Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlen zum Deutschen Bundestag, 25.7.2012
Leitsätze des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012:
1. Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts und verletzt deshalb die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien.
2. a) In dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWG) nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.
b) Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke verletzt.
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Urteil
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II. 1. § 6 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2a des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2313) sind mit Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
2. § 6 Absatz 5 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2313) ist nach Maßgabe der Gründe mit Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar.
III. 1. Die unter Nummer II. Ziffer 1. und 2. bezeichneten Bestimmungen verletzen die Beschwerdeführer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in dem genannten Umfang in ihren Rechten auf Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl nach Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes.
2. Der Deutsche Bundestag hat durch Beschluss des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (Bundesgesetzblatt I Seite 2313) die Antragstellerin des Organstreitverfahrens sowie die dem Organstreitverfahren beigetretene sonstige Beteiligte in dem aus Nummer II. Ziffer 1. und 2. ersichtlichen Umfang in ihren Rechten auf Chancengleichheit nach Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt.
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Gründe:
Gegenstand der Verfahren sind die Regelungen des Bundeswahlrechts über die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag. Die Antragsteller und die Beschwerdeführer begehren insbesondere die Prüfung, ob das Sitzzuteilungsverfahren verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare Effekte des negativen Stimmgewichts herbeiführt und ob der Anfall ausgleichsloser Überhangmandate mit der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien vereinbar ist.
1. Das Verfahren über die Zuteilung der Sitze im Deutschen Bundestag an die Parteien aufgrund der Wahl nach Landeslisten ist in § 6 des Bundeswahlgesetzes (BWG) geregelt. Diese Vorschrift lautet in der zur Prüfung gestellten Fassung des Art. 1 des Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 25. November 2011 (BGBl I S. 2313) wie folgt:
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2. In der Bundesrepublik Deutschland werden Bundestagswahlen seit jeher auf der Grundlage eines Wahlsystems durchgeführt, das die Verhältniswahl mit einer Personenwahl verbindet. Sämtliche Wahlgesetze sehen einen Verhältnisausgleich vor, nach dem die in den Wahlkreisen mit relativer Mehrheit der Erststimmen gewonnenen Mandate auf die nach dem Verhältnis der Zweitstimmen ermittelten Landeslistensitze einer Partei angerechnet werden; ist deren Zahl geringer als diejenige der von der Partei gewonnenen Wahlkreismandate, so fallen in Höhe der Differenz Überhangmandate an (vgl. dazu und zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates BVerfGE 95, 335 <337 f.>).
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3. Die Mandatszuteilung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 4 und 5 BWG konnte bewirken, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen einer Partei für diese zu einem Verlust an Sitzen oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen führte (sogenannter Effekt des negativen Stimmgewichts; vgl. BVerfGE 121, 266 <274 ff.>). War nämlich ein Verlust an Zweitstimmen für eine Partei in der bundesweiten Oberverteilung zwischen den verschiedenen Parteien nicht mit einem Sitzverlust verbunden, so konnte er doch die Unterverteilung der Sitze auf die einzelnen Landeslisten der betroffenen Partei in einem für diese Partei günstigen Sinn beeinflussen. Denn eine niedrigere Anzahl an Zweitstimmen konnte bei der Unterverteilung dazu führen, dass eine andere Landesliste vorrangig zum Zuge kam und die Partei daher dort - gerade aufgrund der verringerten Gesamtzahl an Zweitstimmen - ein weiteres Listenmandat erlangte. Umgekehrt konnte eine Partei durch mehr Zweitstimmen ein Überhangmandat verlieren und somit in der Gesamtmandatszahl schlechter stehen (vgl. BVerfGE 121, 266 <274 f.>).
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Das vollständige Urteil mit der Begründung finden Sie hier.