Abschlussbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses zum Nationalsozialistischen Untergrund, 21.8.2014
Gemeinsame Empfehlungen des Untersuchungsausschusses
1. Maßnahmen zur Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft und der Prävention gegen Rechtsextremismus
Rechtsextremismus kann nicht als politisches Randphänomen oder pubertäres Zwischenstadium Jugendlicher abgetan und verharmlost werden. Rechtsextremismus findet seinen Nährboden in rassistischen Vorurteilen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch in der Mitte der Gesellschaft. Eine starke demokratische Zivilgesellschaft ist deshalb unver- zichtbar bei der Bekämpfung rechtsextremistischer menschenverachtender Ideologien, aus der sich die Straftaten des NSU entwickelt haben. Demokratieförderung, der Ausbau von Teilnahmerechten und die Schaffung einer echten Willkommenskultur sind die wirksamsten Präventionsmaßnahmen gegen Menschenverachtung und Intoleranz. Eine Verstetigung der Unterstützung und Förderung lokaler Akteure, insbesondere auch getragen durch eine verlässliche und solide finanzielle Ausstattung, ist dafür erforderlich. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus und gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist daher zu unterstützen und zu fördern, wozu zuvorderst Anerkennung des persönlichen Engagements durch Politik und Verwaltung zu zählen ist. Eine Kriminalisierung dieses Engagements und persönlichen Einsatzes wirkt kontraproduktiv sowie demotivierend und hat zu unterbleiben. Das aktuell in Thüringen bestehende Landesprogramm ist zu überarbeiten und als klares Landesprogramm gegen Neonazismus, Rassismus, Antisemitismus und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu gestalten. Die Finanzierung ist zu sichern und auszubauen. Ein wissenschaftlicher Beirat oder zumindest eine wissenschaftliche Begleitung ist zur Beratung und Unterstützung der Akteure und zur Erforschung aktueller Phänomene und Strategien des Rechtsextremismus in Thüringen sinnvoll. Rassismus muss als drängendes Problem endlich ernstgenommen und gesellschaftsübergreifend thematisiert werden. Entsprechende Kampagnen sollten in Zusammenarbeit mit „People of Color“ und zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickelt werden. Der Erkenntnis über in der Mitte der Gesellschaft verankertes rassistisches Gedankengut sollte ebenso wie dem z.T. bestehenden institutionell verankerten Rassismus begegnet werden. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Forschung in den Themenfeldern Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus ist dabei elementarer Bestandteil, um wirksam agieren zu können.
2. Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus - Klare Grenzen setzen
Neben der Fortsetzung der Aufklärung sollte eine Enquetekommission „Rassismus“ Maßstäbe setzen und beispielsweise Vorschläge für die öffentliche Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entwickeln. Weitere mögliche Maßnahmen sind:
- die öffentliche Auseinandersetzung mit Beispielen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit;
- die Prüfung von weiteren Organisationsverboten;
- die Erarbeitung eines Handlungsleitfadens gegen kommunale „Raumergreifungsstrategien“;
- verbesserte Aussteigerangebote und -programme.
3. Verbesserte demokratische und parlamentarische Kontrolle der handelnden Behörden
In einem demokratischen Rechtsstaat kann es keine kontrollfreien Räume staatlichen Handelns geben. Empfohlen wird:
- die Einrichtung einer unabhängigen Clearingstelle für Beschwerden gegen behördliches Handeln, an die sich Betroffene wie auch Mitarbeiter wenden können;
- eine ausreichende personelle und materielle Ausstattung von (parlamentarischen) Kontrollinstanzen bei gleichzeitiger Ausweitung der Kontrollrechte und Berichtspflichten.
4. Notwendige Neuorganisation der Sicherheits- und Justizbehörden unter Beachtung bestehender verfassungsrechtlicher Grenzen, einschließlich der Änderung gesetzlicher Regelungen
Auch konspirativ tätige Sicherheitsbehörden haben kein Recht auf Kontrollfreiheit - sie dürfen kein „Staat im Staate“ sein, dem BürgerInnen zwangsläufig Misstrauen und Ablehnung entgegenbringen müssen. Dringend nötig ist die Entwicklung einer Fehlerkultur statt dem Festhalten an einem falsch verstandenen Corpsgeist - ein falscher Corpsgeist hat auch die Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses massiv behindert. Selbstkritik und Selbstreflexion darf nicht als eine persönliche Schwäche begriffen werden, sondern als Zeichen und eine Möglichkeit, aus eigenen Fehlern zu lernen. In den Behörden ist ein Klima zu schaffen, in dem Mitarbeiter ermutigt werden, Kritik auch gegenüber ihren Vorgesetzten zu äußern, und in dem keine Angst besteht, dass der jeweilige Vorgesetzte die Kritik nicht annimmt und sich lediglich gestört fühlte.
4. a. Verfassungsschutz
Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses sind sich einig, dass sich institutionelle Konsequenzen für das Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen ergeben müssen. Keine Einigkeit besteht bei der Frage, wie diese Konsequenzen ausfallen sollen.
4. b. Polizei
Im Bereich der Polizei hält der Untersuchungsausschuss folgende Maßnahmen für erforderlich:
- Verbesserung der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten im Bereich Rechtsextremismus, insbesondere zu dessen Gewaltpotential;
- Verstärkung der Vermittlung interkultureller Kompetenz, insbesondere im Rahmen der Polizeiausbildung;
- Pflichtprüfung in allen Fällen von Gewaltkriminalität, ob die Tatmotive aufgrund der Person des Opfers in einem rassistisch, antisemitisch, homophoben, antiziganistischen oder einem anderen politisch motivierten Hintergrund liegen könnten; zwingende nachvollziehbare Dokumentation der Prüfung;
- Verbesserung der Erfassung und Einordnung rechtsextrem motivierter Straftaten durch die Polizei;
- Verstärkung der Bemühungen, Menschen mit Migrationshintergrund für den Dienst in der Polizei zu gewinnen;
- Konsequente Verfolgung, Bekämpfung und Verhinderung rechtsextremer Aktivitäten und Straftaten.
4. c. Staatsanwaltschaft/Justiz
Der Untersuchungsausschuss empfiehlt:
- die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaft(en) für Staatsschutzdelikte;
- die Überprüfung unaufgeklärter Delikte und Straftaten auf Bezüge zu rechtsextremen Motiven;
- die gesetzliche Verankerung menschenverachtender Tatmotive als besonderen Umstand bei der Strafzumessung in § 46 StGB;
- Eine Neudefinition fremdenfeindlicher Straftaten;
- eine Pflichtüberprüfung der durch die Polizei vorgenommenen Einordnung des Deliktes durch den befassten Staatsanwalt und ggf. mit Gründen versehene Abgabe in das vom Staatsanwalt benannte Dezernat in der zuständigen Staatsanwaltschaft, insbesondere bei Gewaltkriminalität, gemeingefährlichen Straftaten und Straftaten gegen die persönliche Ehre;
- die Verbesserung und Intensivierung der Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten im Bereich „rechtsextrem motivierter Straftaten“;
- eine angemessene Behandlung und Berücksichtigung des Bereichs „rechtsextrem motivierter Straftaten und Tatmotive“ im Rahmen der Juristenausbildung in Studium und Referendariat;
- die unbegrenzte Archivierung von Staatsschutzdelikten (Hauptstaatsarchiv).
5. Verbesserung der Lage der tatsächlichen und potentiellen Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt – Opferzeugen schützen und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen
Eine schwere Hypothek bei der Aufarbeitung des Behördenversagens im Zusammenhang mit dem NSU ist die jahrelange Suche der Täter im Kreis der Opfer und das ihren Familien damit zusätzlich zugefügte Leid. Der Untersuchungsausschuss empfiehlt:
- Stärkung und Förderung der Mobilen Beratungsprogramme;
- eine adäquate Finanzierung der Beratungsstelle „EZRA“;
- eine Hinweispflicht auf spezialisierte Opferberatungsangebote analog zum Weißen Ring etwa auf EZRA durch Aushändigung ihrer Kommunikationsdaten und das Bereitstellen des jeweiligen Informationsmaterials in den Räumen der Polizei und Justiz.
Den vollständigen Bericht finden Sie hier.