Dokumente zum Zeitgeschehen

»Für ein Europa, das Wohlstand für alle schafft«

Aufruf von Hans Eichel, Jürgen Habermas, Roland Koch, Friedrich Merz, Bert Rürup und Brigitte Zypries, 21.10.2018

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach 55 Millionen Toten, nach Jahrhunderten europäischer Kriege der Fürsten und der Nationalstaaten war den Menschen in Europa und den Regierungen endgültig klar: Nur die Vereinigung Europas kann diesen Irrsinn beenden.
Diesen Gedanken hatte schon Immanuel Kant in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“ hundertfünfzig Jahre früher vorausgedacht. Nun endlich begann man, ihn in die Tat umzusetzen. Der Gemeinsame Markt, die Europäische Union, eine gemeinsame Währung entstanden. Diktaturen wurden gestürzt, Demokratie setzte sich überall durch.

Reisefreiheit in einem Europa ohne Binnengrenzen gilt jetzt für alle: Alle Arbeitnehmer können überall in Europa arbeiten, jeder Unternehmer kann überall Unternehmen gründen, alle Waren können überall zollfrei gehandelt, Dienstleistungen überall angeboten werden. Junge Menschen können überall ihre Ausbildung machen, an allen Universitäten Europas studieren, sie können – wie wir alle – die kulturelle Vielfalt Europas und auch die ihr zugrunde liegenden gemeinsamen Werte und Traditionen erleben.
Und 73 Jahre Frieden, das gab es nie in den Jahrhunderten zuvor. Das alles ist Europa, viel mehr als nur ein ökonomisches Projekt, ein kulturelles Projekt, ein zivilisatorischer Fortschritt, um den uns die ganze Welt beneidet.
Das alles ist, wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg, in Gefahr: Im Innern Europas breitet sich wieder Nationalismus aus und Egoismus ist die vorherrschende Haltung – als vergäßen wir gerade wieder alles, was die vorige Generation aus der Geschichte gelernt hatte. Von außen stellen Trump, Russland und China Europas Einheit, unsere Bereitschaft, gemeinsam für unsere Werte einzustehen, unsere Lebensweise zu verteidigen, immer härter auf die Probe.
Darauf kann es nur eine Antwort geben: Solidarität und Kampf gegen Nationalismus und Egoismus nach innen und Einigkeit, gemeinsame Souveränität nach außen. Und diese Antwort muss jetzt und überall gegeben werden, von den Bürgern Europas, von jedem von uns. Allein als Deutsche, allein als Franzosen, als Italiener, Polen sind wir zu schwach, nur gemeinsam können wir uns im 21. Jahrhundert behaupten.
Wir wollen ein Europa, das unsere Art zu leben schützt, ein Europa, das Wohlstand für alle schafft, ein Europa der Demokratie und der Menschenrechte, ein Europa des Friedens und der globalen Solidarität im Kampf für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Jetzt müssen wir große Schritte gehen, weiteres Durchwursteln von Krise zu Krise bringt alles in Gefahr, was wir bisher erreicht haben.

(...)

Die Euro-Zone, Kern und fortgeschrittenster Teil der europäischen Einigung, ist aber nicht krisenfest. Das wissen alle. Ein weiteres Durchwursteln ist nicht zu verantworten, die nächste Finanzkrise wird die Euro-Zone dann womöglich nicht überleben. Und das würde Europa auch in allen anderen Bereichen sehr weit zurückwerfen.

Eine gemeinsame Währung bringt Vorteile für alle: Sie fördert den Austausch über alle Binnengrenzen hinweg in allen Bereichen. Sie bewahrt vor spekulativen Angriffen, weil sie einen großen und starken Wirtschaftsraum repräsentiert. Eine gemeinsame Währung erfordert von allen, bei der Lohn- und Preisfindung nicht mehr national, sondern europäisch zu denken.

(...)

Wir fordern die Bundesregierung auf, jetzt mutig voranzugehen, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, um die Wirtschafts- und Währungsunion krisenfest zu machen. Ein weiteres Auseinanderdriften in der Euro-Zone muss verhindert, eine Politik, die zu mehr Konvergenz führt, muss eingeleitet werden.

Eine Haushaltspolitik für die Euro-Zone, die dem Zusammenhalt und der Zukunftsfähigkeit des Währungsgebietes dient, und eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik bis hin zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung sind jetzt nötig, um glaubhaft zu machen, dass Europa auch im Innern zusammenhält.

Dazu müssen wir zu echten Kompromissen bereit sein, auch zu deutschen finanziellen Beiträgen. Die Gründungsväter Europas, zu denen auch Konrad Adenauer gehörte, wussten, dass die europäische Einigung nur gelingen kann, wenn die Wohlstandsunterschiede nicht zu groß sind.
 

Den vollständigen Aufruf finden Sie hier.