Dokumente zum Zeitgeschehen

»Mein Land ist eine Summe unauflöslicher Paradoxien«

Dankesrede des Friedenspreisträgers Boualem Sansal, 16.10.2011

"[...] Im Kontext der heutigen Zeit ist dies (die Verleihung des Friedenspreises) eine rührende, eine aufmunternde Geste, denn sie zeugt davon, dass Sie sich dafür interessieren, wie wir Völker des Südens versuchen, uns vom Joch unserer bösartigen und archaischen Diktaturen zu befreien, in dieser arabisch-muslimischen Welt, die einst ruhmreich und tatkräftig war, nun aber schon so lange verschlossen und erstarrt ist, dass wir schon vergessen haben, dass wir Beine haben und einen Kopf, und dass man auf seinen Beinen stehen und gehen und laufen kann, oder auch tanzen, wenn einem der Sinn danach steht, und dass man mit seinem Kopf jenes unvorstellbar Zauberhafte tun kann, nämlich sich eine Zukunft ersinnen und diese dann auch leben, hier, in der Gegenwart, in Frieden, in Freiheit, in Freundschaft. [...]

In einem Land, das nichts anderes kennengelernt hat als die Diktatur, nämlich die der Waffen und der Religion, besteht die einzige Vorstellung, die man sich vom Frieden machen kann, aus Unterwerfung, Selbstmord oder endgültiger Emigration. Das Fehlen von Freiheit ist ein Schmerz, der einen auf Dauer verrückt macht. [...]

Mein Land ist eine Summe unauflöslicher Paradoxien, von denen die meisten tödlich sind. Im Absurden zu leben, macht einen schwachsinnig, man torkelt von einer Wand an die andere wie ein Betrunkener. Für junge Menschen, die sich eine Zukunft suchen müssen und einen klaren Kurs brauchen, um sich orientieren zu können, ist dies dramatisch, und es zerreißt einem das Herz, wenn man sie verzweifelt heulen hört wie Wölfe tief in der Nacht. [...]

[...] Wir spüren alle, dass sich seit der tunesischen Jasminrevolution in der Welt etwas geändert hat. Was in der verknöcherten, komplizierten und schwarzseherischen arabischen Welt unmöglich schien, ist nun eingetreten: Die Menschen kämpfen für die Freiheit, sie engagieren sich für die Demokratie, sie öffnen Türen und Fenster, sie blicken in die Zukunft, und diese Zukunft soll erfreulich und soll ganz einfach menschlich sein.

Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt.

Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet. Es entsteht ein neues Bewusstsein, und in der Geschichte der Nationen ist das eine Wende, wie man das in Ihrem Land beim Fall der Mauer nannte.

Im Zuge all dieser Rebellionen wollen auch immer mehr Menschen nicht mehr hinnehmen, dass der älteste Konflikt der Welt, nämlich der israelisch-palästinensische, noch weiter andauert und morgen auch noch unsere Kinder und Enkel betrübt. Wir sind sogar voller Ungeduld und wollen es nicht hinnehmen, dass diese beiden so sehr in der Menschheitsgeschichte verankerten großen Völker auch nur einen Tag länger als Geiseln ihrer kleinen Diktatoren dahinleben, ihrer bornierten Extremisten, ihrer nicht zu entwöhnenden Nostalgiker, ihrer Erpresser und kleinen Provokateure.

Wir möchten, dass die beiden Völker frei und glücklich und brüderlich leben. Wir sind davon überzeugt, dass der in Tunis angebrochene Frühling auch in Tel-Aviv, in Gaza, in Ramallah eintreffen wird, er wird nach China kommen und selbst noch weiter. Es ist ein Wind, der in alle Richtungen weht. Bald wird er Palästinenser und Israelis im Zeichen der gleichen Wut vereinen, dann kommt über den Nahen Osten die Wende, und mit herrlichem Getöse werden sämtliche Mauern fallen. [...]

Der Antrag auf Anerkennung eines unabhängigen und souveränen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, den Präsident Mahmud Abbas der UNO vorlegt hat, war ein Schlag ins Wasser, das wussten wir bereits im Voraus, doch bin ich der Meinung, dass dieser kleine Schlag, selbst wenn er daneben ging, sich noch als großer Schlag erweisen wird, so entscheidend wie die Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Bouazizi, die die arabische Welt entflammte.

Zum ersten Mal seit sechzig Jahren haben die Palästinenser nur aus eigenem Willen heraus gehandelt. Sie sind nach New York gekommen, weil sie selbst es wollten, und sie haben niemanden gebeten, diesen Schritt zu genehmigen oder für ihn geradezustehen, weder die arabischen Diktatoren, die wir einen nach dem anderen absägen, noch die Arabische Liga, die nun nicht mehr die Kriegstrommel rührt, noch auch irgendeinen geheimnisvollen Mufti aus einem islamistischen Hinterzimmer."