Studie der Universität Düsseldorf zu den Erfahrungen und Zielen von Migranten im deutschen Bildungssystem, 24.3.2015
Der oft bestätigte Befund der Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund verbindet sich in der öffentlichen Wahrnehmung allzu häufig mit einem pauschalen Urteil über das vermeintlich fehlende Bildungsinteresse in Migrantenfamilien. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bildung, Milieu & Migration“ zeigen erstmals, wie sehr die stark ausgeprägten Bildungsaspirationen in den unterschiedlichen Lebenswelten aller Migrantenmilieus ein Potenzial für gelingende Bildungswege darstellen. Ein Potenzial, das häufig nicht ausgeschöpft werden kann, weil zu viele Barrieren entgegenstehen. Der Aufbruch in eine interkulturell sensibilisierte Schule hat zwar hier und dort begonnen. Vielschichtige strukturelle Probleme, organisatorische Hürden und mentale Blockaden erschweren den Weg zu besseren Bildungserfolgen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund jedoch noch immer. In den auf die unterschiedlichen Milieus fokussierten Bildungsprofilen in dieser Studie werden konkrete Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Bildungspraxis in Richtung interkulturelle Öffnung sichtbar.
Längst ist deutlich geworden, dass es „die“ Migranten als einheitliche gesellschaftliche Gruppe nicht gibt. Wir wissen zum Beispiel, dass einzelne Herkunftsgruppen sogar deutlich bessere Schulleistungen und Bildungsabschlüsse aufweisen als der Durchschnitt der Nichtmigranten. Dies gilt nicht nur für viele aus EU-Staaten zugewanderte Familien, sondern zum Beispiel auch für Familien, die aus Vietnam/Asien nach Deutschland gekommen sind. Aber auch die einst aus den klassischen Herkunftsländern der „Gastarbeiter“ oder als Spätaussiedler nach Deutschland gekommenen Menschen bilden längst keine homogene Gruppe mehr – wenn sie denn jemals eine einheitliche Lebenswelt verkörpert haben. Genau hier setzt das Forschungsprojekt „Bildung, Milieu & Migration“ an und nimmt die unterschiedlichen Lebensweisen und Alltagskulturen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland systematisch in den Blick.
In Abgrenzung zu den vorherrschenden oft defizitorientierten Forschungsansätzen stellt das Projekt vor allem auch die spezifischen Chancen und Ressourcen der Menschen mit Migrationshintergrund in den Fokus – etwa aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit, hoher Aufstiegsambitionen, ausgeprägter Leistungsorientierung oder ihrer Flexibilität und Frustrationstoleranz.
Im zweistufigen Forschungsdesign wurden die Bildungsaspirationen, -ängste und -barrieren der Migranten zunächst mit Hilfe von problemzentrierten Interviews exploriert und anschließend auf einer repräsentativen Basis mit 1.700 telefonischen Interviews quantifiziert. Eines der Kernergebnisse ist, dass Eltern mit Migrationshintergrund – entgegen der landläufigen Meinung – hohe Bildungsziele formulieren und ihre Kinder bestmöglich unterstützen möchten. Die für Hilfen bei der Bewältigung des Schulalltags aufgewendete Zeit geben über zwei Drittel der Eltern mit mehr als einer halben Stunde täglich an. 72 Prozent aller befragten Eltern sagen, dass sie ihre Kinder bei den Hausaufgaben immer oder häufig unterstützen. 84 Prozent berichten, dass sie immer oder häufig Elternsprechtage besuchen; häufig oder regelmäßig an Elternabenden nehmen 87 Prozent teil.
Den hohen Bildungsaspirationen von Migranten stehen zahlreiche Barrieren entgegen, mit denen Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern tagtäglich zu kämpfen haben. Deutlich wird dies insbesondere an der noch immer mangelnden interkulturellen Öffnung von Schulen in Deutschland. So wünschen sich 88 Prozent der befragten Eltern die Wertschätzung kultureller Vielfalt an Schulen, nur 66 Prozent geben allerdings an, dass sie dies im Schulalltag ihres Kindes auch erleben. Einen besonders hohen Stellenwert hat aus Sicht der Eltern die interkulturelle Kompetenz der Lehrkräfte, die von 92 Prozent der Befragten als sehr wichtig bzw. wichtig erachtet wird. Lediglich 60 Prozent geben jedoch an, dass sie dies an der Schule ihrer Kinder auch wahrnehmen. Die Studienergebnisse zeichnen hier allerdings ein differenziertes Bild. Vor allem aus den qualitativen Interviews wird deutlich, dass milieuübergreifend Bildungswege entscheidend von einzelnen Lehrkräften beeinflusst werden. So führen falsche Schulempfehlungen zum Beispiel zu Bildungsumwegen, die für die betroffenen Schülerinnen und Schüler oft „verlorene Jahre“ bedeuten. Immerhin 45 Prozent der befragten Erwachsenen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, sagen, dass sie durch zusätzliche Schulwechsel ein oder mehrere Jahre verloren haben. Umgekehrt berichten viele erfolgreiche Migranten von Lehrern, die ihre Fähigkeiten erkannt und sie umfassend und gewissermaßen extracurricular gefördert haben.
Das Milieumodell, das der Studie zugrunde liegt, unterscheidet gesellschaftliche Teilgruppen vornehmlich in Bezug auf ihre Wertorientierung, Alltagsästhetik und soziale Lage (Wippermann/Flaig 2009). In den acht Migrantenmilieus zeigen sich deutliche Unterschiede in den Bildungsmotiven: vom Wunsch nach Zugehörigkeit zur Mitte Deutschlands im Adaptiv-bürgerlichen Milieu, über die Wahrung traditioneller Werte im Religiös-verwurzelten Milieu bis hin zum Streben nach Selbstverwirklichung im Sinne eines humanistischen Bildungsideals im Intellektuell-kosmopolitischen Milieu.
Über alle Milieus hinweg wird jedoch der Wunsch geäußert, dass die Kinder „es einmal besser haben sollen“, womit in der Regel das Streben nach einer guten Bildung verbunden ist. Allerdings unterscheiden sich die Ressourcen, die Eltern hierfür aufbringen können, entscheidend milieuspezifisch. Während sich im Religiös-verwurzelten Milieu die Unterstützung der Kinder häufig auf die Frage nach den erledigten Hausaufgaben beschränkt, werden in den Milieus der bürgerlichen Mitte sämtliche Möglichkeiten der elterlichen Hilfe von der Hausaufgabenbetreuung über gemeinsames Lernen bis hin zur Begleitung auf Klassenfahrten ausgeschöpft. Im Hedonistisch-subkulturellen Milieu überlässt man die Gestaltung der Schullaufbahn weitgehend den Kindern selbst. Im gut gebildeten Intellektuell-kosmopolitischen Milieu wird besonders sensibel, aber auch selbstbewusst auf die Bildungsbenachteiligung von Migranten reagiert und die Milieuangehörigen setzen sich engagiert gegen Diskriminierung ein.
Die Beherrschung der deutschen Sprache gilt in allen Milieus als wichtige Grundvoraussetzung für das Leben in Deutschland. Andererseits wird Mehrsprachigkeit in allen Milieus befürwortet, lediglich die Gewichtung der einzelnen Sprachen variiert. Während man im Religiös-verwurzelten Milieu besonderen Wert auf die Herkunftssprache legt, ist in den Milieus der bürgerlichen Mitte Deutsch höher gewichtet als die Herkunftssprache. Unterrichtsangebote in der Herkunftssprache werden dementsprechend in den Milieus sehr unterschiedlich befürwortet: in den eher traditionell orientierten Milieus deutlich stärker als in den moderneren – interessanterweise im Religiös-verwurzelten Milieu wieder weniger stark. Hier hat man einerseits die Gewissheit, die Sprache noch direkt selbst vermitteln zu können, und will andererseits möglicherweise etwas so Wichtiges nicht deutschen Institutionen überlassen. In den ambitionierten Migrantenmilieus der Intellektuellen Kosmopoliten und der Multikulturellen Performer wird darüber hinaus der Stellenwert weiterer Fremdsprachen betont. Insbesondere Eltern der zweiten und dritten Migrantengeneration wünschen sich, die eigenen Kinder mehrsprachig zu erziehen, sehen aber zahlreiche Barrieren, vor allem eigene Defizite in der Herkunftssprache und die Angst, den Kindern Falsches beizubringen.
Die Studie dokumentiert auch Facetten der heute von vielen Migranten im Alltag als selbstverständlich gelebten kulturellen Vielfalt. Nicht nur in hybriden Identitätskonzepten (Foroutan 2010), sondern teilweise auch im Stilmix der dokumentierten Wohnwelten und nicht zuletzt in den Kühlschrankinhalten bilden sich neue postmigrantische Lebensformen ab. Diese schaffen jedoch zusätzliche Herausforderungen. Natürliche Mehrsprachigkeit zum Beispiel stellt sich gerade aus der Sicht gut integrierter Migranten als neues Erziehungsproblem dar: Man kann den Kindern die eigene Herkunftssprache nicht mehr zuverlässig beibringen und empfindet das als großen Mangel. Hier eröffnen sich neue Bedarfslagen – gerade auch für Elternbildung und Weiterbildung. Denn der Unterstützungsbedarf wird deutlich artikuliert.
Trotz fast durchgängig hoher Bildungsaspirationen in Migrantenfamilien fehlen insbesondere in den sozial niedriger angesiedelten Milieus oft die nötigen Ressourcen. Schon der Informationsstand über das deutsche Bildungssystem ist angesichts dessen Besonderheiten wie der Dreigliedrigkeit oder dem dualen System der Berufsbildung oft unzureichend. Auch können viele Eltern nicht auf einen eigenen Bildungshintergrund zurückgreifen. Schließlich fehlen finanzielle Mittel, um zum Beispiel die heute fast obligatorischen Nachhilfestunden zu finanzieren.
In der Studie werden einerseits die Ursachen und Wirkzusammenhänge der mangelnden Bildungsbeteiligung aus der Perspektive der Migranten intensiv beleuchtet, andererseits werden Optimierungsbedarfe und konkrete Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Situation aufgezeigt. Die überwiegende Mehrheit der Migranteneltern will sich aktiv für die Schullaufbahn ihrer Kinder einsetzen. Auf Elternbildungsangebote angesprochen, werden diese von fast zwei Dritteln der befragten Eltern begrüßt. Inhaltlich reicht die Bandbreite der gewünschten Themen von Informationen über das deutsche Bildungssystem über Tipps für den Übergang Schule/Beruf bis hin zu Informationen über Fördermöglichkeiten für besonders begabte Kinder, zum Beispiel in Form von Stipendien. Hier zeigen sich besonders eklatante Lücken in den heute verfügbaren Angeboten: Die Wünsche und die erlebten Realitäten von Eltern bei der Beratung zu speziellen Förder- und Stipendienprogrammen für junge Migranten klaffen weit auseinander. 86 Prozent der Eltern wünschen sich solche Angebote, aber nur 20 Prozent geben an, dass diese an der Schule ihrer Kinder vorhanden sind. Bei der Ausgestaltung der Elternbildungsangebote wird insbesondere in den Milieus der bürgerlichen Mitte und in den ambitionierten Milieus Wert darauf gelegt, dass die Eltern als „Experten“ an der Planung und Durchführung beteiligt werden. Eltern aus den traditionelleren Milieus mit einer niedrigeren sozialen Lage wünschen sich praktische Erziehungstipps, gerne auch in der Herkunftssprache. Diese könnten auch in Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen angeboten werden.
Konkret lassen sich die Befunde der vorliegenden Studie auf folgende Kernaussagen verdichten, aus denen sich unmittelbar Handlungsempfehlungen ergeben:
Bildungsoptimismus aufgreifen
Es gibt bei den Eltern mit Migrationshintergrund eine grundlegende hohe Wertschätzung von Bildung. Dies betrifft die eher auf Soft Skills und Charakterformung ausgerichtete Persönlichkeitsbildung ebenso wie den Bildungserfolg, gemessen in Abschlüssen und Zertifikaten. Am Ende einer erfolgreichen Bildungskarriere steht die Erwartung einer hohen Bildungsrendite – und damit die Hoffnung auf ein besseres, weniger entbehrungsreiches Leben für die Kinder. Vor diesem Hintergrund sollten die Bemühungen um aktive Bildungspartizipation der einzelnen Eltern mit Migrationshintergrund, aber auch der Elternverbände und der Migrantenselbstorganisationen verstärkt aktiv aufgegriffen werden.
Interkult urelle Öffnung von Bildungseinrichtungen realisieren
Es wird eine eklatante Diskrepanz zwischen der Erwartung interkultureller Sensibilität an Bildungseinrichtungen und der ernüchternden Schulrealität okumentiert. Gezielte Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund oder speziellen Deutschunterricht halten jeweils über 80 Prozent der Eltern für wichtig – aber an der Schule ihrer Kinder erlebt haben dies weniger als ein Drittel der Befragten. Auch zum Thema „Spezielle Informationsangebote für Eltern mit Migrationshintergrund“ tut sich eine Lücke von über 50 Prozent zwischen der betonten Wichtigkeit und dem vorgefundenen Status quo auf, die es in Zukunft aufzufüllen gilt.
Interkulturelle Elternbildung forcieren
Um den Kindern eine erfolgreiche Schullaufbahn zu ermöglichen, sind viele Migrantenfamilien zu großem Engagement und auch zu großen Opfern bereit. Allerdings reichen die verfügbaren Ressourcen durch begrenzte eigene Schulbildung, finanzielle Knappheit oder fehlende Kenntnisse über Mechanismen, Wege und Möglichkeiten im deutschen Bildungssystem oft nicht aus. Hier ist der Ausbau bestehender Beratungs- und Informationsangebote ebenso geboten wie die Entwicklung neuer, zielgruppenoptimierter Formate, die an den unterschiedlichen Alltagswelten differenziert ansetzen. Leitbild sollte dabei immer die kooperative Elternarbeit sein, d. h. das partnerschaftliche, gleichberechtigte Zusammenwirken
von Eltern und Lehrern.
Milieuspezifische Präferenzen und Ressourcen in der interkulturellen Elternbildung berücksichtigen
Die milieuspezifische Analyse dieser Studie ermöglicht die Konzeption und Umsetzung passgenauer Angebote in der Elternbildung. Gerade die ambitionierteren Migrantenmilieus wollen auch in ihrer eigenen Expertise zu den Themen Bildung und Erziehung ernst genommen werden. Hier bieten sich Formate des Austausches und Empowerments an. Auch besteht hier großes Interesse für das Thema Studienmöglichkeiten. In den traditionellen und sozial benachteiligten Milieus stoßen klassische Erziehungsratgeberthemen neben allgemeinen Schulinformationen auf stärkere Resonanz. Kurse in der Herkunftssprache wünschen sich viele traditionsverwurzelte Eltern sowie Eltern aus den prekären Milieus.
Interkulturelle Elternbildung zielgruppenadäquat kommunizieren
Interesse an schulnahen Bildungsangeboten für Eltern wird in allen Milieus der Migranten artikuliert. Die Schule wird gewissermaßen als der natürliche Ort und als erste Informationsquelle erlebt. Eltern mit Migrationshintergrund wünschen sich dabei explizit keine „Sonderbehandlung“, sondern Angebote, die sich an alle Eltern richten. Klassische Informationsmedien wie Broschüren oder Flyer stoßen auf eher geringes Interesse, wohingegen sich in den traditionellen Milieus über Migrantenselbstorganisationen, teilweise über Moscheevereine oder Kirchengemeinden und auch über Angebote der Schulen selbst Wege eröffnen. In den moderner orientierten Lebenswelten wird das Internet als Informations-, aber auch Austauschplattform präferiert.
Schulentwicklungsprozesse anstossen
Die heute noch mangelnde interkulturelle Öffnung der Schulen braucht bewusstes Engagement für ein Klima der Wertschätzung für kulturelle Vielfalt. Kulturelle Vielfalt in den Schulalltag zu integrieren bedeutet zum Beispiel Unterrichtsinhalte, Schulbücher, Mensen, Architektur, Feiern auf „monokulturelle“ Engführungen zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Es bedeutet, die Ressourcen der Eltern mit Migrationshintergrund bewusst zu nutzen und die Lehrkräfte für ihre zentrale Rolle für den Bildungsweg gerade der Schüler mit Migrationshintergrund zu sensibilisieren.
Die Bildungsadministration in die Pflicht nehmen
Schulverwaltung, Schulaufsicht, aber auch die Lehrerbildung sind gefordert, den nicht erst durch die vorliegende Studie beschriebenen Problemanzeigen und Barrieren wirksam zu begegnen. Die Erarbeitung neuer Unterrichtsmaterialien, das kontinuierliche Angebot einschlägiger Lehrerfortbildungen, die verstärkte Einstellung von Lehrkräften mit Migrationshintergrund, die Unterstützung und Vernetzung mit Migrantenselbstorganisationen in den verschiedenen Quartieren wären einige wichtige Maßnahmen.
Online-Informations - und Berat ungsangebote entwickeln
Flankierend zu Elternbildungsaktivitäten vor Ort könnten Online-Angebote zum Thema „Bildungsinformationen für Eltern“ wertvolle Informations- und Beratungsmöglichkeiten bereitstellen. Neben lokal angepassten Basisinformationen über Schulformen und Bildungswege können FAQ-Listen und Foren für den Austausch von Erfahrungen und mehrsprachige Informationen helfen, dass Migranten ihre Bildungsaspirationen besser umsetzen können. Für die moderneren Milieus bietet sich die Verknüpfung mit sozialen Medien und die Einbeziehung von Experten an. Generell können Online-Angebote mit der Präsentation von Vorbildern für den Bildungsaufstieg Eltern ebenso wie Kinder und Jugendliche motivieren und unterstützen.
Die vollständige Studie finden Sie hier.