Auszüge der Rede des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy in Toulon, 1.12.2011
Frankreich und Deutschland haben nach so vielen Tragödien beschlossen, ihr Schicksal zu vereinen, gemeinsam in die Zukunft zu blicken. Diese Strategie noch einmal zu überdenken wäre unverzeihlich.
Die Geschichte und die Geographie haben Deutschland und Frankreich zu Rivalen oder Partnern gemacht. Mit der Entscheidung für die Freundschaft haben Bundeskanzler Adenauer und General de Gaulle eine historische Entscheidung getroffen. Wenn Deutschland und Frankreich vereint sind, ist ganz Europa vereint und stark. Wenn Frankreich und Deutschland nicht zusammenstehen, ist ganz Europa uneins und geschwächt. Ich werde kommenden Montag in Paris die Bundeskanzlerin empfangen und gemeinsam werden wir Vorschläge machen, um die Zukunft Europas sicher zu stellen. Jeder hat seine Geschichte, jeder hat seine Wunden. Wenn wir von der Währung sprechen, so erinnert sich Deutschland an seine Geschichte. Wir müssen es verstehen und respektieren. Jeder hat seine Institutionen, seine politische Kultur, seine Auffassung von der Nation. Die eine ist föderal, die andere ist einheitlich. Diesen Unterschied gilt es zu verstehen und zu respektieren.
Frankreich und Deutschland haben sich für die Konvergenz entschieden. Ich werde diese Entscheidung niemals in Frage stellen. Das heißt nicht, dass ein Land sich von dem anderen mitziehen lassen will, noch dass beide auf ihre Identität verzichten wollen bis hin zur Verwechslung.
Die Entscheidung für Konvergenz bedeutet nicht, dass wir beschlossen haben, den anderen nachzuahmen, sondern vielmehr gemeinsame Lehren aus der Erfahrung jedes Einzelnen zu ziehen. Die Entscheidung für Konvergenz ist die für ein gemeinsames Vorgehen Arbeit, für gemeinsame Anstrengungen, um im Herzen der europäischen Wirtschaft einen Raum der Stabilität und des Vertrauens zu schaffen, der der Motor der europäischen Wettbewerbsfähigkeit sein wird. Ich werde alles dafür tun, dass dem so ist.
Europa ist nicht länger eine Wahl, Europa ist eine Notwendigkeit. Aber die Krise hat seine Schwächen und Widersprüche aufgezeigt. Über Europa muss neu nachgedacht werden. Europa muss neu gegründet werden. Es herrscht Dringlichkeit. Die Welt wird nicht auf Europa warten. Wenn es sich nicht schnell genug verändert, wird ohne Europa Geschichte geschrieben werden. Das ist die Überzeugung Frankreichs und Deutschlands.
Europa braucht mehr Solidarität. Aber mehr Solidarität erfordert mehr Disziplin. Das ist der erste Grundsatz der Neugründung Europas.
Denn die Solidarität darf nicht zur Nachlässigkeit verleiten. Europa braucht mehr Politik. Ich meine mehr politische Verantwortung. Ein politikloses Europa, ein automatisch gesteuertes Europa, das nur blind die Regeln der Konkurrenz und des freien Handels anwendet, ist ein Europa, das den Krisen nicht gewachsen ist. Es ist ein wehrloses Europa. Es ist ein Europa, das dazu verdammt ist, die Dinge zu erdulden. Ein solches Europa wollen wir nicht.
Europa braucht mehr Demokratie. Denn Europa ist ein Unterfangen, das nicht ohne die Völker gelingen kann. Denn wenn die Völker Europa misstrauen, wird Europa zurückgehen. Ein demokratischeres Europa ist ein Europa, in dem die politischen Verantwortlichen entscheiden.
Mehr Politik, das ist der zweite Grundsatz für eine Neugründung Europas. Eine Neugründung Europas heißt nicht, den Weg in Richtung mehr Supranationalität zu gehen. Es bedeutet nicht, die alte Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern eines Europa der Nationalstaaten und den Befürwortern eines föderalen Europa wieder aufflammen zu lassen. Europa wird sich neu gründen, indem es ganz pragmatisch die Lehren aus der Krise zieht. Die Krise hat die Staats- und Regierungschefs dazu geführt, immer mehr Verantwortung zu übernehmen, verfügen sie doch im Grunde als einzige über die demokratische Legitimität, die es ihnen ermöglicht, Entscheidungen zu treffen. Die europäische Integration wird nur über die zwischenstaatliche Ebene gelingen, denn Europa steht vor strategischen und vor politischen Entscheidungen. In der Euro-Zone müssen wir jetzt beschließen, ohne Furcht mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen.
Ein Europa, das nach allen Seiten offen ist, ein Europa, das sich nicht vor Dumping schützt, ein Europa, das seine Märkte öffnet, ohne Gegenseitigkeit von seinen Mitbewerbern zu verlangen, ein Europa, das Waren aus Ländern einführen lässt, die die sozialen und ökologischen Regeln nicht einhalten, das darf es nicht länger geben. Europa muss seine Handelsinteressen hartnäckig verteidigen.
Ein Europa, das im Inneren den Grundsatz des freien Verkehrs anwendet aber seine Außengrenzen nicht kontrolliert, das darf es nicht länger geben. Schengen muss überdacht werden. Ein Europa, das soziales und steuerliches Dumping zwischen seinen Mitgliedern toleriert, ein Europa, in dem Subventionen, die es einigen seiner Mitgliedstaaten zahlt, damit diese ihren Rückstand aufholen, dazu genutzt werden, die Steuern zu senken und so unlauteren Wettbewerb zu erzeugen, das darf es nicht länger geben. Europa darf seine Industriekonzerne nicht den Raubtieren dieser Welt ausliefern, indem es ihnen im Namen falsch verstandener Wettbewerbsprinzipien verbietet, sich zusammenzutun. Europa darf nicht länger ignorieren, dass eine Industriepolitik notwendig ist, um unsere Industriezweige und unsere Exporte zu fördern. Europa muss seine gemeinsame Agrarpolitik verteidigen, denn in einer Welt, in der die Ressourcen immer knapper werden, ist die Ernährungssicherheit eine Voraussetzung für Unabhängigkeit.
In den kommenden Wochen wird Europa wesentliche Entscheidungen treffen müssen. Diese Entscheidungen können nicht mehr die der 80er Jahre sein. Die Krise ist ein Beschleuniger. Die Krise ist eine entscheidende Herausforderung für Europa. Sie ist vermutlich die größte Herausforderung, der es sich seit seiner Gründung stellen musste. Machen wir keinen Hehl daraus, dass die Krise Europa wegfegen kann, wenn es sich nicht wieder fängt, wenn es sich nicht ändert. Doch innerhalb Europas ist das Europa der 27 und das Europa des Euro. Im Mittelpunkt der europäischen Krise steht die Euro-Krise. Und sie ist die schlimmste. Sie kann alles mit sich reißen. Was bleibt von Europa, wenn der Euro verschwindet, wenn das wirtschaftliche Herz Europas kollabiert? Als es um die Entscheidung über den Euro ging, gab es Befürworter und Gegner. Jeder hatte seine Gründe, seine Argumente, die alle nachvollziehbar waren. Aber diese Debatte gehört der Vergangenheit an. Der Euro ist da. Seine Abschaffung hätte verheerende Folgen für die Franzosen. Sie würde unsere Verschuldung untragbar machen. Der Vertrauensverlust würde alles lahmlegen. Die Franzosen würden verarmen… Wir haben kein Recht, ein solches Desaster geschehen zu lassen.
Sehen wir die Euro-Krise als das, was sie ist: eine Krise der Glaubwürdigkeit, eine Krise des Vertrauens. Sie kann nur überwunden werden, indem die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen wiederhergestellt werden. Wenn wir wollen, dass der Euro überlebt, haben wir keine Wahl: Wir müssen uns denen, die an der Existenzfähigkeit des Euro zweifeln und über seinen Untergang spekulieren, mit unerschütterlicher Solidarität entgegenstellen.
Es darf keinen Zweifel daran geben, dass alle Länder der Euro-Zone zusammenhalten. Es darf keinen Zweifel daran geben, dass das was vor einem besonderen Hintergrund für Griechenland getan wurde, sich nicht wiederholen wird und dass kein Staat der Euro-Zone jemals wieder ausfallen wird. Es darf auch keinen Zweifel daran geben, dass in Zukunft niemandem auch nur ein Cent bei der Rückzahlung eines Darlehens verloren geht, das einem Land der Euro-Zone gewährt wurde. Das ist eine Frage des Vertrauens, und Vertrauen bestimmt alles.
Es darf keinen Zweifel daran geben, dass alle Länder und alle Institutionen unablässig an dieser unerschütterlichen Solidarität arbeiten.
Genau das ist die Existenzberechtigung der Regierung der Euro-Zone, für die Frankreich sich eingesetzt hat und die die Staats- und Regierungschefs zur gemeinsamen Entscheidungsfindung zusammenführt. Aus diesem Grund hat Frankreich die Schaffung eines europäischen Währungsfonds vorgeschlagen, der für Europa ein Instrument der Solidarität werden soll und Länder unterstützen wird, die in Schwierigkeiten geraten. Dieser Fonds wird die Geldmittel bereitstellen, mit denen Spekulationen ein Riegel vorgeschoben wird. Wir werden ihn zu einem ständigen Instrument machen und ihn stärken, und ich wünsche mir, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden.
Natürlich spielt die Europäische Zentralbank eine entscheidende Rolle. Es gibt Diskussionen darüber, wozu sie satzungsgemäß berechtigt ist. Ich möchte jedoch nicht näher darauf eingehen. Die EZB ist unabhängig und sie wird es bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass sie auf das Deflationsrisiko, das Europa bedroht, reagieren wird. Sie allein muss entscheiden wann und mit welchen Mitteln. Das obliegt ihrer Verantwortung. Niemand darf daran zweifeln, dass sie ihrer Verantwortung nachkommt, und ich freue mich, dass sie bereits damit begonnen hat.
Diese unerschütterliche Solidarität ist ohne eine strengere Disziplin nicht möglich. Wenn wir mehr Solidarität wollen, brauchen wir mehr Haushaltsdisziplin. Wir müssen gemeinsam über unsere haushaltspolitischen Entscheidungen diskutieren, nicht um sie überall zu vereinheitlichen, wo doch die Situationen ganz verschieden sind, sondern um sie einander anzunähern, anstatt sie immer weiter auseinanderdriften zu lassen. Wir müssen unsere Haushalte gemeinsam prüfen. Verhängen wir schnellere, systematischere und strengere Sanktionen gegen die Länder, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Erweitern wir unsere Präventionsmaßnahmen, damit sich solche Auswüchse, wie wir sie gerade erlebt haben, nicht wiederholen. Jedes Land der Euro-Zone braucht eine Schuldenbremse („goldene Regel)“, die das Ziel des Haushaltsausgleichs in seiner Gesetzgebung festschreibt. Frankreich muss eine solche Regelung verabschieden. (…).
Es kann nur eine gemeinsame Währung geben, wenn die Volkswirtschaften konvergieren. Wenn die Unterschiede in den Lebensstandards, der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Ländern zu weit auseinandergehen, wird der Euro früher oder später für die einen zu stark und für die anderen zu schwach werden, und die Euro-Zone wird zerbrechen. Konvergenz muss die Devise der Euro-Zone lauten.
Es liegt in der Natur der Sache, das dieser Prozess lang und beschwerlich sein wird. Seit Beginn der Schuldenkrise hat Europa enttäuscht, geben wir es zu. Nicht schnell genug, nicht weit genug, nicht stark genug. Diese Kritiken bekomme ich zu hören. Manchmal habe ich die Ungeduld der Beobachter geteilt. Aber die Aufgabe war so schwierig. Der Vertrag von Maastricht hat sich als unzulänglich erwiesen. Er sah Präventionsmechanismen vor, die aber ziemlich lückenhaft sind, und Sanktionen, die aber wenig angewandt werden, und kein einziges Notfallinstrument. Wir mussten alles neu erfinden, alles neu aufbauen, und wir haben dabei festgestellt, dass unsere Auffassungen von der Wirtschaftspolitik oder der Währungsunion bisweilen unterschiedlich geblieben waren, trotz zehn Jahren gemeinsamen Lebens.
Jetzt, in einer Extremsituation, nach dem langen Weg, den wir gegangen sind, müssen wir auf das Wesentliche zurückkommen und es mit aller Kraft erneuern. Deswegen setzt sich Frankreich zusammen mit Deutschland aktiv für einen neuen Vertrag ein. Mehr Disziplin, mehr Solidarität, mehr Verantwortung vor den Völkern, eine echte Wirtschaftsregierung. Das ist unsere Vision von der Zukunft der Euro-Zone und der künftigen Reform der Verträge. Frankreich kämpft dafür, dass sich Europa in der Welt von morgen weiterhin Gehör verschaffen kann.