sich bei der Arbeits- und Wohnungssuche, im Bildungssystem, bei Behörden oder auf der Straße. 

An verschiedenen Orten in Deutschland stößt die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden auf Widerstand in der Bevölkerung, Anwohnende wehren sich in Bürgerinitiativen gegen den Bau von Moscheen oder Synagogen in ihrem Wohnumfeld, Sinti und Roma, arabische oder türkeistämmige Familien und Schwarze werden als Nachbarn abgelehnt und bei der Wohnungsvergabe benachteiligt.

Die Bearbeitung von rassistischen Vorurteilsstrukturen ist deshalb ein wesentlicher Baustein zur Überwindung der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Minderheiten. Sie ist zugleich ein Gebot, das sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ableitet, die in Artikel 1 die Begegnung der Menschen »im Geist der Brüderlichkeit« proklamiert.

Zivilgesellschaftliche Einrichtungen und kommunale Initiativen haben in den letzten Jahrzehnten unter anderem durch Information, Dialog und Begegnung, durch Fortbildungsangebote und Sensibilisierungsmaßnahmen viel dazu beigetragen, rassistische Stereotype zu hinterfragen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Das präventive Engagement in der vorschulischen Erziehung, der schulischen Bildung, der beruflichen Ausbildung sowie in Betrieben und Behörden wird von staatlichen Stellen bislang nicht ausreichend unter- stützt und oftmals sogar erschwert oder diskreditiert. Ein Beispiel hierfür ist die vom Bundesfamilienministerium eingeführte »Extremismusklausel«, mit der Initiativen gegen Rassismus und Rechtsextremismus unter einen Generalverdacht gestellt werden. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen und Einrichtungen, die sich für die Bearbeitung von rassistischen Einstellungen einsetzen, haben trotz hoher Expertise keine gesicherte Finanzierung oder werden nur unregelmäßig und unzuverlässig über kurzfristige Modellprojekte gefördert.

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4. Europa darf sich nicht einmauern

Weltweit befinden sich nach Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen mehr als 43 Millionen Menschen auf der Flucht oder leben in einer »flüchtlingsähnlichen« Situation. In die Europäische Union gelangen die wenigsten von ihnen. Im Jahr 2012 stellten knapp 300.000 Menschen einen Antrag auf Asyl in einem EU-Mitgliedstaat. Länder wie die Türkei, Pakistan, Iran oder Saudi- Arabien nehmen jeweils erheblich mehr Flüchtlinge auf  als alle Mitgliedstaaten der EU zusammen. Von den mehr als 1 Million Syrern, die angesichts der andauern- den Gewalt im Land bisher geflüchtet sind, haben im Jahr 2012 nur 6.200 Menschen in Deutschland Asyl beantragt – weniger, als an manchen Tagen über die syrischen Grenzen in den Libanon, den Irak, die Türkei, nach Jordanien oder Ägypten fliehen und dort Aufnahme finden.

Die Menschenrechte gelten überall, auch an den Außen- grenzen der Europäischen Union. Die Realität sieht anders aus. Tausende sterben an den Grenzen der Europäischen Union. Auf ihrer Suche nach Schutz und einer Lebensperspektive drängen sie sich in winzigen Booten zusammen, verstecken sie sich in Lastwagen, kampieren sie in provisorischen Lagern oder vor hochgerüsteten Grenzanlagen. Deutschland und die anderen EU- Staaten reagieren an den Außengrenzen mit massiver Aufrüstung und Abschreckung. Demütigungen, Misshandlungen und illegale Zurückweisungen an den Grenzen sind vielfach dokumentiert.  

Nach den Pressemeldungen, die im Internetblog »Fortress Europe« dokumentiert sind, kam es an den Europäischen Grenzen seit 1988 zu über 18.000 Toten und Vermissten – Dunkelziffer unbekannt. Auch jenseits ihrer Außengrenzen wirkt die Europäische Union auf Drittstaaten wie beispielsweise die Türkei ein, Menschen auf ihrem Weg in die EU abzufangen und von  der Einreise abzuhalten. Unter dem Begriff der »Externen Dimension« werden auf EU-Ebene Konzepte entwickelt, die den Verbleib von Flüchtlingen und Migranten in ihren Herkunftsregionen zum Ziel haben. Dabei spielt die Einbindung von Transitstaaten eine zentrale Rolle – unter anderem durch den Abschluss von Rück- übernahmeabkommen. Die Türkei ist gegenwärtig für Schutzsuchende vor allem aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran, Somalia und Eritrea das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa. In Aufnahmelagern an der Grenze oder in Satellitenstädten weit ab von der türkischen Gesellschaft warten diese Menschen ohne Schutz und Hilfe oft jahrelang darauf, in ein Aufnahmeland in der Europäischen Union einreisen zu können. Statt den Flüchtlingen in gemeinsamen, internationalen Anstrengungen z.B. über das UNHCR-Resettlement-Programm ein Leben in Sicherheit und Würde zu ermöglichen, drängt die EU auf die Inkraftsetzung eines Rückübernahmeabkommens mit der Türkei, das seit Februar 2011 unterschriftsreif ist. Es sieht vor, dass auch Schutz  - suchende aus Drittstaaten, die über die Türkei in die EU eingereist sind, in die Türkei zurückgeschoben werden können.   

Die Verantwortung der Staaten der Europäischen Uni- on, die Menschenrechte zu beachten, endet nicht an ihrer Außengrenze. Dies hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) am 23. Februar 2012 noch einmal beispielhaft klargestellt. Er hat entschieden, dass die Zurückweisung von Flüchtlingen auf Hoher See nach Libyen durch die italienische Küsten- wache mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zu vereinbaren ist. Das Urteil hat Konsequenzen für die EU-Mitgliedstaaten, die Institutionen und für FRONTEX.  

Nicht nur durch FRONTEX, sondern auch mit weiteren Elementen der »Integrierten Grenzverwaltung« verfolgt die EU das Ziel der sogenannten »Migrationssteuerung«. Dabei spielen Großdatenbanken und Überwachung eine entscheidende Rolle. Schon heute wird kein Visum für die EU ohne Abfrage des Schengener Informationssystem (SIS) erteilt, das Fahndungsdaten und Einreiseverbote enthält. Dies soll durch ein Entry-Exit-System ergänzt werden, das Ort und Datum der Einreise sowie Dauer des Aufenthalts erfasst. So sollen Overstayer – Personen, die sich über die erlaubte Aufenthaltsdauer hinaus ohne Aufenthaltstitel oder Duldung in einem EU-Mitgliedstaat aufhalten – identifiziert und abgeschreckt werden. Die Kommission will die Grenzen mit dem Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR künftig noch stärker überwachen. Mit Satelliten und unbemannten Flugzeugen sollen Migrationsbewegungen frühzeitig entdeckt und kontrolliert werden.

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17. Kommunales Wahlrecht für alle 

Menschen, die von politischen Entscheidungen in den Parlamenten betroffen sind, müssen die Chance haben, über deren Zusammensetzung gleichberechtigt mitzuentscheiden. Das fordert das im Grundgesetz verankerte Demokratieprinzip. Gegenwärtig sind in Deutschland etwa 7 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hierzu nicht berechtigt. Um dieses Demokratiedefizit zu beseitigen, reicht eine großzügigere Staatsangehörigkeitspolitik alleine nicht aus. Vielmehr ist es erforderlich, das Wahlrecht perspektivisch von der Staatsangehörigkeit zu trennen und allen Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland leben, gleiche politische Partizipationschancen zuzuerkennen. In einem ersten Schritt muss das aktive und passive Wahlrecht auf der kommunalen Ebene über deutsche Staatsbürger und Staatsangehörige aus   einem EU-Mitgliedstaat hinaus auf Drittstaater ausgeweitet werden.

Denn gesellschaftliche Integration setzt zwingend voraus, an der Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes   gleichberechtigt mitwirken zu können. Auf kommunaler Ebene sind der Selbstverwaltungsgedanke und das Prinzip der basisnahen Regelung eigener Angelegenheiten von besonders großer Bedeutung: Wird ein zusätzlicher Kindergarten eingerichtet? Wird meine Straße, in   der ich mit meinen kleinen Kindern lebe, endlich zu einer verkehrsberuhigten Spielstraße? Wird der Verein, in dem ich mich engagiere, von der Kommune finanziell unterstützt? Solche Entscheidungen kommunaler Parlamente haben unmittelbare Auswirkungen auf die Situation jedes einzelnen Einwohners und jeder einzelnen Einwohnerin – unabhängig von der Staatsangehörigkeit.     

Deshalb ist das Recht, an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene gleichberechtigt mitwirken zu können, für das Gelingen von Integrationsprozessen und für die allgemeine Akzeptanz politischer Entscheidungen von besonderer Bedeutung. Es ist sowohl aus integrationspolitischen Erwägungen als auch im Interesse der Demokratie und der Gleichbehandlung nicht hinnehmbar, dass Drittstaatsangehörige von der politischen Willensbildung durch Wahlen auf kommunaler Ebene ausgeschlossen sind. Vielerorts handelt es sich dabei um mehr als ein Drittel der erwachsenen Einwohnerschaft. 

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Das vollständige Positionspapier finden Sie hier (pdf).