Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur völkerrechtlichen Einordnung des israelischen Angriffs auf den Iran, 3.7.2025
Bei der rechtlichen Bewertung von Sachverhalten gibt es aufgrund von Interpretationsspielräumen oftmals keine eindeutigen und von allen Rechtsunterworfenen gleichermaßen als richtig akzeptierten Antworten. Dies gilt auch für das hier in Rede stehende völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht, dessen konzeptionelle Ausweitungen in Richtung „präventive“ bzw. „präemptive“ Verteidigung seit dem Präzedenzfall eines israelischen Angriffs auf einen irakischen Atomreaktor im Jahre 1981, spätestens jedoch seit der sog. Bush-Doktrin und dem amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003, zum Kristallisationspunkt zwischen rechtlich tragfähigen Begründungen und (bloßer) interessengeleiteter Machtpolitik einzelner Staaten geworden ist.
7.1. Staatenpraxis
Während der VN-Sicherheitsrat die Bombardierung eines irakischen Atomreaktors durch Israel im Jahre 1981 noch explizit als Verstoß gegen die VN-Charta verurteilte (Resolution 487) und einer Ausweitung des traditionellen Verständnisses präventiver Selbstverteidigung entgegenwirken konnte, blieben die Reaktionen der Staatengemeinschaft auf die israelische Militäroperation Rising Lion in Juni 2025 im Iran, insbesondere die der EU-Mitgliedstaaten gespalten; die meisten Staaten – darunter bis heute Deutschland – enthielten sich einer rechtlichen Bewertung. Die Erklärung der G7-Staaten bekannte sich pauschal zum Selbstverteidigungsrecht Israels, ohne auf den konkreten Fall der Bedrohung durch das iranische Atomprogramm einzugehen. Die politisch gewollte Indifferenz der Staatengemeinschaft angesichts einer brisanten Fallkonstellation, die das präventive Selbstverteidigungsrecht in Richtung „Risikovorbeugung“ ausweitet, ist in der Literatur auf starke Kritik gestoßen.
7.2. Präventive Selbstverteidigungslage
Deutlich einhelliger als die Staatenwelt erscheint die Reaktion der völkerrechtlichen community auf die israelische Militäroperation – die ganz überwiegende Zahl der Völkerrechtler hält die Kriterien für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage nach Art. 51 VN-Charta für nicht er- füllt. Die Schwierigkeit einer völkerrechtlichen Bewertung dieser Militäroperation besteht darin, auf der Grundlage nicht vollumfänglich verifizierbarer Fakten (etwa über den Stand des iranischen Atomprogramms) eine Bedrohungslage zu vermessen, ihre Bestandteile (Grad der Urananreicherung, Drohungen gegen Israel etc.) zu bewerten und unter das Kriterium der „Unmittelbarkeit“ (imminency) – der Dreh- und Angelpunkt für die Selbstverteidigungslage nach Art. 51 VN-Charta – zu subsumieren. Israel hätte darlegen (und beweisen) müssen, dass der Iran ad 1) unmittelbar davorstand, Atomwaffen zu bauen (capability) – die Herstellung von ausreichend spaltbarem Material im Rahmen des iranischen Atomprogramm ist dabei nur ein notwendiger Zwischenschritt; dass die iranische Führung ad 2) fest dazu entschlossen war (intent), diese Waffen gegen Israel einzusetzen und dass die Militäroperation Rising Lion ad 3) die „letzte Gelegenheit“ gewesen ist, um einen Einsatz des Iran mit Atomwaffen zu vereiteln (last window of opportunity). Zwar hatte die IAEA dem Iran, der spaltbares Material mit einem Reinheitsgrad von 60 Prozent in hohem Maße angereichert hatte, einen Verstoß gegen die Bestimmungen des JCPOA und des Atomwaffensperrvertrages attestiert und angesichts der vorliegenden Zahlen auch bezweifelt, dass der Iran Uran nur zu friedlichen Zwecken herstelle. Doch ist Urananreicherung nicht gleichzusetzen mit dem Bau einer Atombombe, der technisch noch vielfältige und zeitintensive Zwischenschritte voraussetzt. Auch sind die an die Adresse Israels gerichteten Drohungen weder ein Beweis dafür, dass der Iran den Bau einer Atombombe unwiderruflich beschlossen hat, noch dafür, dass die iranische Führung zum Einsatz einer solchen Bombe, sollte sie denn einmal hergestellt sein, gegen den (mutmaßlich) nuklear bewaffneten und zweitschlagfähigen Staat Israel fest entschlossen ist. Nichts anderes zeigt auch die Debatte über die „nukleare Fatwa“. Die von Iranexperten beobachtete Diskursverschiebung innerhalb der nuklearen Debatte im Iran, gepaart mit einem beginnen- den Wandel der iranischen Nukleardoktrin, sind besorgniserregende Anzeichen, doch zeugen sie derweil nur von einem (noch) ergebnisoffenen Prozess. Bezweifelt werden kann zudem, ob im Vorfeld der israelischen Gewaltanwendung alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft wurden. Nun ist es eine juristische Binsenweisheit, dass sich die rechtliche Bewertung eines Sachverhalts ändern kann, wenn neue relevante Fakten auftauchen. Auch im Fall „Rising Lion“ scheint es nicht ausgeschlossen, dass Geheimdienste bereits heute über entsprechende Informationen verfügen, die nicht der Öffentlichkeit kommuniziert wurden, oder dass morgen neue Berichte zum iranischen Atomprogramm bekannt werden. Gleichwohl steht Israel jetzt in der Pflicht, sein militärisches Handeln gegen den Iran rechtlich zu begründen und wird von der Völkerrechts- lehre – und den Staaten – daran gemessen, was die israelische Regierung zur Rechtfertigung substantiiert vorträgt. Die drei rechtlich relevanten Kriterien – capability, intent und last window of opportunity – erscheinen dabei aus heutiger Sicht und nach dem nahezu einhelligen Urteil der Völkerrechtslehre nicht hinreichend begründet. Art. 51 VN-Charta erweist sich auf Grundlage der derzeit bekannten Faktenlage damit als eine völkerrechtlich nicht tragfähige Grundlage. Bezeichnenderweise hat sich Israel in seinem Schreiben an den VN-Sicherheitsrat vom 17. Juni 2025 auf das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta nicht explizit berufen,
7.3. Andauernder bewaffneter Konflikt
Rechtliche Fragezeichen wirft die Feststellung Israels auf, dass sich das Land in einem andauernden fortgesetzten bewaffneten Konflikt (ongoing conflict) mit dem Iran und dessen „Proxys“ (Huthi-Rebellen im Jemen und Hisbollah-Milizen im Libanon) befindet und die Militäroperation Rising Lion quasi nur eine Fortsetzung eben dieses Konfliktes darstellt. Das „ongoing conflict-Argument“ hat in der öffentlichen politischen Debatte in Deutschland kaum eine Rolle gespielt. Der Grund für die öffentliche Zurückhaltung liegt zum einen in der der komplexen völkerrechtsdogmatischen Problematik, wie sich das ius ad bellum und das ius in bello in bewaffneten Konflikten zueinander verhalten. Selbst die Völkerrechtslehre ist hier in der Tat weniger eindeutig wie in Bezug auf die Frage des präventiven Selbstverteidigungsrechts; einzelne israelische Völkerrechtler vertreten die Ansicht, die Militäroperation Rising Lion sei gar nicht am Maßstab des Art. 51 VN-Charta zu messen, sondern unterläge allein den Anforderungen des ius in bello (humanitäres Völkerrecht). Auf die Frage, ob aus Sicht Israels eine akute Bedrohungslage („präventive Selbstverteidigungslage“) vorgelegen hat, käme es nach dieser Auffassung gar nicht mehr an. Ein möglicher zweiter Grund, warum das „ongoing conflict-Argument“ in der öffentlichen Debatte kaum thematisiert wurde, könnte die Befürchtung sein, mit diesem Argument eine komplexe historische, politische, juristische und letztlich auch ethische Debatte darüber „loszutreten“, wer in dem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen Israel und dem Iran „Schuldiger“ und wer „Opfer“ ist – m. a. W., wer den Konflikt – auch aus völkerrechtlicher Perspektive – als Aggressor „angefangen“ hat. Solche Fragen lassen sich kaum beantworten; entsprechende De- batten kaum „gewinnen“. Aus völkerrechtlicher Sicht lässt sich das Argument, es liege derzeit ein andauernder bewaffneter Konflikt zwischen dem Iran und Israel vor, nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Die Kampfhandlungen, bei denen beide Staaten noch im Frühjahr 2024 unmittelbar militärisch aufeinandertrafen, wurden zwar nach kurzer Zeit faktisch eingestellt; ob diese Feuerpause jedoch die vom IKRK entwickelten – wenn auch nicht bindenden – völkerrechtlichen Kriterien über die Beendigung von internationalen bewaffneten Konflikten erfüllt, darf bezweifelt werden. Ob sich dagegen ein dem Iran zurechenbarer bewaffneter Konflikt zwischen Israel und den iranischen „Proxys“ konstruieren lässt, der zum Zeitpunkt der Operation Rising Lion noch angedauert hat, ist weit weniger klar. Die dafür erforderlichen Zurechnungskriterien (overall control) erfordern zunächst eine eingehende Auseinandersetzung mit dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungsgeflecht zwischen dem Iran und seinen „Proxys“. Geht man vom Vorliegen eines andauernden bewaffneten Konfliktes (ongoing conflict) zwischen dem Iran und Israel aus, so ist die Frage zu klären, nach welchen Kriterien sich eine Militäroperation als ein isoliert und in sich abgeschlossenes Segment im Rahmen eines solchen Konflikts betrachten lässt, die es rechtfertigen, die Militäroperation erneut am Maßstab des ius ad bellum nach Art. 51 VN-Charta (Selbstverteidigungslage, Verhältnismäßigkeit) zu überprüfen. Nach Auffassung der Wissenschaftlichen Dienste und der wohl herrschenden Auffassung in der Völker- rechtslehre dürfte dies dann der Fall sein, wenn ein bewaffneter Konflikt eine grundlegende Änderung erfährt (z. B. durch ein erneutes Aufflammen der Kampfhandlungen nach langer Feuerpause oder möglicherweise auch aufgrund einer neuen Phase der Eskalation). Eine solche Entwicklung lässt sich im israelisch-iranischen Verhältnis (Kampfhandlungen im Frühjahr und Herbst 2024 und dann wieder im Juni 2025) beobachten. Diese Lage rechtfertigt es, die Militäroperation Rising Lion – auch wenn sie nur die Fortsetzung eines ongoing conflict darstellen sollte – einer erneuten ius ad bellum-Prüfung zu unterwerfen. Dabei fordern große Teil der Völkerrechtslehre eine vollumfängliche Prüfung einschließlich der Voraussetzungen des Art. 51 VN-Charta (Selbstverteidigungslage). Eine solche Selbstverteidigungslage besteht aber – wie bereits dargelegt – nach nahezu einhelliger Auffassung in der Völkerrechtslehre – nicht.
7.4. US-Militäroperation Midnight Hammer
Die US-Militäroperation Midnight Hammer gegen iranische Atomanlagen lässt sich – entgegen dem amerikanischen Rechtfertigungsnarrativ – nicht auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung nach Art. 51 VN-Charta stützen. Dazu müsste die israelische Militäroperation Rising Lion, zu deren Unterstützung die US-Militärschläge gegen den Iran erfolgt sind, aber selbst völker- rechtskonform und vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt gewesen sein. Daran bestehen jedoch – wie bereits ausgeführt – erhebliche Zweifel.
7.5. Zur Debatte über völkerrechtliche Legalität und sicherheitspolitische Legitimität
Das sicherheitspolitische Interesse vieler Staaten, nukleare Proliferation zu verhindern und die bestehenden Regeln des Atomwaffensperrvertrages (notfalls auch gewaltsam) durchzusetzen, um eine existentielle Bedrohungslage einzudämmen, findet keinen zufriedenstellenden Rückhalt in der geltenden Völkerrechtsordnung. Dieses erweist sich – freilich nicht als Ausdruck von Schwäche, sondern als Ausdruck einer normativ verfestigten Werteentscheidung – als „gewaltavers“, denn es legalisiert die Anwendung militärischer Gewalt nur in sehr begrenzten Fällen. Gute Gründe sprechen dafür, die bestehenden völkerrechtlichen Normen (wie z. B. das Selbstverteidigungsrecht), die einen Verstoß gegen das Gewaltverbot rechtfertigen, nicht über Gebühr zu strapazieren und zu überdehnen und das Gewaltverbot dadurch auszuhöhlen. Die regelbasierte Ordnung wird auch dadurch verletzt, dass das Selbstverteidigungsrecht – wie der Angriff der USA gegen den Irak 2003 gezeigt hat – zur Durchsetzung sicherheitspolitischer Interessen „instrumentalisiert“ und dabei eine Selbstverteidigungslage durch Vorspiegelung einer akuten Bedrohungslage „konstruiert“ wird. Es besteht insoweit auch kein „Zielkonflikt“ zwischen der Pflicht zur Einhaltung des Völkerrechts und der Durchsetzung legitimer sicherheitspolitischer Interessen. Die Völkerrechtsordnung wird in ihrem normativen Geltungsanspruch in Frage gestellt, wenn Rechtsregeln moralisch „nachjustiert“ und die juristische Argumentation durch Aspekte der „Moral“ oder der „Legitimität“ aufgeladen bzw. überlagert werden. Genau dies erleichtert es Aggressoren, Völkerrechtsbrüche oder Angriffskriege jenseits des Rechts zu legitimieren.
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