Resolution des 4. Kongresses des russischen linksradikalen Bündnisses „Linksfront“, 23.8.14 (deutsche Übersetzung)
Die Linksfront ist ein 2008 gegründetes außerparlamentarisches Bündnis verschiedener russischer linksradikaler Organisationen sozialistischer, antifaschistischer und antiimperialistischer Prägung. Auf ihrem vierten Kongress, der im August 2014 stattfand, verabschiedete das Bündnis die folgende Resolution, die sich gegen den Krieg in der Ostukraine und für gemeinsame Antikriegsproteste in Russland und in der Ukraine ausspricht. Somit schließt sich diese Resolution der „Minsker Erklärung“ linker Bewegungen Weißrusslands, Russlands und der Ukraine an, die sich im Juni 2014 für eine koordinierte Antikriegskampagne in den drei Ländern ausgesprochen hatte. Am 31. August wurde in der Ukraine eine vielbeachtete Umfrage veröffentlicht, bei der etwa 57 Prozent der Befragten ein rasches Ende der sogenannten Antiterror-Operation der ukrainischen Regierung forderten. – D. Red.
Der Krieg, auch wenn er in der Ferne stattfand, hat das Leben in unseren Gesellschaften radikal verändert. Er hat auch diejenigen berührt, die dies gar nicht gemerkt haben, als sie in den sozialen Netzwerken oder vor dem Fernseher für „die ihren“ Partei ergriffen.
Durch den Krieg hat sich sogar die Sprache verändert, in der die Politik Ausdruck findet. „Fünfte Kolonne“, „Vaterlandsverräter“, „Ukri“ (abwertende Beziechnung für Ukrainer – d. Ü.), „Watniki und Koloradi“ (abwertende Bezeichnung jeweils für Russen und für prorussische Aktivisten in der Ukraine – d. Ü.) – solche Bezeichnungen haben sich plötzlich vom marginalen Slang politischer Außenseiter und geisteskranker, selbstunsicherer Nationalfreaks in den Diskurs von Mainstream-Medien und sozialen Netzwerken gewandelt. Die Sprache des Hasses kompensiert die gegenseitige Ohnmacht von Patrioten auf beiden Seiten der Informationsfront, auf das eigene Schicksal irgendwelchen Einfluss zu üben.
Ganze politische Regimes haben sich verändert. Charakterlose Bürokraten, die sich daran gewöhnt haben, mit leeren, politisch korrekten Phrasen zu jonglieren, sind von blutrünstigen Populisten verdrängt worden. Diejenigen, die „Systemliberale“ genannt wurden, sehen fast sogar heilig aus im Vergleich mit den Falken, die ihre Nachfolge angetreten sind. Anstelle freundlicher Diplomatie zwischen Pragmatisten kommen nun Sanktionen und Ultimaten; anstelle von Zusammentreffen kommt Mobilisierung.
Der gesellschaftliche Diskurs hat sich verändert. Dieser hat sich nämlich auf einen einzigen Blickpunkt verringert. Wen interessiert jetzt noch eine Bildungsreform, öffentliche Infrastruktur oder Gewerkschaften? Alles, was jeden einzelnen von uns im Alltag direkt betrifft, wird nun ins Archiv verbannt. Was sollen Rechte oder Löhne, wenn Krieg läuft? Krieg beschleunigt alles.
Die ukrainische Tragödie entwickelt sich an den schlimmsten Mustern mit jahrhundertelanger Tradition. Russen gegen Ukrainer, „Koloradi“ gegen „Ukri“. Es gibt keinen Ausgang, als wären die Völker und Menschen dazu verdammt, dem Ruf des „nationalen Instinkts“ zu folgen und einander an die Kehle zu springen. Und hinter den Rücken der sterbenden Burschen auf beiden Seiten lauert die blutrünstige patriotistische Propaganda. Dieses gefräßige Tier kennt keine Differenzierungen: Durch dessen Gurgel fließt jegliche, sogar die idiotischsten Märchen, bis hin zur angeblichen Kreuzigung von Jungen.
Das Putinsche Regime gedenkt das Problem der Konsequenzen des Krieges – das Problem gebeutelter Flüchtlinge etwa – zu Lasten der ärmsten Schichten der russischen Bevölkerung zu lösen, indem beispielsweise den Flüchtlingen Wohnheime zugeteilt werden. Das Problem der Flüchtlinge muss aber zu Lasten der besitzenden Klasse gelöst werden, indem Flüchtlinge in den Häußern und Villen Putins, der Gouverneure und der Abgeordneten untergebracht werden.
Auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze haben sich der Krieg, der Tod und das Leiden tausender Menschen ins rücksichtslose, lukrative, wenn auch riskante Geschäft von Oligarchen und Politikern gewandelt. Diese verdienen Millionen an Waffenlieferungen, erarbeiten sich Umfragewerte an der Kriegshysterie und ernähern sich mit dem Blut und dem Qual der Menschen.
Dieser Wahnsinn muss beendet werden. Die heiseren Appelle, für Blut und Boden zu sterben, von wo aus immer sie ausgegeben werden, all diese Berichten von Siegen, all diesen Dreck und dieses Blut – müssen unbedingt gestoppt werden. Nur die Einwohnerinnen und Einwohner selbst, und nicht bewaffnete Gruppen von Nationalisten, können das eigene Schicksal entscheiden.
Der einziger Weg zur Lösung dieser Probleme und Widersprüche ökonomischer, sozialer, kultureller und linguistischer Natur besteht in der Abschaffung des Kapitalismus und der Errichtung des Sozialismus. Die Linken der Ukraine und Russlands werden inzwischen aufgefordert, über so etwas zu vergessen und sozialistische Parolen „vorübergehend“ beiseite zu legen. Auf diese Aufforderung antworten wir: Der Kampf für den Sozialismus heute, jetzt, sofort!
Vor hundert Jahren haben revolutionäre Sozialisten entschlossen gegen den Wahnsinn der gegenseitigen Vernichtung von Millionen Menschen an den Fronten des Ersten Weltkriegs gekämpft. Heute, ehe der Horror der Ostukraine in einen Dritten Weltkrieg mündet, müssen wir eben das wieder tun.
Wir brauchen eine Kampagne für den Frieden. Gegen das Blutvergießen, gegen den Großhandel von Blut. Aber diese Kampagne darf keine Fortsetzung des Krieges an der Heimatfront des „Feindes“ sein. Wenn du gegen die Kriegsoperationen der Kiewer Behörden bist, bedeutet dies nicht, dass du für Putin und Strelkow bist. Wenn du gegen Putin bist, bedeutet dies nicht, dass du für die Kriegsoperationen der Kiewer Behörden bist. Die Menschen brauchen eine Friedenskampagne über die Köpfe der blutrünstigen Politiker und der gierigen Oligarchen hinweg, die Geschäfte zu Lasten Anderer machen. Zeitgleich in Moskau und Kiew, in Sankt Petersburg und Charkiw. Eine Kampagne, die lauter als die Kanonen wird. Eine Kampagne, die zeigt, dass wir Brüder sind. Dass wir es uns verweigern, Feinde zu sein. Dass wir, die einfachen Menschen Russlands und der Ukraine, uns nicht durch das Zielfernrohr ansehen wollen. Dass wir uns daran erinnern, wer unsere wahren Feinde sind.
In Kriegen wie diesen wird es eigentlich keinen Sieger geben. Ihre Helden werden demnächst auf Straßenkreuzungen sitzen und um Almosen betteln, bis die Politiker anfangen auf ihre Verletzungen zu spekulieren. Besiegen kann man nur den Krieg selbst, diese furchtbare Todesfabrik. Und das kann niemand tun außer uns selbst.
Wir müssen dafür kämpfen, dass sich die gegenwärtigen nationalistischen Wellen in eine zivile und soziale Welle umwandeln, in eine Welle von Massenprotesten gegen Unterdrückung und Despotismus, gegen den Kapitalismus.
Die Aufgabe der Linken ist es, dem Kriege den Krieg zu erklären und für den Sozialismus zu kämpfen.
Die Resolution in russischer Originalfassung finden Sie hier. Übersetzung: Seongcheol Kim.