Dokumente zum Zeitgeschehen

»Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz!«

Rede von Rozette Kats bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 27.1.2023

Ich habe den Holocaust als jüdisches Kind in Amsterdam überlebt. Aber wenn ich auf die Erfahrungen derjenigen höre, die als sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt wurden, erkenne ich wichtige Gemeinsamkeiten mit meinem eigenen Leben. Gestatten Sie mir, dass ich darum zunächst kurz von meinem eigenen Leben erzähle.

Am Vorabend meines sechsten Geburtstags nahm mich mein Pflegevater auf den Schoß und erklärte mir: „Rita - dein richtiger Name ist Rozette. Wir sind nicht deine wirklichen Eltern. Deine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, weil sie Juden waren.“ Ich verstand nicht, was meinen Eltern geschehen war. Ich verstand nicht, warum jemand sie hatte ermorden wollen. Und was bedeutete „jüdisch“? Unbewusst habe ich damals beschlossen: Wenn ich mich nur gut anpasse und nicht weiterfrage, wird mir schon nichts geschehen. Ich muss nur weiter die Maske des nicht-jüdischen Kindes tragen.

Im Grunde dauerte dieses Nicht-wissen-Wollen und dieses Verschweigen mehr als mein halbes Leben. Ich führte ein Doppelleben, was von niemandem bemerkt wurde. Und dieses Doppelleben machte mich krank.

Was ich als kleines Kind lernen musste, das mussten jedoch auch viele Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten vor - und leider auch nach - 1945 lernen: Denn es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen.
Und noch etwas habe ich verstanden: Das Versprechen „Nie wieder!“ meinte längst nicht alle Opfergruppen der Nationalsozialisten. Roma und Sinti mussten noch jahrzehntelang um Anerkennung kämpfen; das wurde gesagt. Und wiederum erst sehr spät wurde verstanden, dass zum Beispiel der Haftgrund „asozial“ eine Nazi-Definition war, die auch zur Verurteilung lesbischer Frauen missbraucht wurde.

Wenn Menschen in Kategorien von mehr oder weniger „wertvoll“ eingeteilt werden, wenn bestimmte Opfergruppen gar als weniger „wertvoll“ als andere angesehen werden, dann bedeutet das am Ende nur eins: dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt. Und leider bis heute weiter wirkt, wenn wir Gewalttaten gegen queere Menschen noch immer erleben müssen.

Ich wünsche mir für unsere Kinder, für alle Kinder dieser Welt, dass jede Form von Diskriminierung, aber im Extremen auch Kriege, wo auch immer in der Welt, nicht als normal empfunden werden müssen, sondern als schreckliche Abweichungen, die es zu überwinden gilt!

Die komplette Rede finden Sie hier.