Dokumente zum Zeitgeschehen

»Es gibt keinerlei Gründe, die gegenwärtige katholische Lehre, dass jeder einzelne Akt des Geschlechtsverkehrs nur der Fortpflanzung diene, zu unterstützen«

Wissenschaftliche Erklärung des Wijngaards Institute for Catholic Research, 4.5.2021

Die Wissenschaftliche Erklärung über freie und treue gleichgeschlechtliche Beziehungen, unter der Schirmherrschaft des Wijngaards Institute for the Catholic Research erstellt, erfasst den Bedarf für diese entscheidende Stunde der christlichen Geschichte prophetisch. Die Forschung kommt zu folgendem Ergebnis: “Es gibt keinerlei Gründe, weder von den Wissenschaften noch von der Bibel her, die gegenwärtige katholische Lehre, dass jeder einzelne Akt des Geschlechtsverkehrs eine fortpflanzungstechnische Bedeutung und endgültige Bestimmung hätte, und dass demzufolge gleichgeschlechtliche Handlungen “intrinsich gestört” wären, weil ihnen die fortpflanzungstechnische Bedeutung und endgültige Bestimmung fehlt, zu unterstützen.” (§1.5) Daher ist es dringend geboten, “dass die zuständigen Stellen in der katholischen Kirche einen offiziellen Konsultationsprozess einrichten, um die Meinung von christlichen Theologen und Experten anderer relevanter Disziplinen zur Ethik gleichgeschlechtlicher Beziehungen einzuholen.” (§2.1) In einem solchen transparenten Prozess kirchlichen Studiums sollten die wissenschaftlichen Autoritäten die zu Rate gezogen werden die Ansichten der Mehrheit der entsprechenden Fachgebiete vertreten. Es liegt in der Verantwortung der zuständigen Kirchenautoritäten, eine entsprechende Verküdigung herauszubringen, welche die gegenwärtige doktrinäre und moralische Position im Lichte des aktuellen wissenschatlichen und biblischen Wissensstandes korregiert. Die gegenwärtige Forschung kann als erster Schritt in diesem Reifungsprozess betrachtet werden.

Selbst im Fall dass es der lehramtlichen Autorität der Kirche an absoluter Sicherheit bezüglich des neuen menschlichen und biblischen Wissensstandes zu gleichgeschlechtlicher Orientierung mangelt, wird es nicht möglich sein, wenigstens die Existenz wohlbegründeter Zweifel über die Gültigkeit der traditionellen Systematisierung kirchlichen Wissens über Sexualität zu leugnen. Die Gemeinschaft der Gläubigen kann die Aufgabe, die berechtigten Beanstandungen der wissenschaftlichen und biblischen Studien in einem solch entscheidenden Thema wie der Sexualität zu benennen, nicht für kommende Generationen verleugnen. Man versteht daher die Dringlichkeit einer ernsthaften und objektiven Gegenüberstellung mit der Verständlichkeit der sexuellen Orientierung. Gleichgeschlechtliche Orientierung, wie auch heterosexuelle Orientierung, ist keine “Tendenz”, Ergebnis einer individuellen Entscheidung oder eine Art Defekt oder unnatürlicher Faktor. Eher ist gleichgeschlechtliche Orientierung die natürliche Kapazität für eine tiefe emotionelle, affektive und sexuelle Anziehung hin zu und einer intimen und sexuellen Beziehung mit Individuen ses gleichen Geschlechts. Heute gibt es keinerlei Zweifel mehr, dass die Bandbreite der sexuellen Orientierung jetzt weit mehr als eine wissenschaftliche Hypothese ist, und so verlangt sie, von der theologischen Reflektion ernstgenommen zu werden.

Man kann erkennen, dass der Bedarf für die ersehnte Überarbeitung durch die Kirche auch der offiziellen römisch-katholischen Position innewohnt. Heutzutage wird es üblicher, einzugestehen, dass alte Gewissheiten ersetzt werden, was an folgendem Beispiel gezeigt werden kann. Während das jüngste Dokument der Päpstlichen Bibelkommission eindeutig zugibt, dass die Bibelpassage  Gen 19, 1-29 nichts mit Homosexualität zu tun hat,[3] benutzt der Katechismus der katholischen Kirche von 1992, der für alle Katholiken bindend ist, als ersten biblischen Schritt, um Homosexualität als große Verderbtheit zu verurteilen.[4] Dies ist nur eine von den doktrinären Inkonsistenzen die – wie von der Wissenschaftlichen Erklärung über freie und treue gleichgeschlechtliche Beziehungen empfohlen – nun eine durchgehende Überarbeitung verlangen. Solch einer Überarbeitung kann es nicht genügen, die Schlüsselpassage, die für eine jahrhundertealte homophobe Interpretation der biblischen und post-biblischen Welt verantwortlich ist, einfach stillschweigend zu übergehen.

Stück für Stück zeigt die Wissenschaftliche Erklärung rechtzeitig, dass die gesamte biblische Argumentation, die lange für grundlegend für die Verurteilung von Homosexualität gehalten wurde, im Lichte der Entwicklung der Human- und Bibelwissenschaften nicht mehr für grundlegend betrachtet werden kann. In diesem Sinne übernimmt die Erklärung das andere Prinzip, das vom oben erwähnten Dokument der Päpstlichen Bibelkommission anerkannt wird, und entwickelt es weiter: “Die Bibel spricht nicht von erotischer Neigung zu einer Person des gleichen Geschlechts, sondern lediglich von homosexuellen Handlungen. Und sie beschäftigt sich mit diesen in wenigen Texten, die sich in Literaturgenre und Wichtigkeit unterscheiden”.[5] Tatsächlich konnte die biblische Welt keine gleichgeschlechtliche Orientierung als eine wesentliche Eigenart menschlicher Sexualität kennen. “Während die biblischen Autoren wussten, dass manche Menschen gleichgeschlechtliche Aktivitäten betrieben, ist es unwahrscheinlich, dass es ihnen bewusst war, dass manche Menschen das hatten, was man heute eine ‚homosexuelle Orientierung‘ nennt, also eine angeborene, ausschließliche und permanente Anziehung zum gleichen Geschlecht”.[6] Für Ethik wie für Anthropologie ist der Mangel an Wissen über sexuelle Identität ein offensichtliches Problem: Man kann keine exakte ethische Bewertung von Handlungen sexueller Natur folgern, ohne ein ausreichendes Verständnis der sexuellen Natur des Subjektes der Handlungen an sich (agitur sequitur esse). Biblische Texte beruhen auf einem Wissen über Sexualität entsprechend ihrer Zeit, und sie müssen heute auf der Basis des größeren Wissens das wir heute haben gelesen werden.

Die vollständige wissenschaftliche Erklärung finden Sie hier.