Laudatio von Uli Jentsch vom "antifaschistischen pressearchiv und bildungszentrum berlin e.v. apabiz" auf die bundesweit erste Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, die Opferperspektive Brandenburg, die am 13. September 2013 ihr 15-jähriges Bestehen feierte.
"Liebes Team der Opferperspektive, liebe Leute,
Ich habe mir in der Vorbereitung auf diesen Tag die Stationen eurer 15-jährigen Arbeit nochmal angeschaut und gemerkt, dass die Details eurer Arbeit, die manchmal ja auch unter unserer Mitarbeit geschah, eigentlich nicht das sind, was mich in erster Linie interessiert. Zumindest heute nicht.
Ich möchte vielmehr auf zwei Dinge aufmerksam machen, die ich an der IDEE Opferperspektive und an der mit dem Projekt Opferperspektive im Jahr 1998 begonnenen politischen Strategie wichtig und wesentlich finde, zwei Aspekte, die weit über die alltäglichen Details der Arbeit hinaus weisen und die es meiner Meinung nach wert sind, hier gewürdigt zu werden. Zwei Aspekte, die in der Rückschau politisch durchaus mutig und gewagt waren. Und die gleichzeitig die richtigen Schlüsse aus der politischen Sackgasse waren, in die antifaschistische Arbeit geraten war, die also genau zu dem Zeitpunkt kamen, als neue Ideen dringend gebraucht wurden.
Die zwei Aspekte sind erstens die parteiliche, unvoreingenommene Solidarität mit allen, die von Rassismus und Neonazismus bedroht sind und zweitens die Forderung an die gesamte Gesellschaft – und damit auch an die gesamte antirassistische und antifaschistische Bewegung – nach nicht weniger als einem Paradigmenwechsel von der Täter- zur Opferperspektive.
Warum sind diese beiden Punkte so bedeutend? Weil sie alte Ordnungen auf den Kopf stellen können!
Die erste Hälfte der 90er-Jahre waren eine ungezählte Abfolge von Drohungen, Demütigungen, Angriffen, Überfällen, Anschlägen. Die Wochen begannen damit, die Zahl der Angriffe durch Neonazis quer durch die Republik zu zählen ohne überhaupt darauf zu hoffen, dass es keine gegeben haben könnte.
Doch statt Solidarität mit den Angegriffenen gab es flächendeckend Verständnis für die Täter. Von der Nachbarschaft, von den Eltern, den kommunal Verantwortlichen, von manchen Landespolitiker_innen, – von viel zu vielen Landespolitiker_innen – oftmals und auch nicht selten offen von der Polizei. Es waren alles "unsere Jungs" und selbst für deren Mordbrennerei wurden nachträglich Entschuldigungen gefunden oder offene Sympathie bekundet.
An vielen Orten wurde diese rassistische Jugend, diese „Generation Hoyerswerda“, mit Betreuung durch Sozialarbeit und eigenen Räumen belohnt durch ein Bundesprogramm gegen Gewalt, durchgeführt unter einer Familienministerin Merkel. Dadurch wurden nicht selten Stützpfeiler für den späteren Aufbau "national befreiter Zonen" geschaffen.
Und 1998? Die Welle der härtesten Konfrontationen war vorbei. Die Naziszene veränderte sich auch wegen des gestiegenen Repressionsdrucks. Aber auch die alten antirassistischen und antifaschistischen Konzepte von Gegenwehr waren in einer Sackgasse angekommen. Nicht weil sie nicht erfolgreich gewesen waren. Im Gegenteil. Doch sie erreichten nicht mehr die, die es zu erreichen galt. Die alten Konzepte warben nicht aktiv um die, die es brauchte, um in einem Bündnis die gesellschaftliche Stigmatisierung all der potenziellen Opfer als "Randgruppen" zurückzudrängen. Die antirassistische und antifaschistische Bewegung war marginalisiert oder zog sich in subkulturelle Nischen zurück.
In dieser Situation war das neue am Konzept der Opferperspektive der Versuch, mit allen, die Gewalt ablehnen, eine breite Koalition zu bilden und gemeinsam die gesellschaftliche Ächtung rechter Gewalt zu erreichen.
Die Ausblicke, die sich aus diesem Konzept ergeben, sind enorm. Es bedeutete nicht nur die eigene politische Perspektive zu verändern sondern auch in der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung dafür zu werben, diesen Wechsel mitzumachen. Das war manchmal erfolgreich, aber nicht immer und nicht durchgehend. Es bedeutete auch, mit all denen in der Gesellschaft in Konflikt zu geraten, die schon bisher den Rassismus und den Neonazismus klein reden wollten.
Die Forderung nach solch einem Paradigmenwechsel hat inzwischen objektiv an Raum gewonnen. Es haben sich mehr Menschen und mehr gesellschaftliche Gruppen dieser Forderung angeschlossen, als sich am Anfang hoffen ließ. Das ist der Erfolg der Idee Opferperspektive.
Aber 15 Jahre später muss auch selbstkritisch gesagt werden, dass diese Forderung eben bei weitem nicht genug Raum gegriffen hat. Im selben Jahr als die Opferperspektive gegründet wurde, flüchteten drei junge Neonazis aus Jena vor der Polizei. Sie gingen später in den Untergrund und gründeten den NSU. Sie gehörten zu der eben beschriebenen Generation Hoyerswerda. Und sie zogen ihre eigenen Schlüsse aus der Sackgasse, in die die neonazistische Mobilisierung geraten war. Sie mordeten und bombten anschließend als NSU aus rassistischen Motiven gegen migrantische Menschen. Das alles wisst ihr.
Wir stecken gerade mitten in einer grundsätzlichen, tief gehenden Revision dessen, was der Neonazismus in den 1990er-Jahren war oder gewesen sein soll. Es gibt kaum ein Bundesland, dass sich nicht gezwungen sieht, die wohlfeilen Einschätzungen vergangener Jahre und – und das ist besonders wichtig – die eigene Mitschuld am Naziterror zu thematisieren. (Brandenburg tut sich allerdings schwer damit, was die Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz angeht).
Die Diskussionen zum NSU hat deutlich gemacht:
1. es hat in den gesamten 90er-Jahren nicht an Warnungen und Hinweisen auf das terroristische Potenzial der Nazi-Szene in Deutschland gefehlt. Die handfesten Auswirkungen einer hegemonialen, von Menschenverachtung angetriebenen gewalttätigen Jugendkultur auf das Lebensrecht ihrer Opfer, die Bedrohungen, Demütigungen, Schläge und Morde wurden Jahre lang deutlich beschrieben und beklagt. Dass die Klagen nicht gehört wurden, hat an der moralischen Komplizenschaft großer Teile der Gesellschaft mit dieser rassistischen Mobilisierung gelegen.
2. die Solidarität mit allen Angegriffenen durch eine kritische Öffentlichkeit war nicht groß genug. Die Angehörigen der NSU-Mordopfer wurden bespitzelt, denunziert, politisch und sozial allein gelassen. Dass wir alle diese nicht gehört haben, liegt auch daran, dass der Paradigmenwechsel eben noch nicht durchgesetzt ist. Dass wir eben nicht parteilich für die Opfer, solidarisch an ihrer Seite standen.
Deshalb möchte ich uns allen heute nochmal ausdrücklich den Einsatz für diesen Wechsel hin zur Opferperspektive ans Herz legen, denn die 90er-Jahre sind vor dem Hintergrund heutiger Ereignisse wie der täglichen Hetze gegen Geflüchtete, in Hellersdorf, Waßmannsdorf und Duisburg viel näher und virulenter, als wir vielleicht wahr haben wollen.
Wer sich als Laudator einen Vertreter des apabiz einlädt, kann nicht nur mit Lob rechnen, egal wie. So sympathisch und grundsätzlich richtig die Idee Opferperspektive ist: es gibt ganz spezielle Fallen, die diese Idee in der Praxis birgt, vor allem, falls sie sich einem übertriebenen Pragmatismus hingibt.
Die Kritik an der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung kann schnell zu einem zynischen Abschied von all diesen furchtbar anstrengenden Bewegungen geraten. Das Bündnis mit der antirassistischen und antifaschistischen Bewegung darf aber meiner Meinung nach nie zur Disposition stehen.
Und: Die Notwendigkeit, mit Institutionen und ihren Vertreter_innen umzugehen, kann in Vertrautheit und Distanzlosigkeit umschlagen. Und die Notwendigkeit, sich staatlicher Förderung zu versichern, kann zu faulen Kompromissen führen.
Wie nahe ihr selber diesen und anderen Fallen der Staatsantifa gekommen seid, müsst ihr selber entscheiden. Ich habe dazu ein schönes Zitat entdeckt, das zeigt, wie es geht und das eure Arbeit beschreibt, ja geradezu lobt. Und das aus – sagen wir mal berufenem Munde stammt. Die eine oder der andere weiß vielleicht auch noch, wer es sagte:
"Die Opferperspektive befand sich mehr in der Auseinandersetzung mit dem Staat als mit dem Rechtsextremismus" ... "Ich weiß nicht, inwiefern das Veröffentlichen verschiedener Opferzahlen wirklich einen Beitrag leistet." Zwar habe das Bekämpfen des Rechtsextremismus oberste Priorität, "aber Wichtigkeit heißt ja nicht unbedingt Staatsgeld," Zitat Ende.
Das belegt: Die Opferperspektive macht seit 15 Jahren eine herausragende Arbeit und dass ihr mit eurem Projekt 15 Jahre lang trotz aller Widerstände und Rückschläge immer weiter gemacht habt, das macht auch klar: ihr seid ein erfolgreiches Projekt. Herzlichen Glückwunsch dazu und vielen Dank!"