Dokumente zum Zeitgeschehen

»Die Rückendeckung für die Menschenrechte durch den Westen ist selektiv und von Eigeninteressen geprägt«

Jahresbericht von Amnesty International, 28.3.2023

Im Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein und brachte militärische Zerstörung über ein friedliches Land und seine Bevölkerung. Innerhalb weniger Monate wurden zivile Infrastruktureinrichtungen zerstört, Tausende Menschen getötet und viele weitere verletzt. Russlands Vorgehen beschleunigte die weltweite Energiekrise und trug zur Schwächung der Systeme zur Lebensmittelproduktion und -verteilung bei. Dies führte zu einer weltweiten Nahrungsmittelkrise, unter der ärmere Länder und rassistisch diskriminierte Menschen nach wie vor besonders stark zu leiden haben.

Der Einmarsch war kaum eine Woche her, da kündigte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eine Untersuchung der in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen an. Am 2. März stimmte eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten in der UN-Generalversammlung dafür, den Einmarsch Russlands als Akt der Aggression zu verurteilen. Währenddessen öffneten europäische Länder, die die Aufnahme von Flüchtlingen lange verweigert hatten, ihre Grenzen für schutzsuchende Ukrainer*innen.

Während des gesamten Jahres 2022 wurden internationale Forderungen nach Gerechtigkeit und nach Unterstützung für die Untersuchung von Kriegsverbrechen laut. Dem war es möglicherweise zu verdanken, dass die UN-Mitgliedstaaten in der Generalversammlung eine Resolution verabschiedeten, um dem Gebrauch des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat entgegenzuwirken. Das Vetorecht gilt als eine der Hauptursachen für die systemische Schwäche der UN. 

Könnte Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine also auch als Weckruf im weiteren Sinne dienen, wie es diese UN-Resolution deutlich macht? Könnte er dazu führen, dass die Welt hinter den Menschenrechten und universellen Werten zusammensteht?

Noch mehr, noch tödlichere Konflikte

Der verheerende Krieg in Äthiopien ging auch 2022 weiter. Er forderte Schätzungen zufolge Hunderttausende Menschenleben und ist damit einer der tödlichsten Konflikte der neueren Zeit. Doch dieses Blutbad spielte sich größtenteils außerhalb unseres Blickfelds ab, als Teil einer weitgehend unsichtbaren Kampagne ethnischer Säuberungen gegen die Bevölkerung in West-Tigray. 

Für Palästinenser*innen im Westjordanland war 2022 das tödlichste Jahr des letzten Jahrzehnts: Mindestens 151 Menschen, darunter Dutzende Kinder, wurden von israelischen Streitkräften getötet, meist im Zusammenhang mit immer häufigeren militärischen Razzien und Festnahmen. In Myanmar ging das Militär systematisch gegen Zivilpersonen aus den Bevölkerungsgruppen der Karen und Karenni vor, was zu Hunderten Toten und mindestens 150.000 Vertriebenen führte. Auch in Ländern wie Haiti, Mali, Venezuela und dem Jemen litten die Menschen unter bewaffneten Konflikten und systemischer Gewalt sowie den damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen.

Mehr Klimakatastrophen, mehr Öl, weniger Wiedergutmachung

Die verheerenden Konsequenzen der ungebremsten Klimakrise traten 2022 überdeutlich zutage. Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen und Brände führten zu Todesfällen, der Zerstörung von Unterkünften und Lebensgrundlagen sowie immer stärkerer Ernährungsunsicherheit. 

Doch selbst angesichts dieser Katastrophen konnten sich die Staats- und Regierungschef*innen bei der Weltklimakonferenz in Ägypten nicht auf die Durchführung der Maßnahmen einigen, die erforderlich sind, um den weltweiten Temperaturanstieg auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen. Darüber hinaus weigerten sich die Staaten, gegen die Hauptursache der globalen Erwärmung vorzugehen: die Erzeugung und Nutzung fossiler Brennstoffe.

Die globale Zusammenarbeit zur Eindämmung des Temperaturanstiegs blieb erfolglos und es gelang nicht, in den Verhandlungen wichtige Zusagen für den Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen zu erreichen. Einen Durchbruch gab es bei der finanziellen Unterstützung von Ländern, die von Klimakatastrophen am stärksten betroffen sind: Die Einrichtung eines Entschädigungsfonds ist ein Hoffnungsschimmer für die Menschen, die die Klimakrise an vorderster Front erleben müssen. Der Fonds ist jedoch noch keineswegs einsatzbereit, und die jährlichen 100 Milliarden US-Dollar, die die reichen Länder den Entwicklungsländern seit 2009 versprochen haben, müssen erst noch bereitgestellt werden.

Unterdessen konnten die sechs größten westlichen Ölkonzerne im Jahr 2022 rekordverdächtige Vorsteuergewinne von über 200 Milliarden US-Dollar verbuchen. Diese außerordentlichen Profite sind nicht allein darauf zurückzuführen, dass der russische Einmarsch in die Ukraine die Energiepreise in die Höhe getrieben hat; sie zeugen auch davon, in welchem Ausmaß die fossile Brennstoffindustrie wissentlich die Augen vor den Schäden verschließt, die ihr Geschäftsmodell dem Weltklima und der Umwelt zufügt, und wie sehr sie sich Forderungen widersetzt, für diese Schäden aufzukommen und sie zu beheben.

Doppelmoral

Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg enthüllten eine ernüchternde Doppelmoral. Wohlhabende Staaten horteten Impfstoffe und schwächten multilaterale Verteilungssysteme, was zu stärkerer Ungleichheit beitrug. Es gab wenig Anzeichen dafür, dass sich dieser Trend 2022 umkehren würde. Wohlhabende Länder unternahmen nichts, um Entwicklungsländer von ihrer erdrückenden Schuldenlast zu befreien. 

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen universelle Werte und die multilateralen Systeme, die zum Schutz dieser Werte gedacht sind. Wenn die westliche Welt diesen Kampf für universelle Werte gewinnen will, darf sie nicht gleichzeitig vergleichbare Aggressionen in anderen Ländern hinnehmen, nur weil ihre Interessen auf dem Spiel stehen. Deutlich wurde die Doppelmoral des Westens im lauten Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien und Ägypten sowie in den inkonsequenten Reaktionen auf die schwerwiegenden Auswirkungen anderer Konflikte auf die Menschenrechte, einige davon Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch der Schutz von Flüchtlingen, die vor diesen Konflikten flohen, ließ stark zu wünschen übrig. 

In Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten wurde das Apartheidsystem 2022 weiter verfestigt. Mehrere aufeinanderfolgende israelische Regierungen leiteten Maßnahmen ein, um noch mehr Palästinenser*innen aus ihren Häusern zu vertreiben, illegale Siedlungen auszuweiten und bestehende Siedlungen und Außenposten im besetzten Westjordanland zu legalisieren. Anstatt ein Ende dieses Systems der Unterdrückung zu fordern, gingen einige westliche Regierungen dazu über, diejenigen anzugreifen, die das Apartheidsystem Israels anprangerten.

Die Tore der EU, die für Ukrainer*innen, die vor dem russischen Angriffskrieg flohen, geöffnet waren, blieben für jene geschlossen, die vor Krieg und Repression in Afghanistan und Syrien flohen. Die USA wiesen zwischen September 2021 und Mai 2022 mehr als 25.000 Haitianer*innen aus. Viele dieser Menschen wurden inhaftiert und Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt, die rassistisch und migrationsfeindlich motiviert waren und in der systemischen Diskriminierung Schwarzer Menschen gründeten.

Derartige Beispiele machten dem Rest der Welt einmal mehr deutlich, dass die Rückendeckung für die Menschenrechte durch den Westen selektiv und von Eigeninteressen geprägt ist. Das hatte zur Folge, dass die Ukraine nicht in allen Teilen der Welt Unterstützung erfuhr. Von dieser Doppelmoral profitieren jedoch nicht nur westliche Mächte. Obwohl in China massive Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigur*innen und andere muslimische Minderheiten begangen wurden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, scheuten die Generalversammlung und der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen weiterhin davor zurück, diese völkerrechtlichen Verbrechen öffentlich anzuprangern.

Den vollständigen Bericht finden Sie hier.