Positionspapier einer Gruppe von elf EU-Außenministern zur Überwindung der Staatsschuldenkrise und zur Zukunft Europas, 17.9.2012
Einleitung und Zusammenfassung
Die Europäische Union steht an einer entscheidenden Wegmarke. Die andauernde Staatsschuldenkrise und der sich immer weiter verstärkende Prozess der Globalisierung stellen eine doppelte Herausforderung für Europa dar. Wir müssen ihr gerecht werden, wenn wir eine gute Zukunft für unseren Kontinent wollen, in der wir unsere Interessen kraftvoll vertreten und die Werte Europas überzeugend realisieren und vermitteln können.
Die Krise hat längst auch eine politische Dimension. In vielen Teilen Europas sind Nationalismus und Populismus vor dem Vormarsch, während gleichzeitig Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa nachlassen. Wir müssen das Vertrauen in unser gemeinsames Projekt wieder herstellen. Die politische Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts muss jetzt geführt, und sie muss in ganz Europa geführt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas einbezogen werden.
In dem nachfolgenden Bericht unterbreiten wir konkrete Vorschläge, die sich mit den Herausforderungen befassen sollen, mit denen Europa konfrontiert ist. Einige sind kurzfristiger, einige langfristiger Natur. Viele können innerhalb der bestehenden Verträge umgesetzt werden, für einige sind möglicherweise Vertragsänderungen erforderlich. Es kommt darauf an, die richtige zeitliche Abfolge zu finden und Ausgewogenheit zu gewährleisten, indem das, was realistischerweise frühzeitig erreicht werden kann, mit der längerfristigen Perspektive und Vision für ein stärkeres Europa verknüpft wird. Die Stärkung der WWU ist eindeutig das Schlüsselelement in unseren Bemühungen zur Überwindung der derzeitigen Krise.
Der Bericht spiegelt unsere persönlichen Gedanken wider. Wir betonen, dass nicht alle teilnehmenden Minister mit allen Vorschlägen einverstanden sind, die im Laufe unserer Diskussionen vorgebracht worden sind, und dass die individuellen vertraglichen Verpflichtungen und Rechte der Mitgliedstaaten innerhalb der einzelnen Politikbereiche berücksichtigt werden müssen. Die Vorschläge können wie folgt zusammengefasst werden:
I. Die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion hat absolute Priorität. Der Euro hat handfeste wirtschaftliche Vorteile, und er ist das mächtigste Symbol der europäischen Integration. Unsere Vorschläge leisten einen konkreten Beitrag zur Reform der WWU, die im Juni vom Europäischen Rat angestoßen wurde. Dabei liegt unser Schwerpunkt auf Initiativen im Rahmen der bestehenden Verträge. Wir sollten jedoch die Möglich- keit von Vertragsänderungen nicht ausschließen, sollten sich diese als erforderlich erweisen. Wir müssen
– den bereits gestärkten integrierten Haushaltsrahmen noch weiter voranbringen durch Schaffung von Mechanismen auf EU-Ebene, sowohl um zu überwachen, dass die Haushalte der Mitgliedstaaten den europäischen Regeln entsprechen und um die europäische Solidarität weiterzuentwickeln;
– die Abstimmung der Wirtschaftspolitik zwischen den Mitgliedstaaten in ausge- wählten Bereichen, die für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung sowie für die Stabilität der Eurozone von entscheidender Bedeutung sind, verbindlicher machen. Dies wird dabei helfen, bestehende Ungleichgewichte zu überwinden und die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt zu stärken;
– einen wirksamen einheitlichen Aufsichtsmechanismus unter Einbeziehung der EZB für Banken in der Eurozone und in den Mitgliedstaaten einrichten, die sich einem solchen Mechanismus anschließen wollen;
– die volle demokratische Legitimation und Rechenschaftspflicht gewährleisten. Wenn auf europäischer Ebene zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden und diese die Kompetenzen der EU betreffen, muss das Europäische Parlament ent- weder im Rahmen der Mitentscheidung oder Konsultation einbezogen werden. Die meisten Mitglieder der Gruppe waren der Ansicht, dass, falls eine Entscheidung nur für den Euroraum und andere Mitgliedstaaten, die sich beteiligen wollen, gilt, die EP-Abgeordneten aus diesen Ländern eine besondere Rolle innehaben sollten – unter voller Achtung der Integrität der Europäischen Union und des Europäischen Parlamentes in ihrer Gesamtheit. Handelt es sich um Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, insbesondere die Haushaltskompetenz, müssen die nationalen Parlamente zustimmen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik sollte weiter gestärkt werden, indem ein ständiger gemeinsamer Ausschuss eingerichtet wird.
II. Wir glauben, dass wir nach der Überwindung der Eurokrise auch die Funktionsweise der Europäischen Union insgesamt verbessern müssen. Die EU muss insbesondere entschlossene Schritte unternehmen, um ein stärkerer Akteur auf der Weltbühne zu werden. Diese Aufgabe sollte außerhalb und getrennt von der WWU-Reform durchgeführt werden. Einige dieser Maßnahmen könnten auf der Grundlage der bestehenden Verträge erfolgen, möglicherweise sogar kurzfristig, während andere nur langfristig durch Vertragsänderungen in Angriff genommen werden können.
– Die EU muss die Kohärenz und politische Schlagkraft ihres Außenhandelns erhöhen. Wir fordern im Jahr 2013 eine grundlegende Überprüfung der Ent- scheidung über den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Die Hohe Vertreterin/Vizepräsidenten sollte für Schlüsselbereiche des Außenhandelns zuständig werden. Die EU muss ferner die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik grundlegend stärken und die Beziehungen zu ihren strategischen Partnern wirkungsvoller gestalten.
Langfristig sollten wir eine Ausweitung der Mehrheitsbeschlüsse im Bereich der GASP, eine gemeinsame Vertretung in internationalen Organisationen wo dies möglich ist und eine europäische Verteidigungspolitik anstreben. Für einige Mitglieder der Gruppe könnte dies letztlich eine europäische Armee umfassen.
– Die Stärkung konkreter politischer Maßnahmen muss mit institutionellen Reformen einhergehen. Die Kommission sollte gestärkt werden, damit sie ihre Rolle als Motor der Gemeinschaftsmethode in vollem Umfang und wirksam ausfüllen kann. Eine Möglichkeit wäre die Schaffung spezifischer Gruppen mit „Senior“- und „Junior“-Kommissaren. Der Allgemeine Rat sollte ermächtigt werden, die für ihn im Vertrag vorgesehene Koordinationsrolle in vollem Umfang wahrzunehmen. Das Europäische Parlament sollte sein demokrati- sches Profil durch die Ernennung eines europäischen Spitzenkandidaten durch jede politische Fraktion für die nächsten EP-Wahlen schärfen.
– Realistisch betrachtet, wird die Vertragsreform in einer Europäischen Union mit 28 oder mehr Mitgliedstaaten langfristig immer schwieriger. Die meisten Mitglieder der Gruppe sind der Ansicht, dass sowohl die Annahme als auch das Inkrafttreten von Vertragsänderungen (mit Ausnahme der EU-Erweiterung) durch eine super-qualifizierte Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und ihrer Bevölkerungen erfolgen sollten. Diese wären bindend für die Mitgliedstaaten, die sie ratifiziert haben.
– Am Ende eines langen Prozesses sollten wir auf ein schlankeres und leistungsfähigeres System für die Gewaltenteilung in Europa hinarbeiten, das uneingeschränkte demokratische Legitimität genießt. Für einige Mitglieder der Gruppe könnte dies einen direkt gewählten Kommissionspräsidenten, der die Mitglieder seiner „europäischen Regierung“ selbst bestimmt, ein Europäisches Parlament mit der Befugnis, Gesetzgebungsverfahren zu initiieren, und eine zweite Kammer für die Mitgliedstaaten einschließen.
Den vollständigen Bericht finden Sie hier.