Gedenkrede von Bundesratspräsident Bodo Ramelow, 2.8.2022
Wir stehen hier zusammen an einer Stelle des Grauens. 4.300 Kinder, Frauen und Männer – umgebracht in einer einzigen Nacht. In der Nacht vor genau 78 Jahren. Es waren 4.300 Mitmenschen. 4.300 von einer halben Million Sinti und Roma, die während der NS-Diktatur ermordet wurden. Ein Überlebender sagte über die Unmittelbarkeit des heutigen Tages: „Jedes Jahr ergreift uns den ganzen Tag über erneut die Angst vor einem furchtbaren Tod. Wir trauern, als ob es unser letzter Tag wäre. Erst morgen werden wir wissen, ob wir überlebt haben.“
Wir sind heute hier, um dem Grauen ins Gesicht zu schauen und es dadurch sichtbar zu machen. Wir sind hier, um zusammen den Opfern die Ehre zu erweisen und um sie zu trauern. Und wir sind hier, um mit den Überlebenden und den nachgeborenen Familienangehörigen die Erinnerung wachzuhalten.
Erinnern heißt für mich vor allem, die Ursachen nicht zu vergessen, die zu diesem Verbrechen führten. Genau wie Juden und andere Minderheiten wurden Sinti und Roma bis in den Tod verfolgt, weil eine rassistische Ideologie ihnen das Recht zu leben absprach. Die Wurzeln des Rassismus reichen tief. Er beginnt, wo Menschen unfähig sind, mit denen zusammenzuleben, die als anders empfunden werden. Hinzu kommt die Vorstellung, dass manche Menschen mehr Wert seien als andere und deshalb das Recht hätten, gegen andere jede Form von Gewalt auszuüben. Rassismus ist eine Form der Ausgrenzung, die stets zu Gewalt führt und im Nationalsozialismus als Staatsverbrechen organisiert wurde.
Ich habe den Rassismus gegenüber Sinti und Roma in dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen bin, noch gut in Erinnerung. Dieser Alltagsrassismus bildet die Grundlage des großen Verbrechens. Weil Menschen bereits von klein auf darauf konditioniert werden, andere Menschen abschätzig zu betrachten. Und weil Rassismus die Bereitschaft untergräbt, für Mitmenschen einzustehen und ihnen zu helfen, wenn diese verfolgt werden. So hat die Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus eine lange Vorgeschichte der Bedrängung. Und sie hat eine Nachgeschichte, die bis heute reicht. Denn die Bedrängung war mit der Befreiung Europas im Jahr 1945 für Sinti und Roma leider bei Weitem nicht vorbei. Sie wurden erneut kriminalisiert – zum Teil von denselben Nazis, die weiter in Amt und Würden blieben. Schlimmer noch: Mit der Kriminalisierung ihrer gesamten Bevölkerungsgruppe wurde ihnen lange der Opferstatus abgesprochen. Als trügen sie gewissermaßen selbst die Schuld an ihrer Verfolgung! Und wie sah es aus, als die Überlebenden in ihre Heimatorte zurückkamen? Es waren dieselben Schulleiter da, die ihre Kinder an die Nazi Schergen ausgeliefert hatten. Dieselben Polizisten, die sie abgeholt hatten. Dieselben Ärzte, die ihnen die Behandlung verweigert hatten.
Die vollständige Rede finden Sie hier.