Dokumente zum Zeitgeschehen

»Mit der Wirtschaft wächst die Spaltung«

Gutachten des Paritätischen Wohlfahrtsverbands zum sozialen Zusammenhalt in der Bundesrepublik, 24.4.2014

Die vorangegangenen Befunde verweisen auf fortschreitende gesellschaftliche Spaltungstendenzen. Dies steht im Widerspruch zu der im internationalen Vergleich positiven Entwicklung und dem gewachsenen wirtschaftlichen Leistungsvermögen in Deutschland. Offenkundig profitieren Menschen in Deutschland nicht nur ausgesprochen unterschiedlich von dieser Entwicklung. Eine wachsende Zahl von Menschen profitiert von ihr gar nicht, sondern ist von der wirtschaftlichen Entwicklung dauerhaft abgehängt und damit in ihren Teilhabechancen stark eingeschränkt. Soziale Kohäsion nimmt damit ab.

Zu einem geringen, aber dennoch beachtlichen Teil beruht diese Entwicklung auf durch den Gesetzgeber erlassenen Maßnahmen, die im Berichtsjahr in Kraft traten. Zu einem erheblichen Teil beruht sie aber auch auf Unterlassung. Das Berichtsjahr 2013 war geprägt von der im September des Jahres durchgeführten Bundestagswahl, die den Gesetzgebungsprozess bis zur Jahresmitte zum Erliegen brachte. Notwendige Reformschritte wurden dabei unterlassen. Besonders deutlich wird dies im Bereich der Pflegepolitik, in der trotz eines unübersehbaren und unumstrittenen Handlungsbedarfs während der gesamten Legislaturperiode keine Maßnahme zur Verbesserung der Situation der Betroffenen erfolgte.

Im Vordergrund des politischen Handelns steht auch im Berichtsjahr der Prozess der Haushaltskonsolidierung durch eine Politik der kleinen Schritte und befristeten Projekte. Nachhaltige Lösungen werden auf diesem Weg nur in Einzelfällen erzielt. Soziale Kohäsionsprozesse bedürfen jedoch einer kohärenten Strategie, auch um gegenläufig wirkende Tendenzen und Konkurrenzen wie sie im Berichtsjahr etwa zwischen dem Anspruch auf einen Kindertagesstättenplatz und der Einführung eines Betreuungsgeldes bestehen zu vermeiden.

Arbeitsmarktpolitik

In Deutschland ist der Arbeitsmarkt in mindestens vier Gruppen gespalten: in Normalverdiener in halbwegs sicheren Beschäftigungsverhältnissen, prekär Beschäftigte und Geringverdiener, Arbeitslose mit Beschäftigungsperspektiven und „abgehängte“ Langzeitarbeitslose. Das Wachstum der Zahl der Erwerbstätigen ist grundsätzlich erfreulich. Es resultiert aber auch aus einem hohen Anteil an atypischer Beschäftigung, von der 2012 in Deutschland etwa 7,89 Millionen Menschen betroffen waren.

Das Wachstum der sozialen Ungleichheit hat wesentlich damit zu tun, dass der Wert der Arbeit immer weiter sinkt und etwa Kapitaleinkommen, die besonders ungleich verteilt sind, nicht nur schneller wachsen, sondern dabei noch privilegiert werden. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen sank von 73,5 Prozent im Jahr 1993 auf etwa 64,2 Prozent im Jahr 2012. Gleichzeitig wird Arbeit heute mit bis zu 45 Prozent besteuert, Kapitaleinkommen dagegen mit maximal 25 Prozent. Eine Vermögensteuer wird ohnehin seit 1995 nicht mehr erhoben. Diese Politik hinterlässt in der Gesellschaft Spuren.

Damit nicht genug. In den vergangenen Jahren wurden die Chancen für Langzeitarbeitslose auf eine Arbeitsmarktintegration systematisch verschlechtert. Beispielsweise wurden mit dem Beschäftigungszuschuss und den Arbeitsgelegenheiten in der Entgeltvariante marktnahe Angebote der Eingliederung gestrichen. Arbeitsgelegenheiten werden auf marktfernste Personen konzentriert. Die Förderung Langzeitarbeitsloser mit komplexen Problemlagen, wie z.B. solche mit gesundheitlichen Einschränkungen, Suchtproblemen und geringen beruflichen Qualifikationen, wird nicht angepasst. Weitergehende Förderung, wie die sozialpädagogische Begleitung, wird nicht mehr finanziert. Die Kürzungen gehen damit besonders zu Lasten zielgruppenspezifischer Angebote, zum Beispiel Jugendliche oder Frauen. Zahlreiche erfolgreiche Beschäftigungsunternehmen stehen vor dem Aus. Gleichzeitig ist ein wachsender Fachkräftemangel schon heute spürbar.

Das sinkende Absicherungsniveau der Arbeitslosenversicherung steigert die soziale Verwundbarkeit zusätzlich. Eine Arbeitslosenversicherung, die nicht einmal mehr einem Drittel der Arbeitslosen Leistungen bietet, verfehlt ihren Auftrag. Daraus folgt, dass der Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung erleichtert werden muss. Darüber hinaus bedarf es der Schaffung eines neuen sozialpolitischen Instruments, um Langzeitarbeitslosen mit besonderen Vermittlungshemmnissen, die auf absehbare Zeit keine Chance mehr auf ein reguläres Beschäftigungsverhältnis haben, unbefristet eine geförderte Beschäftigung in sinnstiftende Tätigkeiten, die durch begleitende Maßnahmen flankiert werden, zu ermöglichen. Damit kann sowohl soziale Teilhabe als auch ein effizienter Mitteleinsatz gefördert werden. Es gilt Arbeit zu finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit.

Armutsbekämpfung

Trotz positiver Wirtschaftsentwicklung besteht in Deutschland ein ungebrochener Trend zur Verfestigung von Armut und Ausgrenzung. Mehrere Millionen Menschen sind von Fürsorgeleistungen abhängig, viele von ihnen über viele Jahre. Dabei ist die Grundsicherung erklärtermaßen für vorübergehende Notlagen gedacht. Für eine dauerhafte Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums ist sie strukturell zu niedrig bemessen. Dies wird auch dadurch belegt, dass die Zahl der auch von den Jobcentern als unabdingbar eingeschätzten Darlehen für notwendige Anschaffungen immer weiter steigt.

Besonders betroffen sind davon Kinder. Etwa 2,5 Millionen von ihnen leben in Armut oder unterhalb der Armutsrisikoschwelle. Durch den Gesetzgeber und die Bundesregierung haben sie in den vergangenen Jahren kaum Unterstützung erfahren. Die Bundesregierung hat sich einer Erhöhung der Leistungen so lange weitgehend verweigert, bis das Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 die Verfassungswidrigkeit des Status quo festgestellt hat. Selbst danach erfolgte innerhalb der durch das Verfassungsgericht gesetzten Frist keine Leistungsausweitung. Diese erfolgte erst rückwirkend, gleichzeitig mit Kürzungen bei anderen Empfängern sozialer Leistungen, die die Mehrausgaben mehrfach überstiegen. Doch selbst die eingeführte Leistung für Bildung und Teilhabe bietet den Betroffenen keine Perspektiven. Die Erfahrungen aus über drei Jahren der praktischen Umsetzung des Bildungsund Teilhabepaketes belegen, dass viele der im Vorfeld von Praktikern aus der Sozialund Jugendhilfe kritisierten Defizite der Neuregelungen bis heute nicht überwunden werden konnten. Immer noch wird nur ein Bruchteil der pauschal finanzierten Leistungen tatsächlich als neue Teilhabeleistung für Kinder verausgabt. Hier befindet sich ein sozialpolitischer Skandal in Fortsetzungen.

Gegenwärtig sind weitere Verfassungsbeschwerden zum bestehenden Verfahren der Regelsatzbemessung anhängig, deren Erfolgsaussichten aufgrund der bestehenden Mängel des Verfahrens erheblich sind. Aus diesem Grund ist der Wechsel zu einem methodisch nachvollziehbaren, transparenten und bedarfsgerechten Bemessungsverfahren notwendig. Die Regelsätze müssen bedarfsgerecht erhöht werden. Darüber hinaus ist die Möglichkeit, einmalige Leistungen für besondere Bedarfe zu beantragen, wiedereinzuführen. Sie ist ein notwendiger Beitrag zur bedarfsgerechten Individualisierung der Leistungsgewährung, deren Notwendigkeit durch die stetig wachsende Zahl von Darlehen auch empirisch belegt ist.

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Fazit

Zusammenfassend ist festzustellen, dass trotz der positiven Entwicklung eine Abnahme sozialer Kohäsionsprozesse stattgefunden hat. Die soziale Spreizung hat zugenommen, Armut hat sich verfestigt, Arbeitslosigkeit stagniert auf hohem Niveau, das betrifft insbesondere auch Langzeitarbeitslose. Auch unter den Erwerbstätigen ist eine Scherenentwicklung festzustellen, indem der Anteil von sogenannten Normalarbeitsverhältnissen weiter abnimmt. Auch die Spreizung der Vermögen nimmt zu. Gesellschaftliche Teilhabe wird für immer mehr Menschen immer weniger möglich. Die soziale Kohäsion nimmt ab.

Die Weitertwicklung der Sozialpolitik hält nicht mehr mit der wirtschaftlichen Entwicklung Schritt. Soziales wird immer weiter abgehängt. Das wird auch anhand der Sozialleistungsquote, dem Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt, deutlich. Sie sank von 31,5 Prozent im Jahr 2009 kontinuierlich und betrug 2010 30,6 Prozent, 2011 29,7 und 2012 nur noch 29,6 Prozent. Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen. Notwendige soziale Investitionen unterbleiben.

Bundestagspräsident Lammert hat bereits 2012 darauf hingewiesen: „Ungleichheit wird zu einem Problem, wenn es keinen Zusammenhang mehr gibt zwischen individuellem Einkommen und individueller Leistung.“ Er verband das mit der Forderung nach mehr Verteilungsgerechtigkeit. Leider hat diese Forderung nach den Ergebnissen des vorliegenden Gutachtens bis heute nichts an Aktualität verloren. 

Das vollständige Gutachten finden Sie hier.