Dokumente zum Zeitgeschehen

»Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass Menschen in diesem Hybridkrieg als Geiseln benutzt werden«

Offener Brief der Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch, Elfriede Jelinek, Herta Müller und Olga Tokarczuk an die EU, 9.11.2021

Die polnische Regierung hat im Grenzstreifen zwischen Polen und Belarus den Ausnahmezustand verhängt, auf Grund dessen sie den Ärzten und Sanitätern die Hilfeleistung für die Kranken und Sterbenden in der Grenzzone verweigert und den Medien den Zugang zur sich dort abspielenden Tragödie versperrt. Jedoch geben schon die inkompletten, bruchstückhaften Informationen einen Einblick in das gigantische Ausmaß der humanitären Katastrophe, die sich an der Grenze der Europäischen Union ereignet. Wir wissen, dass dort Menschen der erbarmungslosen Prozedur von Push-Backs unterzogen und dem Hunger, der Erschöpfung und der Unterkühlung in den Sümpfen ausgesetzt werden.

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Als Bürgerinnen und Einwohnerinnen der EU wenden wir uns an die demokratisch gewählten Vertreter Europas: Lasst uns unseren Blick nicht von der Tragödie abwenden!

Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass Menschen in diesem Hybridkrieg als Geiseln benutzt werden. Diese teuflischen Praktiken werden als Beispiele für die moderne Variante der Grausamkeit in die Geschichte eingehen. In der Geschichte Europas haben wir uns allzu oft Unwissen erlaubt. Wir schlossen unsere Augen. Wir hielten uns die Ohren zu. Wir schwiegen. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben uns deutlich gezeigt, dass es unbequemes und quälendes Wissen gibt. Die meisten Menschen haben es nicht an sich herangelassen, um ihr eigenes Wohlbefinden zu schützen.

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Die Europäische Union ist für uns vor allem eine grenzüberschreitende moralische Gemeinschaft, basierend auf den Regeln zwischenmenschlicher Solidarität. Das gibt uns das Recht, zu einer eindeutigen Stellungnahme aufzurufen. Wir verstehen, dass es nicht einfach ist, mit dem Ansturm der Verzweiflung auf die Grenzen Europas klarzukommen. Jedoch passt das, was wir an diesen Grenzen zulassen, nicht zu unseren fundamentalen europäischen Werten.

Wir appellieren an Sie, diese humanitäre Krise möglichst schnell und effektiv zu lösen, die Beschlüsse der Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten und insbesondere allen den Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, die darum bitten und an der östlichen EU-Grenze festgehalten werden.

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Vor allem rufen wir auf, die Hilfsorganisationen, die medizinische und juristische Hilfe leisten könnten, in das Grenzgebiet hineinzulassen.

Den vollständigen Brief finden Sie hier.