Dokumente zum Zeitgeschehen

»Wir brauchen Respekt vor den jeweiligen Biografien und Erfahrungen«

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Tag der Deutschen Einheit, 3.10.2021

Vielfalt und Unterschiede sind keine Gefahr für die Demokratie; ganz im Gegenteil. Vielfalt und Unterschiede sind Ausdruck gelebter Freiheit. Erst recht gilt das für unser wiedervereinigtes Land mit all den bis 1990 durch die Teilung erzwungenen so unterschiedlichen Lebenswegen der Menschen in Ost und West.

Doch ganz ehrlich, ganz so einfach ist es häufig nicht. Müssen nicht Menschen meiner Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch nach drei Jahrzehnten Deutscher Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen, so als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung?

Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel aus meinem Leben erzählen. In einem Ende letzten Jahres von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegeben Buch mit vielen Beiträgen und Positionen zur Geschichte der CDU heißt es in einem der dort veröffentlichten Aufsätze über mich: „Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein ‚von der Pike auf’ sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein.“

Die DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – „Ballast“? Dem Duden nach also eine „schwere Last, die“ – in der Regel – „als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird“ oder als „unnütze Last, überflüssige Bürde“ abgeworfen werden kann? – Das war der Duden.

Ich erzähle das hier nicht, um mich zu beklagen. Denn ich bin nun wirklich die Letzte, die Grund hätte, sich zu beklagen – so viel Glück, wie mir persönlich in meinem Leben beschieden ist. Ich erzähle es auch nicht als Bundeskanzlerin. Ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben – und zwar als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich. Ballast eben, bestenfalls zum Gewichtsausgleich tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen. Ganz gleich, welche guten und schlechten Erfahrungen man mitbrachte: Ballast.

Bis heute – davon bin ich überzeugt – wird zu wenig gesehen, dass die Wiedervereinigung für die allermeisten Menschen in Westdeutschland im Wesentlichen bedeutete, dass es weiterging wie zuvor, während sich für uns Ostdeutsche fast alles veränderte: Politik, Arbeitswelt, Gesellschaft. Wer in seinem Leben vorankommen wollte, musste sich natürlich mit verändern.

Jede und jeder kann nach 31 Jahren Deutscher Einheit eine eigene persönliche Bilanz ziehen. Mit dem Ende der DDR und mit der endlich gewonnenen Freiheit, sein Denken und Leben selbst bestimmen zu können, gingen so viele neue Chancen einher. Das war und ist die eine, die wunderbare Seite.

Zugleich aber fanden sich nicht wenige, die ihren Weg in der völlig neuen Lebensumwelt zu gehen versuchten, in einer Sackgasse wieder. So manche berufliche Fähigkeit, die früher gefragt war, zählte plötzlich wenig oder gar nicht mehr. Das war die andere Seite. Auch solche deprimierenden Erfahrungen sind Teil unserer Geschichte. Wir dürfen sie nicht ignorieren oder vergessen, schon allein aus Respekt vor persönlichen Biografien, aber auch deshalb nicht, weil die Gestaltung der Einheit unseres Landes kein abgeschlossener Prozess ist und weil wir darauf achten müssen, dass nicht plötzlich bei manchen, ganz gleich, ob bewusst oder unbewusst, ihre Herkunft gegen sie veranschlagt wird.

Die vollständige Rede finden Sie hier.