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»Noch nie wurde eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020«

Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 16.12.2021

Mit der aktuellen Auswertung des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes erhalten wir erstmals Armutsdaten für das Pandemiejahr 2020. Verschiedene Studien setzten sich bereits mit der Frage von Einkommenseinbußen, insbesondere von Arbeitnehmer*innen und Selbständigen, in der Pandemie auseinander. Die Mikrozensusdaten geben nun Hinweise darauf, wie weit diese Einkommenseinbußen Menschen tatsächlich unter die Armutsschwelle drückten.

Der erste wichtige Befund: Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen als 2020. 16,1 Prozent der Bevölkerung bzw. 13,4 Millionen Menschen müssen danach zu den Armen in diesem Lande gerechnet werden – ein neuer trauriger Rekord.

Wenn auch der Vergleich der Daten aus den Erhebungen 2020 und 2019 aus methodischen Gründen nur eingeschränkt möglich ist, passen die Daten in das Bild eines besorgniserregenden Aufwärtstrends der Armutsquoten, der seit 2006 zu beobachten ist.

Angesichts des tiefen wirtschaftlichen Einbruchs im Pandemiejahr 2020 und einer sprunghaft angestiegenen Arbeitslosenquote überrascht die hohe Armutsquote nicht. Auf der anderen Seite erwiesen sich Kurzarbeitergeld, aber auch Arbeitslosengeld I als wirksame Instrumente der Armutsvermeidung. Sie verhinderten zwar keine Einkommenseinbußen, bewahrten aber ganz offensichtlich viele Menschen in der Krise vor dem Fall in die Armut. Es fällt auf, dass unter den Erwerbstätigen im Pandemiejahr vergleichsweise mehr Selbständige als abhängig Beschäftigte unter die Armutsgrenze gerutscht sind.

Davon abgesehen bleibt das soziodemografische Risikoprofil das der Vorjahre: Nach wie vor zeigen Haushalte mit drei und mehr Kindern (30,9 Prozent) sowie Alleinerziehende (40,5 Prozent) die höchste Armutsbetroffenheit aller Haushaltstypen. Erwerbslose (52 Prozent) und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (30,9 Prozent) sind ebenfalls sehr stark überproportional betroffen. Das gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund (27,9 Prozent) und ohne deutsche Staatsangehörigkeit (35,8 Prozent).

Im Ländervergleich zeigt sich, dass sich der Wohlstandsgraben zwischen Bayern und Baden-Württemberg einerseits und dem Rest der Republik verfestigt, wenn nicht sogar vertieft hat. Kommen die beiden süddeutschen Länder auf eine gemeinsame Armutsquote von „nur“ 12,2 Prozent – und liegen damit weit unter dem Bundesdurchschnitt –, sind es für die übrigen Bundesländer gemeinsam 17,7 Prozent. Der Abstand zwischen Bayern (11,6 Prozent) und dem schlechtplatziertesten Bundesland Bremen (28,4 Prozent) beträgt mittlerweile 16,8 Prozentpunkte. Mit außerordentlich hohen Armutsquoten von um die 20 Prozent fallen auch Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Sachsen-Anhalt auf.

Wenngleich die auf Grundlage des Mikrozensus gemessene Armutsquote mit 16,1 Prozent einen neuen Höchststand erreicht hat, ist das große Beben in der Armutsstatistik infolge der Pandemie bisher ausgeblieben. Für rund vier Fünftel der Bevölkerung war das Krisenjahr mit überhaupt keinen finanziellen Einbußen verbunden. Politische Maßnahmen wie das Kurzarbeitergeld und diverse Unterstützungsmaßnahmen von Bund und Ländern für Selbständige und die Wirtschaft insgesamt verhinderten noch höhere Armutswerte. Sie sorgten dafür, dass das Ausmaß der Armut nicht proportional zum Wirtschaftseinbruch und dem Beschäftigungsabbau zunahm. Allerdings unternahm die Bundesregierung so gut wie nichts, um im Pandemiejahr 2020 die Not derer zu lindern, die bereits in Armut und insbesondere im Bezug von Hartz IV oder Altersgrundsicherung waren. In der zweiten Jahreshälfte 2020 wurde ein Kinderbonus von 300 Euro pro Kind gezahlt, der auch Familien in Hartz-IV-Haushalten zu Gute kam. Ansonsten dauerte es trotz des pandemiebedingten Wegfalls vieler Hilfsangebote wie der Tafeln, des kostenlosen Schulessens oder der Sozialkaufhäuser und trotz der zusätzlichen Kosten für Desinfektionsmittel oder Masken, fast ein ganzes Jahr, bis sich die Große Koalition dazu durchringen konnte, auch an alle erwachsenen Bezieher*innen von Hartz IV und von Altersgrundsicherung wenigstens eine einmalige kleine Zahlung von 150 Euro zu leisten. Ausgezahlt wurde das Geld dann im Mai 2021. Auch brauchte es erst einschlägige Gerichtsurteile, bevor das Bundesarbeitsministerium in 2021 der Arbeitsverwaltung endlich Anweisung gab, notwendige Ausgaben zur digitalen Teilhabe am Unterricht als Mehrbedarf anzuerkennen. Die Pandemie traf und trifft Arm und Reich sehr unterschiedlich hart.

Die Not derer, die in zu kleinen Wohnungen mit nur schlechter Ausstattung von ohnehin nicht mal das Existenzminimum deckenden Regelsätzen leben mussten, wurde geradezu erdrückend. Doch findet sich dies in keiner Statistik wieder. Wir haben uns deshalb entschlossen, in diesem Armutsbericht auch den Betroffenen selbst Platz einzuräumen. In zwei Konferenzen unseres Verbandes, im Juni und im November 2021, berichteten sie über ihre Alltagserfahrungen in einem Leben in Armut und mit Hartz IV. Wir haben darauf verzichtet, die für sich stehenden kurzen Statements weiter zu kommentieren, möchten sie den Leser*innen dieses Berichts jedoch sehr ans Herz legen.

Den vollständigen Bericht finden Sie hier.