Studie der OECD zur globalen Entwicklung der Lebensqualität seit 1820, 2.10.2014 (deutsche Zusammenfassung)
Wie war das Leben damals?
Lebensqualität weltweit seit 1820
Zusammenfassung in Deutsch
Wie war das Leben im Jahr 1820 und wie hat es sich bis heute verändert? Unsere Sicht auf die sozioökonomische Entwicklung seit der industriellen Revolution basiert zu einem Großteil auf Erkenntnissen aus überlieferten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in der Tradition von Simon Kuznets und Angus Maddison. Die Entwicklungen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf spiegeln jedoch nicht vollständig die verschiedenen Formen von Lebensqualität wider, als da sind Lebenserwartung, Bildung, persönliche Sicherheit oder Chancengleichheit. Heutzutage werden Maßnahmen zur derzeitigen menschlichen Entwicklung immer stärker in Zusammenhang mit Lebensqualität formuliert anstatt ausschließlich mit wirtschaftlichen Begriffen. Doch können wir dies auch für das Leben unserer Vorfahren sagen?
Wirtschaftshistoriker und andere Sozialwissenschaftler sammeln seit einigen Jahren Daten, die die immateriellen Formen von Lebensqualität umfassen. Bis heute sind diese jedoch nicht systematisch über Raum und Zeit verglichen worden. So mag es vielleicht im 19. Jahrhundert Informationen zur Lebenserwartung in einigen europäischen Ländern gegeben haben, aber es ist bis jetzt nicht möglich gewesen, diese mit Zahlen für Afrika zu vergleichen. Folglich beruhen die meisten Studien, die weltweit langfristige Entwicklungen erfassen, stark auf den Schätzungen des BIP pro Kopf. Der vorliegende Bericht will diese Lücke schließen. Zum ersten Mal werden Erkenntnisse zu langfristigen Entwicklungen der weltweiten Lebensqualität seit 1820, die Schätzwerte für eine umfassende Stichprobe an Ländern liefern, veröffentlicht. Die Entwicklungen wurden für 25 Länder, acht Weltregionen und die Weltwirtschaft als Ganzes erfasst. Dies erfolgte mittels Erfassung, Anpassung und Dokumentation neuester Schätzungen, die mithilfe des Clio‑Infra‑Projekts entwickelt wurden. Dieser Bericht enthält die Daten und diskutiert die Datenquellen sowie deren Einschränkungen, bietet einen Überblick über die Entwicklungen und zeigt Wege für weitere Forschung auf.
Der Bericht untersucht zehn individuelle Formen von Lebensqualität und verfolgt sie über Raum und Zeit, um sie dann in einem neuen Gesamtindikator zusammenzufassen. Die hier behandelten Formen spiegeln ein breites Spektrum materieller und immaterieller Aspekte von Lebensqualität wider: BIP pro Kopf, Reallöhne, Bildungsabschlüsse, Lebenserwartung, Körpergröße, persönliche Sicherheit, politische Institutionen, Umweltbedingungen, geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede und Chancengleichheit. Sicherlich unterscheidet sich die Datenqualität je nach Indikatoren, Zeit und Land. Der vorliegende Bericht präsentiert die verschiedenen überlieferten Datenbestände für jede spezielle Form von
Lebensqualität, wägt deren Einschränkungen ab und zeigt auf, wo weitere Fortschritte erzielt werden können.
Diese neuen Daten haben die Möglichkeit eröffnet, weltweite Entwicklungen zu Lebensqualität in den vergangenen zwei Jahrhunderten grafisch zu erfassen. Sie können verwendet werden, um die wesentlichen Entwicklungspfade einzelner Länder zu untersuchen oder um Leistungsunterschiede bei einer bestimmten Form von Lebensqualität zu analysieren. Aufgrund ihrer umfassenden und weitreichenden Abdeckung von Raum und Zeit ermöglichen die Daten in diesem Bericht, weitergehende Fragen zu stellen. Ergibt sich nun aufgrund dieser neuen Möglichkeit, die menschliche Entwicklung zu betrachten, ein grundlegend anderes Bild als jenes, das auf BIP‑Schätzungen basiert? War die Ungleichheit auf der Welt mehr oder weniger stark, wenn wir sie aus der Perspektive der Lebensqualität anstatt des BIP betrachten? Dieser Bericht enthält einige mögliche Antworten, indem systematisch die Wechselbeziehungen zwischen BIP pro Kopf und jeder der anderen Formen von Lebensqualität erforscht werden. Es erübrigt sich sicherlich zu erwähnen, dass statistische Korrelationen sich über mögliche Kausalitäten ausschweigen. Sie liefern jedoch einen ersten notwendigen Schritt für ein besseres Verständnis komplexer Beziehungen zwischen den verschiedenen Facetten von Lebensqualität und deren bestimmenden Faktoren.
Wesentliche Erkenntnisse
Das Buch liefert Erkenntnisse zu historischen Entwicklungen in zehn verschiedenen Formen von Lebensqualität. Bei einigen dieser Formen ist die statistische Korrelation mit der Entwicklung des BIP pro Kopf sehr stark. Bildung (gemessen an Lese‑ und Rechtschreibfertigkeiten sowie den Bildungsabschlüssen) und Gesundheitszustand (gemessen an Lebenserwartung und Körpergröße) verbesserten sich in vielen Ländern dieser Erde erheblich und weisen eine starke Querschnitts‑ und Zeitkorrelation mit dem BIP pro Kopf auf. Um 1820 konnten weniger als 20 Prozent der Weltbevölkerung lesen und schreiben. Diese Gruppe war sehr stark auf Westeuropa konzentriert. Die Lese‑ und Rechtschreibfähigkeiten sowie die Erteilung von Schulunterricht stiegen nach 1945 in vielen Regionen dieser Welt drastisch an und umfassten im Jahr 2000 etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung. Die Lebenserwartung bei der Geburt betrug 1830 in Westeuropa circa 33 Jahre, 1880 bereits 40 Jahre und verdoppelte sich fast in dem Zeitraum danach. Die größten Verbesserungen gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Rest der Welt stieg die Lebenserwartung von einem sehr viel niedrigeren Niveau und wuchs insbesondere nach 1945. Weltweit erhöhte sich die Lebenserwartung von unter 30 Jahren im Jahr 1880 auf fast 70 im Jahr 2000. Es gibt eindeutige Belege, dass sich in den letzten 200 Jahren die Beziehung zwischen Gesundheitszustand und BIP pro Kopf verändert hat. Die Lebenserwartung verbesserte sich aufgrund der Wissensfortschritte und der Verbreitung von Technologien im Bereich der Gesundheitsversorgung weltweit, selbst wenn das BIP pro Kopf stagnierte.
Die statistische Korrelation mit dem BIP pro Kopf war bei anderen Formen der Lebensqualität viel schwächer. Politische Institutionen (gemessen an der Wahlbeteiligung und dem Wettbewerb) haben sich weltweit im vergangenen Jahrhundert stark verbessert. Aber deren Entwicklung verlief alles andere als gleichmäßig, da es in einigen Ländern mitunter drastische Veränderungen bei den politischen Rechten gab. Auch länderübergreifende Unterschiede bei der persönlichen Sicherheit (gemessen an der Anzahl der Tötungsdelikte und der Gefährdung durch Konflikte) korrelieren nicht besonders gut mit dem BIP pro Kopf. Westeuropa war schon ab dem 19. Jahrhundert recht friedvoll, allerdings waren die Tötungsdelikte in den USA während des gesamten Betrachtungszeitraums relativ hoch. Große Teile Lateinamerikas und Afrikas sind ebenfalls „Hotspots“ für Gewalttaten. Dasselbe gilt für die ehemalige Sowjetunion (insbesondere seit dem Untergang des Kommunismus), wohingegen große Teile Asiens niedrige Raten bei Tötungsdelikten aufweisen.
Eine negative Korrelation mit dem BIP pro Kopf ist eindeutig zu erkennen, wenn man sich die Umweltbedingungen ansieht. Biodiversität ging weltweit in allen Regionen zurück, als sich die Landnutzung dramatisch veränderte. Die Pro‑Kopf‑Emissionen an CO2 stiegen nach der industriellen Revolution in Westeuropa und dessen Ablegern. Als in der Mitte des 20. Jahrhunderts in anderen Regionen das BIP stieg, beschleunigte sich deren Anstieg – ein Trend, der weltweit noch immer anhält. Die Pro‑Kopf‑Emissionen an SO2 (einem lokalen Luftschadstoff) stiegen ebenfalls mit zunehmender Industrieproduktion, wurden aber seit den 1970er‑Jahren dank des Aufkommens saubererer Technologien eingedämmt.
Langfristige Entwicklungen bei Einkommensunterschieden, die anhand der Verteilung des Haushaltseinkommens vor Steuern unter Einzelpersonen gemessen werden, folgten in den meisten westeuropäischen Ländern und westlichen Ablegern einer U‑Kurve. Die Entwicklung ging gegen Ende des
19. Jahrhunderts bis etwa 1970 zurück, um dann wieder anzusteigen. In Osteuropa führte der Kommunismus zu einem starken Rückgang bei den Einkommensunterschieden, dem ein starker Anstieg nach dessen Zerfall in den 1980er‑Jahren folgte. In anderen Teilen der Welt (insbesondere in China) steigen seit Kurzem die Einkommenunterschiede an. Die globale Einkommensverteilung unter allen Bewohnern dieser Welt verlief im 19. Jahrhundert als eingipfelige Kurve, wurde jedoch zwischen 1910 und 1970 zweigipfelig und kehrte zwischen 1980 und 2000 plötzlich wieder zu einer eingipfeligen Verteilungskurve zurück.
Die geschlechtsspezifische Chancengleichheit, die anhand des Gesundheitszustands, des sozioökonomischen Status sowie politischer Rechte gemessen wird, steigt seit 60 Jahren in den meisten Regionen der Welt kontinuierlich an. Lediglich in Ostasien und Osteuropa kam es seit den 1980er‑Jahren bei der Chancengleichheit zu einem Stillstand. Unterschiede bei der Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern blieben jedoch Regionen übergreifend deutlich: Europa (einschließlich Osteuropa) und die westlichen Ableger schnitten am besten ab (obwohl kein Land eine vollständige Chancengleichheit zwischen Mann und Frau erzielte). Der Nahe Osten und Nordafrika (in erster Linie aufgrund schwacher politischer Rechte) sowie Süd‑ und Südostasien (aufgrund des verzerrten Geschlechterverhältnisses bei der Geburt) schnitten am schlechtesten ab.
Der Gesamtindikator der Lebensqualität, der in diesem Bericht vorgestellt wird, zeigt auf, dass sich Fortschritte bei der Lebensqualität seit dem frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet haben, wobei hier Afrika südlich der Sahara ausgenommen werden dürfte. Die in diesem Bericht dargelegten Erkenntnisse geben Grund zur Annahme, dass seit den 1970er‑Jahren die Ungleichheit unter den Ländern bei der gesamten Lebensqualität niedriger als das BIP pro Kopf ist, während sie in dem Zeitraum davor weitaus stärker ausgeprägt war.
Dieses Buch sammelt, fasst zusammen und diskutiert kritisch unser aktuelles Wissen zu langfristigen Trends bei der weltweiten Lebensqualität während der letzten beiden Jahrhunderte. Obschon dies einen besseren Einblick als die alleinige Sicht auf das BIP pro Kopf liefert, bleiben Schwachstellen in unserem Wissen bestehen, insbesondere was die Entwicklung in Afrika vor 1950 und in den größeren asiatischen Ländern im 19. Jahrhundert angeht. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch weitergehende Forschung auf diesen Gebieten fördern wird.
Die vollständigen Studie finden Sie hier.