Passage zur NSU im Verfassungsschutzbericht 2011, 18.7.2012
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2. Formen der Gewaltbereitschaft
2.1 Rechtsterrorismus / „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU)
Im November 2011 wurde die Existenz der rechtsterroristischen Gruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) bekannt. Gegen die Mitglieder und Unterstützer der Gruppierung führt der Generalbundesanwalt (GBA) ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB. Nach bisherigen Erkenntnissen bildeten den Kern des NSU die drei Rechtsextremisten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Im Zeitraum von 2000 bis 2006 verübten zumindest die beiden Männer insgesamt neun Morde an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund im gesamten Bundesgebiet („Ceska-Mordserie“) und einen Mord bzw. Mordversuch an zwei Polizeibeamten in Heilbronn im April 2007. Darüber hinaus werden die Mitglieder des NSU verdächtigt, zumindest für zwei Bombenanschläge 2001 und 2004 in Köln verantwortlich zu sein. Überdies werden dem NSU neben diesen Taten mindestens vierzehn Banküberfälle sowie ein Überfall auf einen Lebensmitteldiscounter zur Last gelegt.
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren seit den 1990er Jahren überwiegend in der thüringischen rechtsextremistischen Szene aktiv. Sie betätigten sich im „Thüringer Heimatschutz“ (THS), einem Zusammenschluss neonazistischer Kameradschaften, dem seinerzeit rund 120 Personen angehörten. Böhnhardt war 1997 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden, nachdem er im Jahr zuvor einen Puppentorso mit einer Bombenattrappe und dem Schild „Jude“ an einer Autobahnbrücke befestigt hatte. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe standen zudem im Verdacht, Bombenattrappen an eine Zeitungsredaktion, eine Polizeidirektion und die Stadtverwaltung in Jena verschickt zu haben. 1998 setzten sich die drei im Zuge von Durchsuchungsmaßnahmen der Polizei, bei denen vier funktionsfähige Rohrbomben und 1,4 kg Sprengstoff sichergestellt wurden, ab und entzogen sich den gegen sie ergangenen Haftbefehlen durch Flucht.3 Den Sicherheitsbehörden gelang es in den folgenden Jahren nicht, den Aufenthalt des Trios festzustellen oder ihm die Mordserie zuzuordnen. Erst im Zusammenhang mit einem Banküberfall in Eisenach (Thüringen) im November 2011, in dessen Nachgang sich Böhnhardt und Mundlos gegenseitig bzw. selbst erschossen, gelangten die Rechtsextremisten wieder in den Blick der Öffentlichkeit bzw. der Sicherheitsbehörden. Zschäpe, die mutmaßlich die Wohnung der NSU-Mitglieder in Zwickau (Sachsen) zur Explosion gebracht hatte – stellte sich mehrere Tage nach dem Tod der beiden der Polizei.
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Bewertung
Entstehung und Existenz des NSU sind – aus heutiger Sicht und unter Berücksichtigung des derzeitigen Erkenntnisstandes – im Kontext der Entwicklung des Rechtsextremismus in den 1990er Jahren zu werten. In dieser Zeit ist der Rechtsextremismus jünger, aktionistischer und militanter geworden, ein Befund, der bis in die Gegenwart trägt. Die Zahl der Gewalttaten stieg hierbei rapide an. Brandanschläge wie der in Solingen oder die Ausschreitungen eines fremdenfeindlichen Mobs in Rostock-Lichtenhagen stehen beispielhaft für eine Serie rassistisch motivierter, gewaltsamer Übergriffe.
Zugleich kursierten im rechtsextremistischen Spektrum Texte, die zum bewaffneten Kampf aufrufen. Verbreitet und diskutiert wurden beispielsweise der von William Pierce (unter Pseudonym) in den „Turner Diaries“ propagierte Rassenkrieg und das von Louis Beam entworfene Konzept des „leaderless resistance“, welches autonome terroristische Aktionen voneinander unabhängiger Zellen vorsieht. In Schriften des neonazistischen Netzwerks „Blood & Honour“ (in Deutschland im Jahr 2000 durch den Bundesminister des Innern verboten) wurden diese Ideen aufgenommen bzw. ähnliche Überlegungen angestellt und weiterverbreitet.
Unabhängig davon, ob die Mitglieder des NSU derartige Strategiepapiere bei ihren Taten als konkrete Handlungsleitlinien verwendeten, erscheint ihre Prägung durch derartige Schriften und das oben beschriebene Milieu des gewaltbereiten Rechtsextremismus der 1990er Jahre aufgrund ihres Vorlaufs naheliegend. In jedem Fall ist die radikale Fremdenfeindlichkeit der Szene als ideologische Basis der Terrorzelle anzusehen. So rechtfertigte auch der NSU seine Morde mit dem „Erhalt der deutschen Nation“. Ausgehend von einer Ideologie der Ungleichheit und einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit erfahren Personen „undeutscher Herkunft“ eine Abwertung und Entmenschlichung. Dies ist der Nährboden für fremdenfeindliche Gewalt.
Terrorismus – der mittels schwerer Straftaten an Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen geführte „bewaffnete Kampf“ für politische Ziele – kann auch als Kommunikationsstrategie verstanden werden. Er zielt einerseits darauf, Unsicherheit, Angst und Schrecken zu verbreiten. Andererseits sollen Sympathie und Unterstützung im eigenen Lager erzeugt werden. Hierzu verfassten die Mitglieder des NSU entsprechende Tatbekennungen, die aber aus bislang unbekannten Gründen erst Ende 2011 öffentlich verbreitet wurden. Die Taten des NSU sind als solche geeignet, diese doppelte Kommunikationswirkung zu entfalten. Sie erzeugen Unsicherheit und Angst bei Migranten und können in der rechtsextremistischen Szene mit – teilweise allerdings unausgesprochener – Sympathie rechnen.
Da Fremdenfeindlichkeit ein wesentliches Grundelement des Rechtsextremismus ist, sind Nachahmungstaten denkbar. Der unvermittelte Angriff auf Menschen, die dem Feindbild der rechtsextremistischen Szene entsprechen, könnte von potentiellen Nachahmern als Strategie nach der vom NSU verwandten These „Taten statt Worte“ verstanden werden. Eine unmittelbare Übernahme dieser Vorgehensweise ist allerdings nicht die einzige, künftig zu beachtende Möglichkeit rechtsterroristischer Aktivitäten. Die „Wiederentdeckung“ von Konzepten der Vergangenheit (z.B. „leaderless resistance“) ist ebenso vorstellbar wie eine Beeinflussung durch Vorgehensweisen von Terroristen anderer Phänomenbereiche. Dort wie hier erhöht sich infolge der vielfältigen Möglichkeiten internetbasierter Kommunikation die Gefahr von Gewalttaten durch selbstradikalisierte Einzeltäter oder Kleinstgruppen.
Den vollständigen Bericht finden Sie hier.