Dokumente zum Zeitgeschehen

»Keine Lust auf Kinder«

Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zur Geburtenentwicklung in Deutschland, 14.12.2012

1. Demografischer Wandel und Geburtenentwicklung

Deutschland gehört zu den Ländern mit einem sehr niedrigen Geburtenniveau und einer schnellen Alterung. Auch deshalb ist der demografische Wandel zu einem Megathema geworden und intensiviert sich die Diskussion, wie ein Anstieg der Geburtenhäufigkeit erreicht werden könnte. Das langfristig niedrige Geburtenniveau ist von enormer gesellschaftspolitischer Bedeutung, weil es eine der Hauptursachen für das Schrumpfen und Altern der Bevölkerung darstellt. Insbesondere die sozialen Sicherungssysteme werden vor neue Herausforderungen gestellt. Berührt sind aber auch die Bildungssysteme, Unternehmen, Städte und Gemeinden, vor allem in ländlichen peripheren Regionen, und die öffentlichen Verwaltungen.

Der demografische Wandel hinterlässt inzwischen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens seine Spuren. Die Bewältigung seiner Folgen ist eine enorme Herausforderung, bietet aber auch die Chance zum Strukturumbau und zur Erschließung der Potentiale älterer Menschen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, beim ehrenamtlichen Engagement oder den intergenerationalen Unterstützungsleistungen innerhalb und außerhalb der Familie.

Mit dem Geburtenrückgang hat sich auch das Bild der Familie verändert. Auf vier grundlegende Trends, über die in dieser Broschüre ausführlich berichtet wird, ist hinzuweisen. Erstens sind Familien mit einem oder zwei Kindern gesellschaftliche Normalität geworden, größere Familien sind eine Seltenheit. Das finden wir insbesondere in Ostdeutschland. Zweitens bleibt zumindest in Westdeutschland eine Familiengründung immer häufiger völlig aus. Kinderlosigkeit ist ein prägendes Merkmal der demografischen Situation in Westdeutschland. Drittens haben sich die partnerschaftlichen Formen für das Zusammenleben mit Kindern verändert.

Der demografische Wandel hinterlässt inzwischen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens seine Spuren.

Das trifft bei einem generellen Bedeutungsrückgang der Ehe vor allem für den Osten zu. Viertens haben sich mit dem Geburtenrückgang auch die Generationenbeziehungen verändert, die für die Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels von herausragender Bedeutung sind. Insbesondere der Anstieg der Lebenserwartung hat zu einer verlängerten gemeinsamen Lebenszeit zwischen den Generationen geführt. Dieser Trend wird sich zukünftig aber nicht fortsetzen.

Der demografische Wandel ist ein vielschichtiger und komplexer Prozess. In seinem Kern stellt er die Veränderung demografischer Strukturen (Altersstruktur, Geschlechtsstruktur, Struktur der Lebensformen und Haushalte, regionale Bevölkerungsverteilung) durch veränderte demografische Verhaltensweisen (generatives Verhalten, Heirats- und Scheidungsverhalten, Gesundheitsverhalten, Mobilitätsverhalten) dar. Im Mittelpunkt stehen die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung. Das Altern der Bevölkerung hat im niedrigen Geburtenniveau, der hohen und steigenden Lebenserwartung und der gegenwärtig bestehenden Altersstruktur mit den geburtenstarken Jahrgängen aus den 1960er Jahren, die in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen werden, drei wesentliche Ursachen.

Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sieht in der Beschäftigung mit dem Thema Geburtenentwicklung eine seiner zentralen Aufgaben. Die Familie steht im Mittelpunkt der Demografiestrategie der Bundesregierung. Es geht darum, die Entscheidungen der Eltern für Kinder zu erleichtern, die Arbeitswelt familienfreundlicher werden zu lassen, die Bündelung biografischer Ereignisse um das 30. Lebensjahr zu entzerren, das Vereinbaren von Familien- und Erwerbsleben zu erleichtern und den Generationen besser zu ermöglichen, gegenseitige Solidaritätsleistungen zu erbringen. Ziel der Broschüre ist es, die Geburtenentwicklung in Deutschland im Kontext dieser Handlungsfelder zu analysieren und damit ein besseres Verständnis für die Fertilitätssituation zu wecken.

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8. Warum so wenig Kinder? Erklärungen

Deutschland ist, sieht man von einigen Ausnahmen zu Zeiten der DDR ab, bereits seit Mitte der 1970er Jahre ein Niedrig-Fertilitäts-Land. Kleine Familien sind zur Normalität geworden, große Familien bilden die Ausnahme. Nach 40 Jahren Geburtentief ist anzunehmen, dass sich dieses Verhaltensmuster verfestigt hat. Das anhaltend niedrige Geburtenniveau ist mit der Ausbildung spezifischer Paritätsmuster, vor allem der Ausbreitung der Kinderlosigkeit und dem Entstehen sozialstruktureller Differenzierungen einhergegangen.

Letztlich ist die deutsche Fertilitätssituation auf das besondere Zusammenwirken struktureller und kultureller Faktoren zurückzuführen. Ihr Einfluss auf das Geburtenverhalten in Deutschland lässt sich am besten anhand des Entstehens der unterschiedlichen Fertilitätsmuster in ost- und westdeutschen Bundesländern erklären. Für den Westen sind eine hohe Kinderlosigkeit vor allem bei den Hochqualifizierten und Alleinlebenden sowie eine enge Verbindung zwischen Ehe und Elternschaft typisch. Dagegen findet sich im Osten bei einer niedrigeren Kinderlosigkeit und einer weiteren Verbreitung der Ein-Kind-Familie eine stärkere Entkoppelung von Ehe und Elternschaft. Die strukturellen Unterschiede sind in dem besseren Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen für die unter Dreijährigen im Osten und damit im Zusammenhang stehend in der höheren Erwerbsbeteiligung ostdeutscher Mütter gegeben. Die kulturellen Unterschiede lassen sich mit der höheren Akzeptanz der frühkindlichen außerhäuslichen Kinderbetreuung und eines egalitären Geschlechterrollenmodells in den ostdeutschen Bundesländern beschreiben. Aussagen wie „Kinder, die den Großteil der Woche in einer Tagesstätte verbringen, werden mit einer größeren Wahrscheinlichkeit später im Leben Probleme haben.“ oder „Ein Vorschulkind wird darunter leiden, wenn seine Mutter arbeitet.“ finden im früheren Bundesgebiet eine wesentlich höhere Zustimmung.

Gut veranschaulichen kann man das Zusammenwirken kultureller und struktureller Faktoren an dem Entstehen von Kinderlosigkeit im Westen. Hochqualifizierte Frauen, die viel in ihre Ausbildung investiert haben und über eine starke Berufsorientierung verfügen, entscheiden sich aufgrund der ungünstigen Vereinbarkeitsbedingungen häufig gegen Kinder und für eine Erwerbstätigkeit. Dabei spielt ebenso eine Rolle, dass das Leitbild der „Guten Mutter“ im Westen über eine starke Präsenz verfügt. Die Mutter gehört zum Kind und es sollte bis zum dritten Lebensjahr nicht in Kindertagesstätten betreut werden, weil die Mutter erwerbstätig sein will. Wählen Frauen nicht diesen Weg, gelten sie in Westdeutschland schnell als „Rabenmütter“. In einer solchen Situation, in der weder das traditionelle Hausfrauenmodell noch die Erwerbstätigkeit mit Kindern als attraktiv erscheint, werden Entscheidungen gegen Kinder begünstigt.

In den ostdeutschen Bundesländern gehen günstigere Vereinbarkeitsbedingungen mit vereinbarkeitsorientierten Einstellungen einher und führen zu einer höheren Kinderbetreuungsquote bei den unter Dreijährigen und einer höheren Müttererwerbstätigkeit. Auf den Frauen lastet damit weniger der Entscheidungszwang zwischen der Mutterrolle als Hausfrau und der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit. Da Elternschaft und Erwerbstätigkeit sowohl durch die strukturellen Bedingungen als auch durch die Einstellungen begünstigt werden, ist in Ostdeutschland Kinderlosigkeit seltener anzutreffen.

Das Bestreben, Elternschaft und Familie zu vereinbaren, führt häufiger dazu, dass nur ein Kind geboren wird.

Hinzu kommt, dass in Ostdeutschland die häufiger vorkommenden unsicheren Perspektiven die familialen Kinderzahlen ebenfalls begrenzen.

Es existiert danach in beiden Regionen Deutschlands noch immer ein spezifisches Zusammenwirken struktureller und kultureller Faktoren mit besonderen Einflüssen auf die Geburtenentwicklung. Im Trend sind im Westen zwei Optionen für das generative Verhalten leitend. Zum einen der traditionelle Weg, der meist zu einem zeitlich begrenzten Ausstieg der Frau aus dem Erwerbsleben führt und sie auf die Hausfrauenrolle verweist. Dadurch lässt sich auch die für den Westen engere Verknüpfung von Ehe und Elternschaft erklären. Der andere Weg basiert auf der Entscheidung für Beruf und Erwerbstätigkeit und gegen Kinder. Eine dritte Option, Elternschaft und Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, ist vielfach noch schwierig umsetzbar.

Die geringe Akzeptanz außerhäuslicher Kinderbetreuung als kultureller Faktor und das begrenzte Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen als struktureller Faktor begünstigen in Westdeutschland die Entscheidung gegen Kinder. Aus der Ostperspektive gesehen, ist die Wahl der einen oder anderen Handlungsoption weniger zwingend vorgegeben, da das Vereinbaren sozial akzeptiert und prinzipiell möglich ist.

Die schwierigere ökomomische Lage der Familien in Ostdeutschland verhindert allerdings, dass oftmals mehr als ein Kind geboren wird.

Letztlich führen besondere kulturelle, strukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu ähnlich niedrigen durchschnittlichen Kinderzahlen, die aber auf der Basis unterschiedlicher Fertilitätsmuster entstehen.

Diese Rahmenbedingungen könnten sich in Zukunft allerdings auch ein Stück weit verändern. Im breiten internationalen Vergleich lässt sich zeigen, dass das Zusammenspiel familienpolitischer Maßnahmen langfristig einer der zentralen Faktoren der Fertilitätsunterschiede in den Industrieländern ist - wohlgemerkt: neben ökonomischen und kulturellen Faktoren. Positive Effekte durch politische Rahmenbedingungen setzen dabei eine ganzheitliche, widerspruchsfreie und strategisch ausgerichtete Familienpolitik voraus, die infrastrukturelle, zeitpolitische, monetäre und gleichstellungsorientierte Elemente sinnvoll verbindet.

Die vollständige Studie finden Sie hier