Bericht der EU-Kommission zu den Stresstests der Atomkraftwerke in der Europäischen Union, 4.10.2012
Derzeit sind in der EU an 58 Standorten 132 Kernreaktoren in Betrieb. Die sicherheitstechnische Bilanz kann sich sehen lassen: Obschon Störfälle eingetreten sind und auch weiterhin vorkommen, gab es noch keine größeren Unfälle. Auch bei dieser guten Sicherheitsbilanz hängt das Vertrauen der EU-Bürger in die europäische Nuklearindustrie von fortlaufenden Verbesserungen des EU-Rechtsrahmens für nukleare Sicherheit und Gefahrenabwehr (Sicherung) ab, die gewährleisten, dass er auch weiterhin der weltweit wirksamste seiner Art ist und auf den strengsten Sicherheitsnormen beruht.
Die Herausforderungen, vor denen wir im Zusammenhang mit der nuklearen Sicherheit und der entsprechenden Gesetzgebung und Aufsicht stehen, wurden durch die Unfälle deutlich, die sich im Anschluss an das Erdbeben und den Tsunami im März 2011 in Japan in den Reaktoren von Fukushima ereigneten. Diese Vorfälle haben gezeigt, dass Kernreaktoren auch vor Unfällen geschützt werden müssen, die als äußerst unwahrscheinlich eingestuft wurden. Bei den Ereignissen in Fukushima traten bekannte und immer wieder festzustellende Probleme zutage: fehlerhafte Auslegung, unzureichende Reservesysteme, menschliches Versagen, unangemessene Notfallpläne und mangelhafte Kommunikation. Die EU muss die Lehren aus Fukushima ziehen, um das Risiko von Nuklearstörfällen in Europa noch weiter zu verringern.
Infolge des Unfalls von Fukushima wurden ungeheure Anstrengungen zur Überprüfung der Sicherheit der kerntechnischen Anlagen in Europa und weltweit unternommen. Dabei wurden Maßnahmen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ergriffen.
In der EU kam der Europäische Rat im März 2011 zu folgendem Schluss: „Die Sicherheit aller kerntechnischen Anlagen der EU sollte mittels einer umfassenden und transparenten Risiko- und Sicherheitsbewertung („Stresstest“) überprüft werden; die Gruppe der europäischen Aufsichtsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) und die Kommission werden ersucht, so rasch wie möglich in einem koordinierten Rahmen unter Berücksichtigung der Lehren aus dem Nuklearunfall in Japan und unter umfassender Einbeziehung der Mitgliedstaaten den Umfang dieser Tests festzulegen und die Durchführungsmodalitäten auszuarbeiten, wobei das vorhandene Fachwissen (insbesondere des Verbands der westeuropäischen Atomaufsichtsbehörden) umfassend zu nutzen ist; die Bewertungen werden von unabhängigen nationalen Behörden und im Wege der gegenseitigen Begutachtung durchgeführt; ihre Ergebnisse und alle erforderlichen Folgemaßnahmen, die ergriffen werden, sollten mit der Kommission und innerhalb der ENSREG ausgetauscht und veröffentlicht werden.“ Der Europäische Rat beauftragte die Kommission zudem, die Nachbarländer der EU zur Teilnahme an den Stresstests aufzufordern, „den bestehenden Rahmen der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Sicherheit kerntechnischer Anlagen [zu] überprüfen“ und „bis Ende 2011 alle erforderlichen Verbesserungen“ vorzuschlagen.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen den Anlagenbetreibern, den Atomaufsichtsbehörden und der Kommission machten es möglich, 2011 und 2012 Stresstests durchzuführen. Mit dem vorliegenden Bericht kann die Kommission nun dem Auftrag des Europäischen Rates gerecht werden. Er enthält die Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Kommission auf der Grundlage der Stresstests und damit verbundener Tätigkeiten. Auch die internationale Dimension der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr wird angesprochen, und es wird dargelegt, wie der EU-Rechts- und Aufsichtsrahmen für nukleare Sicherheit verbessert werden kann. Dabei wird auf deren dynamischen Charakter verwiesen: Ein höheres Maß an nuklearer Sicherheit kann nicht mit einmaligen Maßnahmen erreicht werden, die Sicherheit muss fortlaufend überprüft und die Maßnahmen müssen auf den neuesten Stand gebracht werden. Vor allem werden in der Mitteilung alle Bereiche der Überprüfung zusammengeführt, mit dem Ziel, legislative, nicht legislative und projektbezogene Vorschläge zu erarbeiten. Mit all diesen Maßnahmen sollen die technische Sicherheit der Anlagen und die diesbezügliche Gesetzgebung und Aufsicht auf EU-Ebene und nationaler Ebene verbessert und die EU-Grundsätze im Bereich der nuklearen Sicherheit und der Gefahrenabwehr auf internationaler Ebene verbreitet werden.
Technische Einzelheiten der Ergebnisse sowie die Vorgehensweise bei den Stresstests sind der beigefügten Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen zu entnehmen.
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SCHLUSSFOLGERUNGEN UND WEITERE SCHRITTE
Die EU-Stresstests der kerntechnischen Anlagen waren hinsichtlich Umfang, Kooperation und Engagement aller beteiligten Parteien ein völlig neuartiges Vorhaben. Sie wurden weltweit entweder als Grundlage oder als Benchmark für die sicherheitstechnische Bewertung von Kernkraftwerken herangezogen. Die Tatsache, dass sämtliche sicherheitsrelevanten Berichte öffentlich zugänglich waren und auch Länder ohne eigene Kernenergienutzung mitwirkten, hat die Tests zu einem Beispiel für Transparenz werden lassen.
Die Stresstests sind inzwischen abgeschlossen. Ihre Folgemaßnahmen sollten jedoch nicht als einmaliges Unterfangen angesehen werden, sondern als ein fortlaufender Prozess zur Verbesserung der nuklearen Sicherheit in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Aufsichtsbehörden im Rahmen der ENSREG und der IAEO. Die EU muss auf die Entwicklung eines umfassenden europäischen Sicherheitskonzepts hinwirken: Dies beinhaltet die Überarbeitung der Euratom-Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit, ergänzt durch gesetzgeberische und sonstige Instrumente zur atomrechtlichen Haftung wie auch zur Notfallvorsorge und -bekämpfung. Darüber hinaus sollte sie auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr im Nuklearbereich Schritte unternehmen. Auf diese Weise können die Bürger in der gesamten EU darauf vertrauen, dass die in der EU erzeugte Kernkraft den strengsten sicherheitstechnischen Auflagen der Welt unterliegt.
Die Stresstests und die damit verbundenen Tätigkeiten sind für die EU und die Aufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten eine wichtige Errungenschaft, die zu konkreten Ergebnissen geführt hat:
• Für die Kraftwerke in allen Teilnehmerländern wurden bedeutende, konkrete Verbesserungen ausgewiesen, die zurzeit verwirklicht oder geplant werden.
• Es wurden Schwachstellen bei den Rahmen und Verfahren sowie Lücken in den gesetzlichen Regelungen ermittelt. Entsprechende Verbesserungsvorschläge sind bereits in Planung.
• Erste Verbindungen wurden aufgebaut zwischen den Behörden, die mit der technischen Sicherheit befasst sind, und denen, die mit der Gefahrenabwehr zu tun haben. Ein besserer Dialog zwischen diesen beiden Seiten zu Themen, die an der Schnittstelle von Sicherheit und Gefahrenabwehr liegen, ist entscheidend, um den Bedenken der Bürger gerecht zu werden.
Damit sich an die Stresstests angemessene Folgemaßnahmen anschließen, unternimmt die Kommission folgende Schritte:
• Sie ersucht den Europäischen Rat, die Mitgliedstaaten zu verpflichten und an die mitwirkenden Drittländer zu appellieren, die Empfehlungen der Stresstests zügig umzusetzen. Die Kommission wird bei den Folgemaßnahmen des Stresstest-Verfahrens für Offenheit und Transparenz sorgen, wird aber bei der derzeitigen Rechtslage rechtlich nicht für die konkrete Sicherheitsbewertung von KKW zuständig sein. Sie schlägt vor, dass der Europäische Rat auf der Grundlage eines konsolidierten Berichts der Kommission, der in enger Zusammenarbeit mit der ENSREG abgefasst wird, bis Juni 2014 den Stand der Umsetzung der Empfehlungen prüft. Sie ersucht die Mitgliedstaaten, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um sämtliche Stresstestempfehlungen gemäß dem Zeitplan des ENSREG-Aktionsplans umzusetzen. Dabei besteht das Ziel darin, dass der Großteil der geforderten sicherheitstechnischen Verbesserungen bis 2015 umgesetzt wird.
• Sie wird eine ehrgeizige Überarbeitung der EU-Richtlinie über nukleare Sicherheit vorbereiten, die sie dem Europäischen Parlament und dem Rat spätestens Anfang 2013 nach Anhörung der wissenschaftlichen und technischen Sachverständigen der Mitgliedstaaten – wie in Artikel 31 des Euratom-Vertrags vorgesehen - vorlegen wird. Zurzeit wird erwogen, 2013 einen weiteren Vorschlag über Versicherung und Haftung im Nuklearbereich vorzulegen; Gleiches gilt für den Vorschlag über Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln.
• Sie wird erkunden, mit welchen Vorschlägen im Euratom-Rahmenprogramm „Horizont 2020“ der Austausch von Personal des Nuklearbereichs zwischen den Mitgliedstaten gefördert werden könnte.
• Sie wird dem Rat vorschlagen, ihr ein Mandat zur aktiven Teilnahme an der Arbeitsgruppe über Effektivität und Transparenz im Rahmen der IAEO zu erteilen; dabei wird sie sich für Verbesserungen des Übereinkommens über nukleare Sicherheit einsetzen und einen gemeinsamen europäischen Vorschlag für die nächste Überprüfungstagung im März 2014 vorbereiten. Sie wird ferner den laufenden Dialog mit anderen Länden fortführen, um größtmögliches Einvernehmen über die europäischen Vorschläge zu erreichen.
• Sie wird weiterhin wissenschaftliche Tätigkeiten fördern, mit denen eine weitere Harmonisierung der Bewertungen und Methoden auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit in der EU angestrebt wird.
• Sie wird weiterhin zum Ausbau der Gefahrenabwehr im Nuklearbereich beitragen und dabei auf vorhandenen Arbeiten zu CBRN aufbauen; dazu wird sie bei Bedarf auf eine verstärkte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Organe und Einrichtungen der EU zurückgreifen sowie auf die Instrumente der außenpolitischen Zusammenarbeit in enger Kooperation mit dem EAD.
Den vollständigen Bericht finden Sie hier.