Dokumente zum Zeitgeschehen

»Geschichte als Argument für Grenzrevisionen stellt die völkerrechtlichen Grundsätze der europäischen Friedensordnung in Frage«

Stellungnahme des Verbands der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. (VOH), 22.2.2022

Am 21. Februar 2022 hat der Präsident der Russländischen Föderation Vladimir Putin die selbsternannten „Volksrepubliken“ von Luhansk und Donezk anerkannt und die schon seit Wochen an der Grenze aufmarschierten Truppen Russlands dorthin in Marsch gesetzt. Nach der Annexion der Krim 2014 handelt es sich um eine neuerliche Verletzung der europäischen Friedensordnung. In einer einstündigen Rede hat der russische Präsident dabei sein Geschichtsbild erläutert und die Beweggründe seiner aktuellen Ukrainepolitik offengelegt.

Putin nahm sich eine geschlagene Stunde Zeit, um über die Russische Revolution 1917, die Gründung der Sowjetunion, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, das Ende der Sowjetunion und die jüngste Zeitgeschichte seit 1991 zu sprechen. Einen roten Faden seiner emotional aufgewühlten Rede stellt das russisch-ukrainische Verhältnis dar. Wobei Putin dies nicht so formulieren würde, da seine Rede auf die Kernaussage hinauslief, der Ukraine das Existenzrecht als Nation und Staat abzusprechen. Es würde zu weit führen, hier alle historischen Fehler der Rede zu besprechen. Doch die Konstituierung der ukrainischen Nation als eine fixe Idee Lenins abzutun, steht in einem krassen Widerspruch zu allen Erkenntnissen, die Historikerinnen und Historiker sowohl in Russland und der Ukraine als auch Europa und den USA in den vergangenen zwei Jahrhunderten zusammengetragen haben. Die Ukraine hat ihren festen Ort in der Geschichte der Nations- und Staatsbildungen in Europa. Es lässt auch erschreckt aufhorchen, wenn Putin grundsätzlich Nationsbildungen und Staatsgründungen in ehemaligen Regionen des zusammengebrochenen Zarenreiches am Ende und nach dem Ersten Weltkrieg als eine fehlerhafte Laune der Geschichte abtut.

Seit dem Beginn seiner vierten Präsidentschaft 2018 hat Putin sich wiederholt in langen Texten zu historischen Fragen geäußert, zunächst zum Zweiten Weltkrieg und sodann zur Geschichte Russlands und der Ukraine. Der Rollenwechsel vom Staatsoberhaupt zum Historiker, der angeblich Archivdokumente studiert und in Anspruch nimmt, in ihnen neue geschichtswissenschaftliche Erkenntnis zu finden, war von Anfang an befremdlich. Besorgniserregend ist die jüngste Entwicklung Putins, wenn der selbsternannte Historiker einem Nachbarland die historische Existenzberechtigung abspricht, seine Truppen an den Grenzen des Nachbarlandes konzentriert und nach der Krim nun mit Luhansk und Donezk weitere Regionen der Ukraine völkerrechtswidrig aus dem Land herauslöst. Putin beansprucht nicht mehr nur, Geschichte zu machen, sondern auch Geschichte vermeintlich wissenschaftlich zu schreiben, die in einem Zirkelschluss wiederum seine Politik anleitet. In seiner gestrigen Rede gab er sich als Politiker zu erkennen, der die Diplomatie zur Seite gelegt hat, um offenbar in einer historischen Mission aufzugehen, die ihn obsessiv zu beschäftigen scheint.

Wir appellieren, die Erforschung der Geschichte Historikerinnen und Historikern zu überlassen und die Vergangenheit nicht für die Legitimation von Grenzverletzungen, Annexion und Krieg zu missbrauchen. Geschichte als Argument für Grenzrevisionen stellt die völkerrechtlichen Grundsätze der europäischen Friedensordnung in Frage, auf die Europa sich in der OSZE, zu der auch Russland gehört, geeinigt hat.

Die Stellungnahme finden Sie hier.