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»Familienzusammenführung ist wichtiger als Deutschkenntnisse«

Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu den Pflicht-Deutschtests beim Nachzug türkischer Ehegatten in die BRD, 10.7.2014

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Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine 1970 in der Türkei geborene und dort wohnende türkische Staatsangehörige. Sie begehrt die Erteilung eines Visums zum Zweck des Familiennachzugs zu ihrem 1964 geborenen Ehemann, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist und seit 1998 in Deutschland lebt.

18      Seit 2002 verfügte Herr Dogan über eine Aufenthaltserlaubnis, inzwischen besitzt er eine Niederlassungserlaubnis. Er ist Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Mehrheitsgesellschafter er ist. Diese Tätigkeit dauert bis zum heutigen Tag fort.

19      Am 18. Januar 2011 beantragte Frau Dogan bei der Deutschen Botschaft in Ankara (Türkei) die Erteilung eines Visums zum Ehegatten- bzw. Kindernachzug für sich und zunächst zwei ihrer Kinder. Sie reichte hierfür u. a. ein Zeugnis des Goethe-Instituts über einen am 28. September 2010 von ihr auf dem Niveau A 1 absolvierten Sprachtest ein, wonach sie den Test mit „ausreichend“ (62 von 100 Punkten) bestanden habe. Ihre Leistungen im schriftlichen Teil wurden mit 14,11 von 25 möglichen Punkten bewertet.

20      Der Deutschen Botschaft zufolge ist die Klägerin des Ausgangsverfahrens jedoch Analphabetin. Sie habe den Test dadurch bestanden, dass sie in dem Multiple-Choice-Fragebogen bei den verschiedenen Antwortmöglichkeiten wahllos Antworten angekreuzt habe; die vorformulierten drei Sätze habe sie auswendig gelernt und wiedergegeben.

21      Wegen des fehlenden Nachweises deutscher Sprachkenntnisse lehnte die Deutsche Botschaft den Antrag von Frau Dogan mit Bescheid vom 23. März 2011 ab. Diesen Bescheid griff die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht an, sondern stellte am 26. Juli 2011 einen neuen Antrag auf Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung nur für sich, den die Botschaft mit Bescheid vom 31. Oktober 2011 erneut ablehnte.

22      Auf die hiergegen anwaltlich erhobene Remonstration vom 15. November 2011 hob die Deutsche Botschaft in Ankara den Ausgangsbescheid auf und ersetzte ihn durch den ebenfalls ablehnenden Remonstrationsbescheid vom 24. Januar 2012 mit der Begründung, die Klägerin des Ausgangsverfahrens verfüge nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse, weil sie Analphabetin sei.

23      Frau Dogan ist der Auffassung, sie verfüge über die geforderten Sprachkenntnisse, und im Übrigen verstoße der Nachweis deutscher Sprachkenntnisse gegen das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot. Sie erhob daher gegen den Bescheid vom 24. Januar 2012 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin.

24      In diesem Kontext hat das Verwaltungsgericht Berlin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen einer nach Inkrafttreten der vorgenannten Bestimmungen erstmals eingeführten Regelung des nationalen Rechts entgegen, mit der die erstmalige Einreise eines Familienangehörigen eines türkischen Staatsangehörigen, der die Rechtsstellung nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls genießt, in die Bundesrepublik Deutschland davon abhängig gemacht wird, dass der Familienangehörige vor der Einreise nachweist, sich in einfacher Art und Weise in deutscher Sprache verständigen zu können?

2.      Steht Art. 7 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86 der in Frage 1 bezeichneten Regelung des nationalen Rechts entgegen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

25      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.

26      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nach ständiger Rechtsprechung allgemein die Einführung neuer Maßnahmen verbietet, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn galten, als das Zusatzprotokoll in Bezug auf den betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat (Urteil Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Es ist auch anerkannt worden, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem der Rechtsakt, dessen Bestandteil diese Bestimmung ist, im Aufnahmemitgliedstaat in Kraft getreten ist, neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Dienstleistungsfreiheit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die dort von diesen wirtschaftlichen Freiheiten Gebrauch machen wollen (Urteil Oguz, C‑186/10, EU:C:2011:509, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Schließlich kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Stillhalteklausel, sei es unter Anknüpfung an die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr, nur im Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt betreffen (Urteil Demirkan, C‑221/11, EU:C:2013:583, Rn. 55).

29      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Bestimmung nach dem 1. Januar 1973, dem Tag, an dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eingeführt wurde und dass sie die Voraussetzungen, die vorher für die Aufnahme der Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden Ausländern im Rahmen der Familienzusammenführung galten, verschärft und eine solche Zusammenführung folglich erschwert.

30      Der Vorlageentscheidung ist außerdem zu entnehmen, dass Frau Dogan nicht in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen will, um dort von dem freien Dienstleistungsverkehr oder der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, sondern um zu ihrem dort wohnenden Ehemann zu ziehen und mit ihm ein Familienleben zu führen.

31      Schließlich ergibt sich aus der Vorlageentscheidung auch, dass Herr Dogan ein türkischer Staatsangehöriger ist, der seit 1998 in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnt und als Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Mehrheitsgesellschafter er ist, über Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil Asscher, C‑107/94, EU:C:1996:251, Rn. 26). Die Situation von Herrn Dogan fällt somit unter die Niederlassungsfreiheit.

32      Daher ist im Ausgangsverfahren die Frage der Vereinbarkeit der fraglichen nationalen Bestimmung mit der Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls im Hinblick auf die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch Herrn Dogan zu analysieren.

33      Es ist deshalb zu prüfen, ob im Rahmen der Familienzusammenführung die Einführung einer neuen Regelung, mit der die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten von in einem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen im Vergleich zu denjenigen verschärft werden, die galten, als das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Niederlassungsfreiheit dieser türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellen kann.

34      Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass die Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt (vgl. Urteil Dülger, C‑451/11, EU:C:2012:504, Rn. 42).

35      Auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann.

36      Daher stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dar.

37      Schließlich ist festzustellen, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, verboten ist, sofern sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. entsprechend Urteil Demir, C‑225/12, EU:C:2013:725, Rn. 40).

38      Auch wenn man davon ausgeht, dass die von der deutschen Regierung angeführten Gründe – die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen und die Förderung der Integration – zwingende Gründe des Allgemeininteresses darstellen können, geht eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist, da der fehlende Nachweis des Erwerbs hinreichender Sprachkenntnisse automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung führt, ohne dass besondere Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.

39      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben.

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Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 über den Abschluss des Zusatzprotokolls und des Finanzprotokolls, die am 23. November 1970 unterzeichnet wurden und dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei als Anhänge beigefügt sind, und über die zu deren Inkrafttreten zu treffenden Maßnahmen im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltene Stillhalteklausel einer Regelung des nationalen Rechts entgegensteht, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zweck der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreisen wollen, vor der Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben. 

Das vollständige Urteil finden Sie hier.