Dokumente zum Zeitgeschehen

»Nur knapp die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich in der Bundesrepublik politisch zu Hause.«

Studie des Zentrums für Sozialforschung Halle (ZSH) im Auftrag der Bundesregierung zu 25 Jahren Deutscher Einheit, 18.2.2015

Ein zentrales Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Konvergenzen und Divergenzen, also Tendenzen der Annäherung und der Auseinanderentwicklung in den Einstellungen der deutschen Bevölkerung darzustellen, wie sie sich während der zweieinhalb Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung im östlichen und westlichen Landesteil als Bestandteile einer gesamtdeutschen politischen Kultur herausgeschält haben.

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Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage 

92. Ostdeutscher Systemvergleich Bundesrepublik/DDR: Die aktuelle politische und gesellschaftliche Gewinn-Verlust-Rechnung auf der Grundlage eines persönlichen Systemvergleichs fällt auf der Basis der Bevölkerungsumfrage von September/Oktober 2014 in Ostdeutschland wie folgt aus: Honoriert wird insbesondere, dass sich die Chancen für persönlichen Aufstieg verbessert haben (69 %). Auch für die Anerkennung persönlicher Leistungen, für das Gesundheitswesen, für gesellschaftliches Wohlbefinden sowie für die Gleichberechtigung der Geschlechter sieht eine jeweils variable relative Mehrheit der Ostdeutschen in der Bundesrepublik bessere Chancen. Der DDR werden aus ostdeutscher Sicht neben der Kinderbetreuung und dem sozialen Zusammenhalt die besseren Konditionen in den Bereichen soziale Gerechtigkeit und soziale Absicherung, Kriminalitätsbekämpfung sowie Bildung zuerkannt.

93. Meinungsbild der jüngeren ostdeutschen Generation: Die partiell wohlmeinende Einschätzung der DDR ist vorrangig die Sicht älterer Befragter. Wenn jüngere Ostdeutsche unter 35 Jahren beide Systeme vergleichen, neigt sich die Waagschale eindeutiger zugunsten des wiedervereinigten Deutschlands. Mit Ausnahme des Zusammenhalts der Menschen, der Kinderbetreuung und des Bildungssystems, welche auch hier mehr der DDR positiv zugeschrieben werden, hat sich in den Augen der jüngeren Generation die Lage in allen anderen abgefragten Punkten nach 1990 verbessert.

94. Systemvergleich aus gesamtdeutscher Sicht: Aus gesamtdeutscher Sicht fällt der Vergleich mit der Situation vor 1990, wobei West- oder Ostdeutschland jeweils die Referenzgröße darstellen, uneindeutig aus. Verbesserungen werden dem wiedervereinigten Deutschland vor allem bei der Kinderbetreuung und der Gleichstellung der Geschlechter bescheinigt. Andererseits herrscht in ganz Deutschland die Einschätzung vor, dass sich nach 1990 die Bedingungen für soziale Gerechtigkeit und soziale Absicherung, für den sozialen Zusammenhalt, den Schutz vor Verbrechen und das Gesundheitswesen verschlechtert haben.

95. Systemmängel versus Praxisdefizite: Darin, dass in wichtigen Lebensbereichen bzw. Politikfeldern die Bundesrepublik gegenwärtig ein Leistungsdefizit aufweise, sind sich Ost- und Westdeutsche also in ihrer Mehrheit einig. Dennoch gibt es einen Unterschied: Aus ostdeutscher Sicht bilden die genannten nachteiligen Entwicklungen automatisch systembedingte Defizite der Bundesrepublik ab. Wenn hingegen Westdeutsche eine inhaltlich gleichlautende Mängelliste zusammenstellen, drücken sie überwiegend damit Unzufriedenheit über die Praxis der Politik in einem lange vertrauten System aus.

96. Vorteile oder Nachteile der Wiedervereinigung: Ungeachtet der Mängelrügen, die aus west- und ostdeutscher Sicht der Bundesrepublik für die Zeit nach 1990 erteilt werden, und trotz etlicher von Ostdeutschen mehrheitlich positiv erinnerter Facetten des Systemprofils der DDR sind sich vier Fünftel im Osten wie im Westen des Landes gleichermaßen darin einig, dass die Wiedervereinigung für Deutschland als Ganzes vorteilhaft war. Schlüsselt man die Befragten nach dem Bildungsgrad auf, so schält sich für beide Landesteile das gleiche sozialstrukturelle Muster heraus: Hauptschulabsolventen sind häufiger als Abiturienten und Akademiker der Meinung, dass die Nachteile der Einigung überwögen. Dieser Zusammenhang zwischen Bildung und Einigungsbilanz ist im Westen noch etwas stärker ausgeprägt.

97. Mehr Vorteile für Ostdeutschland: Ostdeutsche wie Westdeutsche sehen übereinstimmend mehrheitlich mehr Vorteile der Einigung für Ostdeutschland. Aufschlussreich ist ferner, dass zehn Prozent mehr West- als Ostdeutsche die Einigungsfolgen für ihr eigenes Teilgebiet als nachteilig empfinden. Dieses unterschiedliche Antwortverhalten macht anschaulich, wie eine ältere Erfahrungswelle allmählich ausläuft und eine jüngere sich neu aufbaut: Während die Eindrücke der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationskrise, die ausschließlich die Bevölkerung der früheren DDR betroffen hatte, dort allmählich verblassen, nimmt in Westdeutschland die Debatte, ob es nicht an der Zeit sei, die Teilungslasten gerechter, sprich: stärker zugunsten westlicher Problemregionen zu verteilen, gerade erst Fahrt auf.

98. Persönliche Vorteile der Wiedervereinigung: Dass deutlich mehr Ostdeutsche (77 %) als Westdeutsche (62 %) für sich persönlich die Wiedervereinigung als vorteilhaft erleben, verwundert nicht. Nicht unbedingt zu erwarten war hingegen, dass auch annähernd zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung die Einigung selbst aus der räumlichen Distanz als eine persönliche Erfolgsgeschichte ansehen. Die positive Sicht mag in vielen Fällen beruflich oder familiär bedingt sein. Doch deutet die große Zahl auf eine auch im Westen der Bundesrepublik gesellschaftlich breit verankerte affektive Identifikation mit der deutschen Einheit hin.

99. Urteil über das politische Regime der DDR: Die Bewertung des politischen Regimes der DDR und seines ideologischen Kerns im heutigen Ostdeutschland ist in einem zentralen Punkt eindeutig: 70 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass das politische System der DDR eine Diktatur war. Dass die DDR ebenso ein „Unrechtsstaat“ gewesen ist, meinen mit 46 Prozent hingegen deutlich weniger. Diese Zurückhaltung erklärt sich psychologisch wohl daraus, dass viele Ostdeutsche fürchten, Teile ihrer eigenen Biografie zu entwerten, wenn sie zustimmen, dass die DDR zu einem Synonym für Unrecht erklärt wird. Die westdeutsche Bevölkerung schätzt insgesamt den Willkürcharakter des DDR-Regimes und seine Demokratieunverträglichkeit deutlich kritischer ein.

100. Sozialismus und Demokratie: Knapp 60 Prozent der Ostdeutschen glauben gegenwärtig, dass der Sozialismus im Grunde eine gute Idee sei, die nur schlecht ausgeführt wurde. Wesentlich weniger, nämlich etwa ein Drittel der Befragten, teilen die Einschätzung, dass Sozialismus und Demokratie grundsätzlich ganz gut vereinbar sind. Mit 27 Prozent stimmen noch weniger der Aussage zu, dass die wichtigsten Wirtschaftsunternehmen verstaatlicht werden sollten.

101. Der reale Sozialismus – keine Alternative: Sichtbar wird in diesem Antwortverhalten eine Hierarchie abnehmender Sympathien mit dem System der DDR. Während das abstrakte Systemziel der sozialen Befreiung des Menschen aus Armut und Entfremdung auch unter den westdeutschen Befragten deutlich positiver konnotiert wird, findet das realsozialistische Strukturmodell für Verfassung und Ökonomie nur bei einer Minderheit Anklang. Dass bei allen einschlägigen Fragen die Zustimmungsraten bei Jüngeren niedriger als der Durchschnitt ausfallen, belegt, dass in der nachwachsenden Generation mit wachsendem zeitlichem Abstand zur DDR die Unsicherheit, deren Systemeigenschaften einzuschätzen, wächst.

102. In der Bundesrepublik zuhause: Fast drei Viertel der Westdeutschen, aber nur knapp die Hälfte der Ostdeutschen fühlen sich gegenwärtig in der Bundesrepublik „politisch zu Hause“. Wie sehr die Ost-West-Differenz sozialisationsbedingt ist, veranschaulicht das landesweit nahezu identische Meinungsbild der jüngeren Generation: 64 Prozent der 14- bis 29-Jährigen im Westen und 65 Prozent der Angehörigen derselben Altersgruppe im Osten sehen in der Bundesrepublik ihre politische Heimat.

103. Reichweite und Grenzen des Wohlfahrtsstaates: In der Studie stellen wir dar, dass zu Beginn der 1990er Jahre Ost- und Westdeutsche in ihrer Präferenz für wohlfahrtstaatlich garantierte Fürsorge und Vorsorge grundsätzlich übereinstimmten. Gleichzeitig traten Diskrepanzen bei der Erwartung auf, wie weit die Interventionsbefugnis des Wohlfahrtsstaates reichen soll. Dieses deutsch-deutsche Grundmuster in der Einschätzung von Reichweite und Grenzen des Wohlfahrtsstaates ist auch gut 20 Jahre später erhalten geblieben. Nahezu einmütig wird in Ost und West eine staatliche Gewährleistungsfunktion für den traditionellen Kernbereich der Systeme sozialer Sicherung (Krankheit, Invalidität, Alter, Erwerbslosigkeit) bejaht. Unterschiede treten dort stärker hervor, wo der Staat selbst als Anbieter wirtschaftlicher Leistungen (Wohnraum) oder als Kontrolleur bzw. Korrektiv wirtschaftlicher Tätigkeit (Lohn- und Preiskontrolle, Ausgleich von Einkommensunterschieden, Vollbeschäftigung) ins Spiel gebracht wird. Aber auch hier haben sich gegenüber den frühen 1990er Jahren die Ost-West-Differenzen abgeschwächt.

104. Demokratie als beste Staatsform: Im Jahr 2014 war die Demokratie das bei Ost- wie Westdeutschen breit akzeptierte Modell politischer Ordnung. Der Auffassung, die Demokratie sei die beste Staatsform, stimmen 90 Prozent der Westdeutschen und 82 Prozent der Ostdeutschen zu. Nicht ganz so breit, aber gleichwohl sehr breit, fällt in beiden Landesteilen die Unterstützung der in Deutschland bestehenden Form der Demokratie aus. 80 Prozent der Westdeutschen und 72 Prozent der Ostdeutschen stimmen der Aussage zu, die in der Bundesrepublik existierende Form der Demokratie sei die beste Staatsform; nur 13 bzw. 17 Prozent halten eine andere Form der Demokratie für besser.

105. Direkte Demokratie: Bereits kurz nach der Vereinigung fand die direkte Demokratie mehr öffentliche Zustimmung als die repräsentative Demokratie, und diese Präferenz war in den neuen Bundesländern sehr viel stärker ausgeprägt als in den alten (67 zu 18 % im Osten gegenüber 47 zu 39 % im Westen). Allerdings entwickelten sich die Einstellungen in der Folgezeit im westlichen und im östlichen Landesteil unterschiedlich. In den alten Bundesländern nahm die Vorliebe für eine direkte Demokratie seit 1991 deutlich zu, nämlich von 47 auf heute 60 Prozent. In Ostdeutschland blieb die Zustimmung im untersuchten Zeitraum mehr oder weniger auf dem 1991 gemessenen Niveau (67 bzw. 66 %).

106. Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie: Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lag die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in den neuen Bundesländern erheblich niedriger als in den alten Ländern. Dies blieb so bis etwa Mitte der 2000er Jahre. Seither zeigt sich jedoch klar die Konvergenz der Einstellungen. Im Jahr 2014 fielen die Ost-West-Unterschiede geringer aus als jemals zuvor: Lediglich 13 Prozent der Westdeutschen und 15 Prozent der Ostdeutschen sind mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden. Hingegen erklären 44 Prozent der Befragten in den alten Ländern und 53 Prozent in den neuen Ländern, mit dem Funktionieren der Demokratie teils zufrieden und teils unzufrieden zu sein. 42 Prozent im Westen und 32 Prozent im Osten sind weitgehend oder völlig zufrieden mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland.

107. Demokratiezufriedenheit und repräsentatives System: Im Westen wie im Osten der Bundesrepublik sinkt die Zustimmung zur demokratischen Ordnung der Bundesrepublik mit abnehmender Demokratiezufriedenheit. Ein etwas schwächerer, aber gleichwohl erkennbarer Zusammenhang besteht auch zwischen der Zustimmung zur Demokratie in der Bundesrepublik und der Bevorzugung einer repräsentativen Demokratie. In beiden Landesteilen schwächt der Wunsch nach (mehr) direkter Demokratie die Unterstützung der in der Bundesrepublik bestehenden Form der Demokratie ab. In Ost wie West favorisiert jedoch auch unter den Befürwortern der direkten Demokratie eine klare Mehrheit die in der Bundesrepublik existierende demokratische Ordnung, die bekanntlich im Kern repräsentativ ist.

108. Generationeneffekte der Einstellung zur Demokratie: Alles in allem unterscheidet sich die Unterstützung der Demokratie durch die einzelnen Alterskohorten weniger stark, als es vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungshorizonte zu erwarten wäre. Dennoch schwächt sich der West-Ost-Unterschied, wie erwartet, von der ältesten bis zur jüngsten Kohorte kontinuierlich ab. In den beiden ältesten Gruppen tritt ein statistisch signifikantes, allerdings schwaches West-Ost-Gefälle in der Unterstützung der Demokratie zutage, in den beiden jüngeren Gruppen ist das nicht mehr der Fall. Bezüglich der Unterstützung der in der Bundesrepublik bestehenden Form der Demokratie zeigt sich ein ähnliches Bild. Je jünger die Gruppe, desto stärker unterstützt sie die bundesdeutsche Form der Demokratie. Vom erwarteten Muster weicht lediglich die Kohorte ab, die zwischen dem Mauerbau und dem Abschluss des Grundlagenvertrages sozialisiert worden ist. Hier tritt der weitaus größte Ost-West-Unterschied auf. Die ost- und westdeutschen Alterskohorten unterscheiden sich auch in ihrer Demokratiezufriedenheit.

109. Annäherung im Demokratieverständnis der Altersgruppen: Die Nach-Wende- Kohorten stellen mithin die wichtigste Trägergruppe des Fortschreitens der kulturellen Integration im vereinigten Deutschland. Damit ist das Muster der politischen Entwicklung seit 1990 aber nur zum Teil erfasst. In den älteren Kohorten haben sich die Ost- West-Unterschiede nämlich ebenfalls abgeschwächt. Die Unterstützung der Demokratie erfasst somit inzwischen alle Generationseinheiten, wenngleich dieser Diffusionseffekt in den älteren Generationseinheiten schwächer ausgeprägt ist als bei den nach der Wiedervereinigung sozialisierten Altersgruppen.

110. Vertrauen in politische Institutionen: Vergleicht man nun das Vertrauen der Ost- und Westdeutschen zu politischen Institutionen und Akteuren im Jahr 2014, so sind fast keine substanziellen Unterschiede mehr auszumachen. Zwar bestehen einzelne statistisch signifikante Ost-West-Differenzen im Vertrauen zu den politischen Institutionen fort, diese sind jedoch sehr schwach ausgeprägt. Noch wichtiger: Für keine Institution findet sich die aus früheren Untersuchungen bekannte Konstellation, dass im Westen Vertrauen, im Osten aber Misstrauen überwiegt. Von geringfügigen Abweichungen abgesehen, entspricht das Niveau des Vertrauens zu einzelnen Institutionen der aus der Forschung bekannten Rangfolge. Polizei und Gerichte genießen großes Vertrauen. Der Öffentlichen Verwaltung, dem Deutschen Bundestag und den Vereinten Nationen bringt die Bevölkerung immerhin mehr Vertrauen als Misstrauen entgegen. Überwiegend kritisch-distanziert stellt sich hingegen das Verhältnis der Bürger zum Europäischen Parlament, zu den Parteien und zu den Politikern dar. Bezüglich der Parteien machen die Bürger allerdings einen interessanten Unterschied: Während sie den Parteien im Allgemeinen eher misstrauen als vertrauen, bringen sie der von ihnen persönlich bevorzugten Partei nahezu so viel Vertrauen entgegen wie den Gerichten und der Polizei, oder vertrauen ihr sogar mehr.

111. Institutionenvertrauen im Generationenvergleich: Hinsichtlich der Alterskohorten-Effekte sind nur schwache, zumeist statistisch insignifikante Ost-West-Unterschiede erkennbar. Noch etwas weniger als bei der Unterstützung der Demokratie (siehe oben) erweist sich das Vertrauen zu den politischen Institutionen als eine in allen west- und ostdeutschen Alterskohorten weitgehend gleich verteilte politische Einstellung. Die Marge des Vertrauens ist im Osten zwar geringfügig schwächer ausgeprägt als im Westen. Doch weichen beide Landesteile in ihrem Vertrauen zu den politischen Institutionen nur graduell voneinander ab.

112. Kognitives Engagement: In empirischen Untersuchungen zum kognitiven Engagement der Bürger in den frühen 1990er Jahren hatten sich keine grundlegenden Ost- West-Unterschiede nachweisen lassen. Dies betrifft das politische Interesse und die Aufnahme politischer Informationen aus den Massenmedien (Fernsehen und Tageszeitungen) ebenso wie das politische Wissen, das subjektive Verständnis politischer Probleme und die wahrgenommenen Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Politik. Diesen Befund schreibt der langfristige Trend bis ins Jahr 2014 fort. Bei keiner der Unterdimensionen Interesse, subjektives Verständnis politischer Sachverhalte, wahrgenommene politische Einflussmöglichkeiten besteht aktuell ein nennenswerter Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen. Ordnet man die im Jahr 2014 erhobenen Daten in die längerfristige Entwicklung ein, so erreicht das kognitive Engagement der ost- und westdeutschen Bevölkerung aktuell einen Spitzenwert.

113. Verteilung des kognitiven Engagements über die Generationen: In ihrem politischen Interesse unterscheiden sich die Angehörigen der west- und ostdeutschen Alterskohorten kaum voneinander. In einigen Kohorten fällt das Interesse in Ostdeutschland höher aus als im Westen, in anderen verhält es sich umgekehrt. In Übereinstimmung mit dem Stand der Forschung interessiert sich die jüngste Altersgruppe – im Osten wie im Westen – am wenigsten für Politik. Ähnlich stellt sich die Sachlage beim subjektiven Verständnis politischer Fragen dar, das im Osten wie im Westen in den mittleren Alterskohorten am stärksten, bei älteren und jüngeren Jahrgängen hingegen am schwächsten ausgeprägt ist.

114. Politische Partizipation: Die in früheren empirischen Studien erkennbaren unterschiedlichen Partizipationsmuster in den alten und den neuen Bundesländern sind inzwischen teilweise eingeebnet. Die Stimmabgabe bei Wahlen stellt nach wie die einzige Form politischer Einflussnahme dar, derer sich eine Mehrheit der Bürger West- und Ostdeutschlands bedient. Erwartungsgemäß liegt die Teilnehmerquote an Referenden deutlich unter der von Parlamentswahlen. In einer politischen Partei und an einer angemeldeten Demonstration beteiligen sich in beiden Landesteilen durchschnittlich weniger als zehn Prozent der Befragten. Kontakte zu Politikern unterhalten zehn bis zwanzig Prozent und die Teilnahmequote bei Unterschriftenaktionen liegt zwischen 25 und 35 Prozent. Größere Ost-West-Unterschiede zeigen sich lediglich noch bei der Teilnahme an ethisch motivierten Produktboykotts, die in den letzten Jahren in Westdeutschland auf über 30 Prozent anstieg, während sie in Ostdeutschland weit weniger verbreitet ist und ein Niveau von maximal 20 Prozent erreicht.

115. Beteiligungsschwerpunkte Ost und West: Bei etlichen Partizipationsformen sind andererseits nach wie vor deutliche Differenzen zwischen West- und der Ostdeutschen zu verzeichnen. Auf einem – je nach Aktivität zwischen 30 und 50 Prozent variierenden – Teilnahmeniveau lag im Jahr 2014 zwischen West- und Ostdeutschen eine Differenz von sechs (Unterschriftensammlungen, direktdemokratische Verfahren), acht (Aktivität in Freiwilligenorganisationen) bzw. 14 Prozentpunkten (Produktboykotts). Kontakte zu Politikern werden von Ostdeutschen ebenfalls wesentlich seltener als Mittel politischer Einflussnahme genutzt als von Bewohnern der alten Bundesländer, sie spielen aber im Partizipationssystem der alten und der neuen Länder dennoch eine wichtige Rolle. Das gleiche gilt für die Beteiligung an Bürgerdialogen und an Planungsprozessen, die im Westen und im Osten annähernd gleich breit genutzt werden. Nur ein relativ kleiner Teil der Ost- und Westdeutschen partizipiert hingegen über soziale Netzwerke, geht zu Demonstrationen oder arbeitet in politischen Parteien mit.

116. Regional unterschiedliche Beteiligungssysteme: Nahezu 80 Prozent der Westdeutschen und fast 70 Prozent der Ostdeutschen beteiligen sich in irgendeiner Form aktiv am politischen Geschehen. Der Anteil der nur schwach Involvierten, also jener, die nur auf eine der erfassten Aktivitäten zurückgreifen, umfasst im Westen wie im Osten lediglich ein Fünftel der Bevölkerung. Demzufolge nutzen 60 Prozent der Westdeutschen und die Hälfte der Ostdeutschen mindestens zwei über die Teilnahme an Wahlen hinausgehende Beteiligungsformen, um Einfluss auf die Politik zu nehmen. Ein Viertel der Westdeutschen und 16 Prozent der Ostdeutschen beteiligen sich an der Hälfte der neun erfassten Aktivitäten. Der durchschnittliche Westdeutsche gibt etwas mehr als zwei solcher Aktivitäten an, der durchschnittliche Ostdeutsche knapp zwei Aktivitäten. Diese Daten belegen ein bemerkenswert hohes Niveau politischer Partizipation in Deutschland, allerdings auch ein deutliches West-Ost-Gefälle, das in früheren Untersuchungen weniger sichtbar war.

117. Verknüpfung konventioneller und unkonventioneller politischer Partizipation: Auch die Bevölkerungsumfrage 2014 bestätigt in West- wie in Ostdeutschland eine positive Beziehung zwischen der Beteiligung an beiden Aktivitätsformen. Demnach gehören die meisten Befragten in beiden Landesteilen entweder zur Gruppe der Inaktiven (West: 21 %, Ost 31 %) oder zu denjenigen, die zwecks Durchsetzung ihrer Interessen sowohl auf traditionelle als auch auf alternative Formen des politischen Engagements setzen (West: 41 %, Ost: 31 %). Dem stehen deutlich kleinere Gruppen von „Partizipationsspezialisten“ gegenüber. Ausschließlich traditionell engagiert sind in den alten und den neuen Ländern jeweils neun Prozent der Befragten, ausschließlich alternativer Formen des Engagements bedienen sich jeweils 29 Prozent.

118. Ost-West-Differenzen politischer Partizipation: Im Ausmaß und in der Art politischer Partizipation unterscheiden sich die Bürger im Osten und im Westen Deutschlands im Jahr 2014 mithin deutlich voneinander. Im Vergleich mit den Jahren zuvor scheinen diese Unterschiede sogar eher gewachsen zu sein als abgenommen zu haben. Die festgestellten Differenzen sind auch in der Nachwendegeneration anzutreffen. Anders als bei den meisten politischen Einstellungen, weisen die nach 1990 sozialisierten Menschen in Ost- und Westdeutschland in ihrem aktiven politischen Engagement keine besonders große Ähnlichkeit miteinander auf. Die einzige Ausnahme bildet die Wahlbeteiligung. Zunächst muss es hier bei der Feststellung bleiben, dass die Konvergenz der politischen Orientierungen der West- und Ostdeutschen weiter fortgeschritten ist als auf der Ebene des politischen Verhaltens. Dies gilt insbesondere für die nach der Wiedervereinigung sozialisierten Bevölkerungsgruppen.

119. Räumliche Verbundenheit Ostdeutscher: Eine starke Verwurzelung und Identifikation mit geografisch abgrenzbaren Einheiten kann die Wahrscheinlichkeit von bürgerschaftlichem und politischem Engagement erhöhen sowie die Abwanderungsquote verringern. Am stärksten fühlen sich Bürger Ostdeutschlands im Jahr 2014 mit ihrem Wohnort verbunden, gefolgt von Bundesland, Ostdeutschland, Gesamtdeutschland und Europa. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Verbundenheit mit dem staatsrechtlich nicht mehr existierenden Gebilde Ostdeutschland größer ist als mit Gesamtdeutschland. Die Bürger der neuen Bundesländer nehmen sich demzufolge auch heute noch eher als Ostdeutsche denn als Gesamtdeutsche wahr. Gleichwohl liegt der Anteil derer, die sich im Osten stark oder sehr stark mit Deutschland identifizieren, mit 68 Prozent nur unwesentlich unter den 72 Prozent in Westdeutschland. Die Verbundenheit zum jeweiligen „anderen“ Teil Deutschlands ist in beiden Landesteilen am schwächsten ausgeprägt.

120. Räumliche Verbundenheit Westdeutscher: Im Westen des Landes zeigt sich ein etwas anderes Bild. Primärer gefühlsmäßiger Bezugsrahmen ist hier nicht der Wohnort, sondern das Bundesland; es folgen der Wohnort, Deutschland, Westdeutschland, Europa und, wie bereits erwähnt, an letzter Stelle Ostdeutschland. Insgesamt liegt die Identifikation mit Deutschland als Ganzem höher als mit dem Teil, in dem man wohnt bzw. aufgewachsen ist. Ausgeprägte Unterschiede im jeweiligen Verbundenheitsniveau lassen sich zwischen Ost und West (mit der Ausnahme West- bzw. Ostdeutschland) nicht nachweisen.

121. Räumliche Bindung nach Generationen: Richtet man den Blick auf die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen, so zeigen sich zwischen Ost und West kaum noch Differenzen. In beiden Landesteilen ist hier die Verbundenheit mit dem Bundesland höher als diejenige mit dem unmittelbaren örtlichen Wohnumfeld, was auf eine generell höhere Mobilitätsbereitschaft der jüngeren Generation hindeutet. Es folgt die Verbundenheit mit dem Wohnort, gleichauf mit Gesamtdeutschland, und erst an vierter Stelle diejenige mit West- bzw. Ostdeutschland. Bei jüngeren Befragten scheint das vereinigte Deutschland bereits einen identitätsstiftenden Rahmen jenseits des Bundeslandes abzugeben.

122. Sozialer Zusammenhalt: Vorliegende Studien weisen für Ostdeutschland einen explizit niedrigeren sozialen Zusammenhalt aus. Annahmen zufolge, könnten sich Effekte erodierender Verbundenheit nachteilig auf politische und bürgerschaftliche Engagementbereitschaft auswirken. Dieser vermutete Zusammenhang wird anhand der Daten unserer Bevölkerungsumfrage in seiner Voraussetzung nicht bestätigt. Denn gut 60 Prozent der Befragten in Ost und West geben an, dass das sie umgebende soziale Gefüge durch Vertrauen und Zusammenhalt geprägt ist. Nur etwa 10 Prozent bekunden gegenteilige Erfahrungen, und zwar auch hier ohne regionale Unterschiede. Die Wirkung von sozialem Zusammenhalt auf politische oder soziale Partizipation ist eher schwach ausgeprägt.

123. Beurteilung der wirtschaftlichen Lage: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland wird aktuell ganz überwiegend positiv wahrgenommen. Dabei ist ohne Belang, ob die Befragten aus dem Westen oder Osten des Landes kommen. Im Spiegel der Daten bestätigt sich dieser Trendverlauf für 2014. Nur Minderheiten stufen die wirtschaftliche Entwicklung allgemein und persönlich in Ost und West als schlecht bzw. sehr schlecht ein. In beiden Teilen des Landes hat die mittlere Einschätzung der ökonomischen Situation (teils/teils) in den letzten zwei Jahren weiter zugenommen, dabei etwas stärker in Ostdeutschland. Differenzen zwischen Ost und West, die 2012 noch gemessen worden waren, scheinen in den aktuellen Daten nicht mehr auf. So wird auch der wirtschaftliche Lauf in Ostdeutschland wie in Westdeutschland sowohl durch ostdeutsche als auch durch westdeutsche Befragte nahezu gleichlautend bewertet.

124. Einschätzung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung: Ein in beiden Landesteilen überwiegend gleichlautendes Stimmungsbild schält sich heraus, was die Einschätzung der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung im Land betrifft. Die ökonomische Zukunft wird im Osten sogar etwas optimistischer eingeschätzt als im Westen. Allerdings sind diese Differenzen nur marginal ausgeprägt. Auch bezüglich der Prognose für die eigene Situation in naher Zukunft liegen Ost- und Westdeutsche gleichauf. 25 Jahre nach der friedlichen Revolution hat sich die Schere innerhalb der auf das Schlüsselthema Wirtschaft gerichteten Stimmungslage weitgehend geschlossen.

125. Allgemeine Lebenszufriedenheit: Eng verwoben mit der Einschätzung der eigenen wirtschaftlichen Situation ist die allgemeine Lebenszufriedenheit. Diese liegt in Deutschland mittlerweile ebenfalls auf einem einheitlich hohen Niveau und unterscheidet sich zwischen Ost und West nur noch gering. Die Anteile der „eher“ und „sehr Zufriedenen“ liegen mit 83 Prozent im Westen und 76 Prozent im Osten außerordentlich hoch. Demgegenüber stehen 3 bzw. 5 Prozent, die mit ihrem Leben unzufrieden sind.

126. Ost-West-Unterschiede als Effekt unterschiedlicher Ressourcenausstattung: Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass individuell verschiedene Einschätzungen, speziell was die wirtschaftliche Lage und die Lebenszufriedenheit betrifft, nicht auf verallgemeinerbare Ost-West-Unterschiede zurückgeführt werden können. Vielmehr beruhen sie auf unterschiedlich verteilter individueller Ressourcenausstattung und differenten anderen Struktur- und Einstellungsmustern, die in beiden Landesteilen gleichermaßen wirksam sind. Dazu zählen u.a. Bildung, Einkommen, relative Deprivation, persönliche Einheitsbilanz und auch die Parteipräferenz.

Die vollständige Kurzzusammenfassung der Studie finden sie hier.