Dokumente zum Zeitgeschehen

»Es gibt Belege dafür, dass Finanzinvestoren die Rohstoffpreise beeinflussen.«

Studie der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) zum Einfluss von Spekulationen auf die Entwicklung von Rohstoffpreisen, 5.6.2011

Die Mitte des vergangenen Jahrzehnts markierte den Beginn eines steil ansteigenden Trends bei Rohstoffpreisen, der mit einer zunehmenden Volatilität einher ging. Die Preise einer großen Bandbreite von Rohstoffen erreichten nominell historische Höchststände, bevor sie im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise stark einbrachen. Nun sind sie abermals im Ansteigen begriffen. Diese Entwicklungen fallen zeitlich mit wesentlichen Verschiebungen bei den Angebots- und Nachfragedeterminanten auf den Rohstoffmärkten zusammen. Diese zeigen sich insbesondere in den aufstrebenden Schwellenländern, die derzeit ein starkes Wachstum, eine zunehmende Urbanisierung und eine Zunahme der Mittelschicht erleben. Dabei ändern sich die Konsumgewohnheiten, was unter anderem eine wachsende Nachfrage nach Fleisch und Milchprodukten einschließt. Darüber hinaus wird eine Reihe von Agrarlebensmitteln für die Produktion von Biotreibstoffen verwendet, um den Anteil der fossilen Brennstoffe beim Energieverbrauch zu verringern. Dies wird in mehreren Ländern, einschließlich der EU- Mitgliedsländer und der USA gefördert. Die damit verbundene Umwidmung von landwirtschaftlichen Flächen von der Nahrungsmittelproduktion zur Produktion von Biotreibstoffen hat sich auch auf die Preise für andere landwirtschaftliche Erzeugnisse, die nicht zur Herstellung von Biotreibstoffen verwendet werden, ausgewirkt. Gleichzeitig wird das Angebot an Agrarrohstoffen von sinkenden Wachstumsraten bei Produktion und Produktivität beeinflusst, die zum Teil auf die negativen Auswirkungen des Klimawandels zurückzuführen sind. Allerdings können diese Fakten für sich genommen die jüngste Rohstoffpreisentwicklung nicht erklären.

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Finanzialisierung von Rohstoffmärkten, die für die Preisentwicklung der vergangenen Jahre eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Seit ungefähr 2004 hat ihre Bedeutung stark zugenommen, was sich in steigenden Volumina auf den Märkten für Rohstoffderivate niederschlug – sowohl im Börsenhandel als auch im außerbörslichen Handel (OTC-Geschäft). Dieses Phänomen gibt ernsthaften Anlass zur Sorge, weil die Aktivitäten von Finanzmarktakteuren die Rohstoffpreise von dem Niveau wegtreiben, das durch die Fundamentaldaten des Marktes gerechtfertigt wäre. Dies wirkt sich negativ auf Produzenten wie Konsumenten aus.

Die Rolle von Informationsflüssen ist entscheidend für Preisentwicklungen auf Märkten für Rohstoffderivate. Traditionell wird angenommen, dass die sogenannte Hypothese effizienter Märkte (efficient market hypothesis, EMH) auf Finanzmärkten einschließlich der Märkte für Rohstoffderivate und insbesondere auf Terminmärkten, die im Fokus dieser Studie stehen, gilt. In ihrer strengen Form besagt diese Hypothese, dass sich sogar private Informationen – die nur einzelnen Marktteilnehmern zur Verfügung stehen – aufgrund der Transaktionen der Personen mit diesen Informationen umgehend in den Marktpreisen niederschlagen. Würde diese Hypothese gelten, dann würden die Preisentwicklungen ausschließlich Informationen über Fundamentaldaten widerspiegeln.

Allerdings zeigt diese Studie, dass die EMH auf den gegenwärtigen Rohstoffterminmärkten nicht gilt. Marktteilnehmer treffen ihre Handelsentscheidungen auch auf der Basis von Faktoren, die nichts mit dem jeweiligen Rohstoff zu tun haben, wie zum Beispiel Portfolioüberlegungen, oder sie folgen möglicherweise einem Trend. Daher ist es für andere Akteure auf dem Markt schwierig zu erkennen, ob ihre Transaktionen auf Information über Fundamentaldaten basieren, die manchmal schwer erhältlich und nicht immer verlässlich sind. Kauf- und Verkaufsentscheidungen werden somit unter hoher Unsicherheit getroffen. In einer solchen Situation ist es rational, den Kauf- und Verkaufsentscheidungen anderer Marktteilnehmer zu folgen. Es gibt eine Vielfalt an völlig rationalen Motiven für dieses beabsichtigte Herdenverhalten („intentional herding“). Das wichtigste dieser Motive betrifft die Nachahmung in Situationen, in denen Händler glauben, dass sie Informationen gewinnen können, indem sie das Verhalten anderer Akteure beobachten.

In einem von Herdenverhalten geprägten Umfeld kommt es nur begrenzt zur Arbitrage. Selbst wenn die Fundamentaldaten dies rechtfertigen, kann ein Handeln gegen die Mehrheit der Marktteilnehmer zu erheblichen Verlusten – häufig von geliehenem Geld – führen. Es mag daher aus Sicht der Marktteilnehmer rational sein, ihr eigenes Wissen zu ignorieren und dem Trend zu folgen. Dies tun viele Finanzmarktakteure standardmäßig, indem sie ihre Kauf- und Verkaufsentscheidungen ausschließlich auf der Grundlage vergangener Preisentwicklungen treffen (sogenanntes „algorithmic trading“), was zu einer Rohstoffpreisblase führen kann.

Es gibt umfangreiche empirische Belege dafür, dass Finanzinvestoren die Rohstoffpreise beeinflussen:

- Eine Reihe von Studien findet Belege für Rohstoffpreisblasen. Die Analysen zeigen, dass das Eröffnen von Positionen durch Index-Investoren, die die Preisbewegungen eines auf einem Korb von Rohstoffen basierenden Index nachvollziehen, sich auf die Preisentwicklung auswirkt, insbesondere bei Rohöl und Mais. Die Tatsache, dass diese Preiswirkungen – insbesondere im Fall von Rohöl – dauerhaft auftreten, deutet auf das Vorliegen eines Herdenverhaltens hin. Während Index-Investoren vor der Finanzkrise als bedeutsame Preistreiber identifiziert wurden, hat die Bedeutung von Vermögensverwaltern (wie z.B. Hedgefonds), die eine aktivere Handelsstrategie verfolgen und Positionen auf beiden Marktseiten eröffnen, seither zugenommen. Dies spiegelt sich auch in der engen Korrelation zwischen Preisänderungen und Positionsänderungen von Vermögensverwaltern seit 2009 wider, die im Ölmarkt 0,8 erreicht. Tatsächlich haben Schätzungen ergeben, dass die Spekulation derzeit für 20 Prozent des Ölpreises verantwortlich ist.

- Die Korrelation zwischen Devisen- und Rohstoffmärkten hat in jüngster Zeit zugenommen und deutet darauf hin, dass andere Faktoren als die fundamentalen Angebots- und Nachfragebedingungen die Rohstoffpreise determinieren. Informa- tionsströme in anderen Finanzmärkten haben einen zunehmenden Einfluss auf die Dynamik von Rohstoff-Futures. Darüber hinaus zeigt eine Analyse der Reaktionen von Rohstoffpreisen auf die Veröffentlichung von Wirtschaftsindikatoren, dass Rohstoffpreise auf verschiedenen Rohstoffmärkten, die wenig gemeinsam haben, innerhalb von Minuten nach der Veröffentlichung in gleicher Weise reagieren.

- Der Verlauf von Rohstoffpreisen, insbesondere des Ölpreises, über den Konjunkturzyklus hat sich fundamental verändert. In früheren Zyklen haben sich Rohstoffpreise und Aktienkurse unterschiedlich entwickelt. Die Rohstoffpreise haben erst deutlich nach dem konjunkturellen Tiefpunkt wieder angezogen. Im jüngsten Konjunkturzyklus sind die Ölpreise hingegen unmittelbar nach dem Tiefpunkt, noch vor einem erneuten Anziehen der Aktienkurse, stark angestiegen. Dieser kräftige Anstieg basierte schlicht auf einem erwarteten, jedoch noch nicht realisierten, Aufschwung.

Als Ergänzung zu den theoretischen und empirischen Ergebnissen wurden 22 Interviews mit verschiedenen Rohstoffmarktakteuren – von physischen Rohstoffhändlern bis zu Finanzinvestoren, einem Broker, Mitarbeitern einer Preisagentur und zwei Beratern – durchgeführt. Die Befragten stimmten zu, dass die Rolle der Finanzinvestoren in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Durch ihre Finanzkraft könnten diese kurzfristig Preisbewegungen auslösen. Dies führe zu einer erhöhten Volatilität, die den Märkten schaden und Wirtschaftssubjekte, die an den Rohstoffen selbst interessiert sind und ihre Risiken absichern müssen, von den Märkten für Rohstoffderivate vertreiben könne. Die erhöhte Volatilität führe zu mehr Nachschussforderungen („margin calls“) und somit zu einem höheren Finanzierungsbedarf. Wenngleich die Befragten die Rolle der Fundamentalfaktoren für die mittlere und lange Frist betonten, räumten sie ein, dass kurzfristig erhebliche Preisverzerrungen und Effekte eines Herdenverhaltens auftreten könnten. Dies zeigt sich auch darin, dass mehrere Befragte angaben, sie achteten verstärkt auf Finanzmarktinformationen. Die wichtigste Schlussfolgerung der befragten Rohstoffmarkt- akteure war, dass man die Transparenz auf den Märkten erhöhen müsse. Für die USA betrifft dies insbesondere das außerbörsliche Geschäft.

In Europa bestehe generell ein größerer Mangel an Transparenz als in den USA. Die Einführung einer Berichterstattung wie sie die Commodity Futures Trading Commission (CFTC) – die Institution, die mit der Regulierung von und Aufsicht über den Handel mit Rohstoff-Futures beauftragt ist – in ihren wöchentlichen „Commitments of Traders“-Berichten bereitstellt wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung. Mehr Information sollte jedoch auch über das außerbörsliche Geschäft eingefordert werden. Bezüglich weiterer Regulierungsfragen unterschied sich der Informationsstand über die laufende Diskussion über Regulierungs- und Reformfragen deutlich zwischen den Befragten. Im Allgemeinen haben sie der Regulierung in den USA, wie beispielsweise dem Dodd-Frank-Act, anscheinend mehr Aufmerksamkeit geschenkt, während nur eine Minderheit der Befragten eine klare Vorstellung von den Regulierungsinitiativen der Europäischen Kommission hatte. Eine erhebliche Skepsis bestand gegenüber Verboten (z.B. des Hochfrequenzhandels) und quantitativen Beschränkungen von Positionen. Die allgemeine Überzeugung war, dass Regeln schwer durchsetzbar seien.

Die Analyse zeigt deutlich, dass die Informationsströme eine zentrale Rolle für die Rohstoffpreisentwicklung spielen. Die oben beschriebenen Marktverzerrungen hängen eng damit zusammen, dass Marktteilnehmer Entscheidungen unter erheblicher Unsicherheit fällen und dass sie sich an allgemein zugänglichen Informationen orientieren. Daher sollten sich Politikmaßnahmen für ein besseres Funktionieren der Märkte auf folgende Punkte konzentrieren:

- Erhöhte Transparenz bezüglich der Fundamentaldaten. Wenngleich derzeit vielfältige Informationsquellen existieren, besteht eine erhebliche Unsicherheit hinsichtlich der Datenqualität und der zeitnahen Verfügbarkeit, insbesondere bei Lagerbeständen.

- Erhöhte Transparenz auf den Börsen und im außerbörslichen Geschäft selbst. Zusätzliche Informationen über die Eröffnung von Positionen und die Kategorien von Marktteilnehmern auf Märkten für Rohstoffderivate sollten zur Verfügung gestellt werden. Dies betrifft insbesondere den Rohstoffhandel in Europa, wo die Transparenz deutlich hinter derjenigen der US-Börsen hinterherhinkt. Eine verbesserte Transparenz ist nicht nur für Marktteilnehmer von Bedeutung, sondern auch für Regulierungsbehörden, die nur einschreiten können, wenn sie wissen, was auf dem jeweiligen Markt vor sich geht.

- Eine strengere Regulierung von Finanzmarktakteuren. Strengere Regeln auf internationaler Ebene wären optimal, um Regulierungsarbitrage zu vermeiden. Da der Umfang der Aktivitäten von Finanzmarktakteuren einen erheblichen Einfluss auf die Preisentwicklung hat, dürften quantitative Beschränkungen der Positionen, die darauf gerichtet sind, das Engagement von Finanzinvestoren auf Rohstoffmärkten einzuschränken, mittel- bis langfristig unverzichtbar sein. Da angemessene Schranken nicht leicht zu bestimmen sind, könnte ein erster Schritt aus „Positionspunkten“ („position points“) bestehen bei denen Händler zusätzliche Informationen liefern müssten. Darüber hinaus könnte man aufgrund von Insider-Informationen den Eigenhandel für diejenigen Finanzinstitutionen verbieten, die für ihre Kunden die Transaktionen zur Risikoabsicherung durchführen.

- Jenseits dieser Form der „weichen Regulierung“ müssen eine Reihe von direkten Stabilisierungsmaßnahmen für Rohstoffpreise erwogen werden. Da Regierungen und internationale Institutionen Zugang zu denselben Informationen haben wie die Marktteilnehmer, sollten die Schaffung eines virtuellen Reservemechanismus und die direkte Intervention auf Spotmärkten und Finanzmärkten in Betracht gezogen werden. In finanzialisierten Rohstoffmärkten kann ein Eingreifen sogar – ähnlich wie auf Devisenmärkten – dazu beitragen, Marktteilnehmern eine bessere Orientierung bezüglich der fundamentalen Angebots- und Nachfragefaktoren zu geben.

- Die Einführung eines Transaktionssteuersystems könnte die Finanzmärkte ganz allgemein etwas bremsen.

Alle diese Maßnahmen verdienen es von der Politik ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden, auch wenn sich herausstellen sollte, dass einige kompliziertere Konzepte nicht schnell realisierbar sind.

Die vollständige Studie finden Sie hier.