Jahresgutachten 2012/13 der Wirtschaftsweisen, 7.11.2012
1. Unverkennbar erfordert der Teufelskreis aus Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und makroökonomischer Krise im Euro-Raum die volle Aufmerksamkeit und ein sehr hohes Engagement der deutschen Wirtschaftspolitik. Erste Erfolge der Anstrengungen der europäischen Politik sind bereits zu erkennen: Die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzsalden haben sich merklich reduziert, und Teile eines funktionstüchtigen Ordnungsrahmens für die Währungsunion wurden etwa mit der Verabschiedung des Fiskalpakts sowie dem gehärteten und damit glaubwürdigeren Stabilitäts- und Wachstumspakt bereits verankert. Trotz dieser Lichtblicke darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es aktuell die Europäische Zentralbank (EZB) ist, die mit ihren unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen das europäische Finanzsystem stabilisiert und einen bedeutenden Beitrag zur Stützung der Banken leistet. Aufgrund der damit verbundenen gefährlichen Aufweichung der Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik sind die Aktivitäten der EZB aber allenfalls eine Notlösung. Auf keinen Fall darf dies zu einem dauerhaften Stabilisierungsmechanismus werden.
Solche Fehlentwicklungen künftig zu verhindern und eine stabile Architektur für Europa zu schaffen, stellt eine Herkulesaufgabe dar. Zudem ist aber eine tragfähige Brücke erforderlich, über die der Weg aus der derzeitigen Krise hin zum Ordnungsrahmen der Zukunft führt. Dies gilt gleichermaßen für die Fiskalpolitik wie für die Regulierung der Finanzmärkte. In beiden Bereichen sind noch weitreichende Entscheidungen zu treffen. Insofern gilt es nach Ansicht des Sachverständigenrates, den bestehenden Ordnungsrahmen zu einer Gesamtkonzeption „Maastricht 2.0“ zu erweitern. Diese besteht aus drei Säulen: eine für die fiskalische Stabilität mit nationaler Verantwortung, eine für die Stabilität des privaten Finanzsystems mittels einer Bankenunion und eine Säule für das Krisenmanagement, die eine Insolvenzordnung für Mitgliedstaaten umfasst.
2. Die notwendigen Anstrengungen der deutschen Wirtschaftspolitik, die vielfachen Krisen im Euro-Raum einzudämmen und zu überwinden, haben allerdings den nach wie vor bestehenden wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf in Deutschland mitunter in den Hintergrund treten lassen. Für die deutsche Wirtschaftspolitik gilt es, eine ganze Reihe von Problemen zu lösen: Die Energiewende muss effektiv und effizient gestaltet, Reformen im Gesundheitswesen und im Steuersystem müssen vorangebracht werden. Bereits umgesetzte oder eingeleitete Reformen, insbesondere am Arbeitsmarkt und in der Alterssicherung, dürfen nicht zurückgenommen werden.
Die Energiepolitik sollte das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) durch ein marktwirtschaftliches Quotenmodell ersetzen und zudem einen langfristigen institutionellen Rahmen des Strommarkts festlegen und umsetzen, statt lediglich auf kurzfristig auftretende Probleme mit ad-hoc Maßnahmen zu reagieren. In der Gesetzlichen Krankenversicherung sollte der Gesetzgeber den eingeschlagenen Weg zu einer stärkeren einkommensunabhängigen Finanzierung fortsetzen. Im Steuersystem sollte die Politik Maßnahmen ergreifen, welche die Eigenkapitalbasis und damit die Widerstandskraft der Real- und Finanzwirtschaft stärken. In der Alterssicherung dürfen die bereits eingeleiteten Reformen nicht zurückgenommen oder verwässert werden. Dies gilt ebenso für den Arbeitsmarkt, dessen Flexibilität erhalten und ausgebaut werden muss. Die Bundestagswahl im Herbst 2013 sollte Grund genug sein, den wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf in Deutschland wieder stärker auf die politische Agenda zu setzen.
3. Im Zuge der Euro-Krise hat sich die Weltwirtschaft konjunkturell stark abgeschwächt; dies hat die Konjunkturentwicklung in Deutschland belastet. Bereits im Jahr 2011 setzte eine merkliche Abkühlung der Konjunktur ein, die im Jahr 2012 anhielt. Die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland dürfte sich im Jahr 2012 voraussichtlich auf 0,8 % belaufen, dieser Wert gilt vermutlich ebenso für das Jahr 2013. Die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt stellt sich nach wie vor günstig dar, obwohl sich die positive Dynamik abgeschwächt hat und zuletzt zum Erliegen gekommen ist. In den Jahren 2012 und 2013 dürfte die Arbeitslosenquote 6,8 % beziehungsweise 6,9 % betragen.
I. Europas Architektur festigen und Brücken in die Zukunft bauen
4. Die Europäische Währungsunion befindet sich trotz erster Lichtblicke in einer Vertrauenskrise von systemischem Ausmaß. Diese Krise besteht im Kern aus drei eng miteinander verbundenen Problemfeldern: Die Staatsschuldenkrise findet ihren sichtbaren Ausdruck in deutlich steigenden Schuldenstandsquoten und hohen Risikoprämien für die Staatsanleihen der Problemländer. Die Bankenkrise manifestiert sich in weiterhin mangelndem Vertrauen gegenüber den Finanzinstituten aus den Problemländern sowie in einer zunehmenden Fragmentierung der Bankenmärkte. Die makroökonomische Krise zeigt sich an der rezessiven Wirtschaftsentwicklung in einer Reihe von Mitgliedstaaten und einer unzureichenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, insbesondere in den Problemländern. Als Lichtblicke sind erste Erfolge der Strukturanpassungsmaßnahmen zu verzeichnen, beispielsweise in Form rückläufiger Leistungsbilanzdefizite.
Erschwerend kommt die wechselseitige Verstärkung zwischen diesen Krisenherden hinzu. So verschlechtert beispielsweise eine Bankenrettung durch den Staat dessen Finanzsituation. Gleichzeitig belasten aber sinkende Kurse der Staatsanleihen aufgrund einer höheren Verschuldung des Staates die Bilanz- und Kapitalposition der Banken. Ein anderes Beispiel: Die unvermeidliche Konsolidierung der staatlichen Haushalte schwächt zunächst die Binnennachfrage. Die Folge sind wegbrechende Steuereinnahmen und steigende staatliche Transferleistungen. Mithin kommt es darauf an, Lösungskonzepte zu entwerfen und umzusetzen, welche in der Lage sind, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
5. Dabei besteht die große wirtschaftspolitische Herausforderung darin, kurzfristige Probleme jeweils mit Augenmaß anzugehen, ohne die Glaubwürdigkeit des teilweise noch zu schaffenden langfristigen Ordnungsrahmens dadurch wieder infrage zu stellen. Dieser Ordnungsrahmen muss in der Lage sein, Fehlentwicklungen, wie sie in den öffentlichen Haushalten und im Finanzsystem in der Vergangenheit aufgetreten sind, künftig zu vermeiden.
6. Im fiskalischen Bereich hat die Politik mit der Verabschiedung des Fiskalpakts und der Härtung des Stabilitäts- und Wachstumspakts bei aller Detailkritik und trotz aller notwendigen Ergänzungen bereits ein gutes Stück des Weges zurückgelegt. Im Hinblick auf den Ordnungsrahmen für solide Staatsfinanzen in der Währungsunion kommt es darauf an, eine stabile Architektur für die Europäische Währungsunion zu schaffen. Hierzu schlägt der Sachverständigenrat sein Drei-Säulen-Konzept „Maastricht 2.0“ vor.
Dieses sieht vor, die Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Zukunft gemäß den Ordnungsprinzipien des Maastricht-Vertrags weitgehend in nationaler Souveränität zu belassen. Reformiert werden sollten die bestehenden Fiskalregeln und die Rahmenbedingungen für das Finanzsystem in der Europäischen Union. Maastricht 2.0 setzt also auf eine nationale Haftung und die Disziplinierungsfunktion der Märkte, allerdings erweitert um eine Insolvenzordnung für Mitgliedstaaten. Diese soll durch einen Krisenmechanismus und flankierende Reformen im Finanzsystem glaubwürdig werden.
Ein alternativer, vom Sachverständigenrat abgelehnter Weg würde hingegen auf europäischer Ebene verankerte, glaubwürdige Durchgriffsrechte erfordern. Diese stehen nicht zur Verfügung. Und außerdem ist es politisch in hohem Maße unwahrscheinlich, sie künftig institutionell in verbindlicher Weise zu verankern. Glaubwürdig wären solche Durchgriffsrechte ohnehin nur dann, wenn eine fiskalpolitische Instanz, beispielsweise ein europäischer Finanzminister oder ein mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteter Währungskommissar, den nationalen Parlamenten verbindliche Vorgaben machen und in einer hierarchischen Ordnung auf die Finanz- und Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten zugreifen könnte. Dies stellt sich schon auf nationaler Ebene als höchst schwieriges, wenn nicht sogar aussichtsloses Unterfangen dar, nicht zuletzt in Deutschland.
7. Auf dem Weg zu einem stabilen langfristigen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte ist die europäische Politik ein gutes Stück vorangekommen. Die Umsetzung der neuen und strengeren Eigenkapitalregulierung Basel III in europäisches Recht ist nahezu abgeschlossen; es liegen Vorschläge für verbesserte Verfahren zum Umgang mit Banken in Schieflagen auf dem Tisch; es wurden erste Schritte in Richtung einer Europäischen Bankenunion gemacht. Allerdings darf der begonnene Reformprozess jetzt nicht verlangsamt werden. Denn viele der bisher geplanten Reformen gehen aus Sicht des Sachverständigenrates noch nicht weit genug. Beispielsweise sollten Staatsanleihen im neuen langfristigen Regulierungsrahmen mit Eigenkapital unterlegt und von Beschränkungen für die Vergabe von Großkrediten nicht ausgenommen werden. Im zukünftigen Regulierungsregime ist es zudem aus Sicht des Sachverständigenrates erforderlich, die Einhaltung von ungewichteten Eigenkapitalanforderungen in Form einer Leverage Ratio von mindestens 5 % des gesamten Geschäftsvolumens einer Bank flankierend zu fordern.
8. Insgesamt umfasst die derzeit diskutierte Bankenunion drei Elemente: die Übertragung aufsichtsrechtlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene, die Etablierung einer europäischen Restrukturierungsagentur und eine europaweite Einlagensicherung. Konkrete rechtliche Vorschläge sind bislang nur für die Einrichtung einer einheitlichen europäischen Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB gemacht worden. Bisher kann die Verlagerung von Risiken über Landesgrenzen hinweg nur unzureichend begrenzt werden. Grundsätzlich hält der Sachverständigenrat es daher für richtig, Kompetenzen im Bereich der Aufsicht und der Restrukturierung auf die europäische Ebene zu verlagern. Nur so ist sichergestellt, dass Haftung und Kontrolle auf einer Ebene liegen.
9. Allerdings ist es bis zu einer echten Bankenunion noch ein weiter Weg. Insbesondere die Einbeziehung der EZB in die Aufsicht birgt erhebliche Risiken. Im derzeitigen europarechtlichen Rahmen ist eine hinreichende Trennung zwischen geldpolitischen Funktionen und der Bankenaufsicht nicht möglich; für EU-Länder, die nicht Mitglieder des Euro-Raums sind, würde es keine ausreichenden Mitsprachemöglichkeiten geben. Daher wäre schon allein aus diesen Gründen eine Änderung der europarechtlichen Rahmenbedingungen erforderlich. Nur so könnte sichergestellt werden, dass die europäische Ebene ausreichende Durchgriffsrechte besitzt, Geldpolitik und Bankenaufsicht hinreichend voneinander getrennt sind und Haftung und Kontrolle in einer Hand bleiben. Wichtig ist zudem, dass nicht nur Aufsichtssondern auch Restrukturierungs- und Abwicklungskompetenzen auf die europäische Ebene übertragen werden. Eine europäische Restrukturierungsagentur sollte über eine Bankenabgabe und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) finanziert werden. Sollte der Rückgriff auf fiskalische Mittel erforderlich werden, sollten klare Regeln für die Lastenteilung vorab festgelegt worden sein. Das dritte Element einer Bankenunion – eine europaweite Einlagensicherung – hält der Sachverständigenrat nicht für erforderlich. Die Einführung einer solchen Versicherung würde erhebliche Risiken bergen, da Verluste im Nachhinein vergemeinschaftet würden.
10. All diese auf die längere Sicht angelegten Maßnahmen im Hinblick auf Maastricht 2.0 reichen indes noch nicht. So ist die Bankenunion keine Lösung für akute Probleme im Bankensektor. Altlasten in den Bilanzen der Banken und ungelöste rechtliche Fragen erfordern vielmehr einen schrittweisen Übergang in eine Bankenunion. Der Sachverständigenrat schlägt hierzu einen Drei-Stufen-Plan vor: In einer ersten Phase müssen die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen geschaffen und die neuen europäischen Institutionen etabliert werden. Dabei sollten Aufsichtsfunktionen außerhalb der Notenbank angesiedelt werden. Erst wenn diese Phase abgeschlossen ist, sollten sich, in einer zweiten Phase, die Banken schrittweise für die Bankenunion qualifizieren. Sollte in dieser Phase die Restrukturierung von Banken erforderlich sein und würden hierfür Finanzmittel benötigt, so würde dies in voller Verantwortung der Nationalstaaten geschehen, die auch für die mögliche Inanspruchnahme von Mitteln aus dem ESM haften würden. Banken, die am Ende dieser Phase die Bedingungen für die Vergabe einer europäischen Banklizenz nicht erfüllt haben, würden restrukturiert und gegebenenfalls abgewickelt. Somit verblieben in der dritten Phase nur noch die Banken am Markt, die eine europäische Banklizenz erhalten haben.
Notwendig ist es zudem, eine fiskalische Brücke in die Zukunft zu bauen, die von der unvermeidlichen kurzfristigen Stabilisierung überzeugend in das Regime Maastricht 2.0 führt. Hierfür hat der Sachverständigenrat das Konzept des Schuldentilgungspakts entwickelt. Kennzeichnend für den Schuldentilgungspakt ist seine Konstruktion als ein System wechselseitiger Verpflichtungen zur Solidarität und Solidität, indem er eine quantitativ und zeitlich begrenzte gemeinschaftliche Haftung im Schuldentilgungsfonds verankert und dies mit starken Absicherungen zum Schuldentilgungspakt verbindet.
11. Schließlich besitzt die makroökonomische Krise ebenfalls unterschiedliche Zeitdimensionen, wie es die Rezessionen und Wachstumsschwäche in zahlreichen Ländern des Euro- Raums deutlich machen. Die Konsolidierung der staatlichen Haushalte, also eine restriktive Fiskalpolitik, geht aller Erfahrung nach zunächst zumindest mit einer merklichen Konjunkturabschwächung, häufig sogar mit einer Rezession einher. Damit stellt sich die Aufgabe, die fiskalpolitischen Schritte so auszugestalten und zu dosieren, dass die Konsolidierungserfordernisse nicht zu einem Abgleiten in eine Depression führen. Das Ziel der Wirtschaftspolitik in den betreffenden Ländern sollte es sein, das Produktionspotenzial zu erhöhen, um langfristig einen höheren und steileren Wachstumspfad zu erreichen. Eine solche Wachstumspolitik braucht einen langen Atem. Es benötigt geraume Zeit, bis sich Erfolge ordnungspolitischer Maßnahmen etwa von Reformen der Institutionen auf dem Arbeitsmarkt oder des Steuersystems einstellen.
Da die makroökonomische Krise in den einzelnen Ländern zum Teil sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, verbieten sich länderübergreifende Lösungskonzepte. Zudem liegt es außerhalb der Kompetenz des Sachverständigenrates, den Regierungen anderer Länder konkrete wirtschaftspolitische Ratschläge zu geben.
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