Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einer Verfassungbeschwerde zweier Mitarbeiter des Brandenburger Flüchtlingsrates, 24.7.2013
[...] Die Beschwerdeführer waren im Jahre 2010 als Mitarbeiter des Flüchtlingsrats B. tätig. Dieser versteht sich als Lobbyorganisation für Flüchtlinge und engagiert sich mit diesem Selbstverständnis gegen seiner Auffassung nach diskriminierende Zustände und Praktiken gegenüber Flüchtlingen. Seit dem Jahre 1997 „verleiht“ der Flüchtlingsrat B. jährlich einen „Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“. Für den Denkzettel des Jahres 2010, der auch im Internet veröffentlicht wurde, waren die Beschwerdeführer jeweils mitverantwortlich.
Die Internetversion dieses Denkzettels lautet wie folgt: „(…) In diesem Jahr geht der DENKZETTEL für strukturellen und systeminternen Rassismus zum Antirassismus-Tag 2010 an das Rechtsamt der Stadt B. In einer rechtlichen Stellungnahme unterstellt das Rechtsamt der Stadt B. dem gehörlosen Flüchtling Herrn C. [Abkürzung im Original] jahrelange Vortäuschung dieser Gehörlosigkeit, obwohl diese fachärztlich bescheinigt ist. Als Begründung für die Unterstellung dieser Vortäuschung wird dann auch noch die jahrelange sportliche Betätigung von Herrn C. in dem B. Sport-Club … e.V. angeführt (…). Mit dieser Stellungnahme werden absichtlich und bewusst vorliegende Fakten ignoriert, um Gründe für eine Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vorbringen zu können.“
[...] Aufgrund dieser Äußerungen wurden die Beschwerdeführer jeweils durch das Amtsgericht mit angegriffenem Urteil wegen übler Nachrede gemäß §§ 186, 194 StGB zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 60 € verurteilt. Das Landgericht nahm die hiergegen jeweils eingelegten Berufungen mit angegriffenem Beschluss gemäß § 313 Abs. 2 StPO nicht zur Entscheidung an und verwarf sie wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig.
[...] Mit ihren ausführlich begründeten Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung in ihrem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. [...] Die Verfassungsbeschwerden werden gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen. [...] Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig [...]. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.
[...] Die Gerichte verkürzen den Schutzgehalt des Grundrechts hinsichtlich der gegenständlichen Äußerungen bereits insofern, als sie in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Art und Weise annehmen, dass es sich um nicht erweislich wahre, ehrverletzende Tatsachenbehauptungen im Sinne des § 186 StGB und nicht um überwiegend durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Werturteile und damit um Meinungen im engeren Sinne handele [...].
[...] Die Äußerung, dass das Rechtsamt absichtlich und bewusst vorliegende Fakten ignoriere, um Gründe für eine Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis vorbringen zu können, ist ihrem Sinn und systematischen Kontext nach eine das Hintergrundgeschehen zusammenfassend bewertende Stellungnahme. Die Begriffe „absichtlich“ und „bewusst“ sind als solche schwierige Rechtsbegriffe, die eine wertende Betrachtung erfordern und bei Verwendung in einem nicht juristischen Text einen wertenden Gebrauch nahelegen. Auch finden sich in der anschließenden - im Kern zutreffenden - Schilderung des Hintergrunds neben der Wiedergabe des tatsächlichen Geschehens wertende Begriffe wie „völlig unverständlich“, „jeglicher Logik entbehrend“ oder „unmenschlich diskriminierend“. Mit diesen Begriffen steht der für strafwürdig erachtete einleitende Satz bei Vornahme der gebotenen objektivierenden Betrachtung in einem vorrangigen inhaltlichen Zusammenhang. Dies verkennen die Gerichte, wenn sie zunächst den einleitenden Satz aus dem Gesamtkontext isolieren, um ihn sodann mit der Nennung der Sachbearbeiterin am Ende des Textes zu verknüpfen, und wenn sie daraus schlussfolgern, dass die Beschwerdeführer - zumindest dem Schwerpunkt nach - die dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung aufgestellt hätten, dass die konkrete Sachbearbeiterin absichtlich und wissentlich vor dem Verwaltungsgericht Tatsachen verschwiegen beziehungsweise eine falsche Stellungnahme abgegeben habe. Diese Auslegung ist sinntrennend und sinnverfälschend und wird daher den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht.
[...] Das Landgericht hat zudem den Schutzgehalt der Meinungsfreiheit insofern verkürzt, als es die fraglichen Äußerungen offensichtlich als Schmähkritik bewertet hat. Es hat dabei den Begriff der Schmähkritik in verfassungsrechtlich unzulässiger Art und Weise überdehnt und in der Folge die erforderliche Abwägung zwischen dem Ehrschutz einerseits und der Meinungsfreiheit andererseits zumindest nicht im gebotenen Umfange unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen. Auch hierin liegt ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler [...].
[...] Vorliegend befasst sich der streitgegenständliche „Denkzettel“ unzweifelhaft mit einer Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Im Fokus der Kritik steht nicht Frau B. als Person, sondern das Rechtsamt der Stadt B. und Frau B. allein in ihrer Funktion als Sachbearbeiterin dieses Rechtsamts. Die konkret für strafwürdig erachteten Äußerungen verlieren nicht jeden Sachbezug zum kritisierten Geschehen, mögen sie auch scharf und überzogen sein und mag auch die namentliche Nennung einer Sachbearbeiterin nicht angebracht erscheinen.
[...] Es ist zu berücksichtigen, dass das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, zum Kernbereich der Meinungsfreiheit gehört und deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist [...]. Auch ist in Anbetracht der tatsächlichen gerichtlichen Feststellungen, insbesondere betreffend das Hintergrundgeschehen, das Maß der Ehrverletzung der Sachbearbeiterin nicht derart hoch, dass diese im konkreten Fall die Meinungsfreiheit überwiegen könnte. Dabei erlaubt es die Meinungsfreiheit insbesondere nicht, die Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihnen damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen. Inwieweit vorliegend, worauf das Landgericht zusammenfassend abstellt, die betroffene Sachbearbeiterin mit wahllosen Beschimpfungen, existenzbedrohenden öffentlichen Verdächtigungen oder willkürlichen Abwertungen überzogen oder mundtot gemacht worden sein soll, erschließt sich weder aus den den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen noch aus deren Würdigung. [...]
Die vollständige Entscheidung finden Sie hier.