Forderungen der Allianz 'Rechtssicherheit für politische Willensbildung', vorgestellt am 6.7.2015
Gemeinnützigkeit auf Abruf
Aufgrund der mehrdeutigen Rechtslage haben die Finanzämter einen großen Interpretationsspielraum. Für die Organisationen ist nicht vorhersehbar, ob und wann ihre politischen Aktivitäten ihren Status der Gemeinnützigkeit gefährden. Sie sind von den in der Praxis sehr unterschiedlichen Auslegungen ihres lokalen Finanzamtes abhängig.
Diese Unsicherheit wird noch verstärkt, da die Bescheide nur „unter dem Vorbehalt der Nachprüfung“ ergehen. Ändert sich die Einschätzung im Finanzamt, kann die Gemeinnützigkeit mit Wirkung für die letzten zehn Jahre entzogen werden. Es drohen die Nachversteuerung der Einnahmen und die Spendenhaftung – und damit Nachzahlungen, die ein Vielfaches des Jahresbudgets der jeweiligen Organisation betragen können.
Aktuell prominentes Beispiel: Das Finanzamt Frankfurt erkennt Attac im April 2014 die Gemeinnützigkeit ab. Attac legt dagegen Einspruch ein, der Einspruch ist bisher noch nicht entschieden.
Politische Willensbildung ist von allgemeinem Nutzen
Es gibt eine breite gesellschaftliche und parteipolitische Übereinstimmung, dass die Zivilgesellschaft unverzichtbarer Bestandteil unseres Gemeinwesens ist. Konsens ist ebenfalls, dass politisch aktive Organisationen für die Gesellschaft unverzichtbare Funktionen übernehmen: Sie sind Anwalt für gesellschaftliche Themen, sorgen für deren breite Erörterung in Medien und Gesellschaft. Sie dienen so der politischen Willensbildung. Sie decken Missstände auf. Sie bieten Dienstleistungen an, organisieren Selbsthilfe und Solidarität und sie treten als Mittler auf zwischen Bürgerinnen/Bürgern und Politikerinnen/Politikern.
Bedürftigen zu helfen ist genauso nützlich, wie sich für bessere Bedingungen Bedürftiger einzusetzen. Es ist ebenso richtig, Bäume zu pflanzen, wie Abholzungen in Frage zu stellen. Kinder werden so selbstverständlich zum Frieden erzogen, wie die Sinnhaftigkeit militärischer Einsätze hinterfragt werden muss. An vielen Stellen zeigt sich, dass diese Debatten erwünscht sind: Zivilgesellschaftliche Organisationen werden vom Staat aufgefordert, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, etwa durch Einladungen von Umweltverbänden ins Umweltministerium oder bei runden Tischen vor Ort von Parteien, Stadtverwaltung und Organisationen.
Immer, wenn dieses politische Engagement selbstlos die Allgemeinheit fördert, muss sich das auch in der steuerlichen Behandlung niederschlagen.
Zivilgesellschaft ist Teil einer demokratischen Gesellschaft
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Steuerbefreiung für gemeinnützige Organisationen eingeführt wurde, bezog sich Gemeinnützigkeit vor allem auf die Wohlfahrtspflege. Politik wurde ausschließlich als Sache der Parteien und der gesellschaftlichen Eliten angesehen. Die Gesellschaft ist heute eine ganz andere: Sie ist demokratischer geworden. An der politischen Willensbildung wirken neben den Parteien ebenso Organisationen der Zivilgesellschaft mit und bringen zusätzliche Perspektiven ein. Dieser Entwicklung trägt das geltende Recht nicht ausreichend Rechnung.
Insbesondere der Anwendungserlass zur Abgabenordnung, ausschließlich von der Regierung ohne Mitwirkung des Parlaments erlassen, genügt den Anforderungen an ein demokratisch ausgerichtetes Gemeinnützigkeitsrecht nicht. Das zeigt sich beispielhaft, wenn dort zu § 52 AO in Nr. 15 bestimmt wird, dass nur „im Einzelfall“ politische Tätigkeit möglich sein soll und diese „weit in den Hintergrund“ der gemeinnützigen Tätigkeit treten muss.
Dabei lassen sich viele gemeinnützige Zwecke nur umfassend und effektiv durch die Beeinflussung der politischen Willensbildung erreichen. Da es hier auch um die Verwirklichung von Grundrechten wie Meinungsfreiheit (Art. 5), Versammlungsfreiheit (Art. 8), Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2) geht, fördert diese Arbeit fraglos die Allgemeinheit. Gemeinnützige Organisationen fördern die Demokratie, wenn sie Menschen bei der Wahrnehmung ihrer Grundrechte unterstützen.
Eine gemeinnützige Organisation, die solche Zwecke verfolgt, kann Politik nicht nur nebenbei betreiben. Sie ist politisch und darf es sein, solange ihre Mittel und Ziele mit den Grundsätzen eines demokratischen Staatswesens, mit Respekt vor anderen Auffassungen, mit Gewaltfreiheit und mit dem Grundgesetz vereinbar sind und sie nicht Politik im Interesse nur einer politischen Partei macht.
Es braucht ein Gemeinnützigkeitsrecht, das der modernen Zivilgesellschaft und ihrer gesellschaftlichen und politischen Rolle Rechnung trägt.
Ein modernes Recht auf Gemeinnützigkeit
Wer der Allgemeinheit selbstlos dient, handelt gemeinnützig. Diese Kernaussage soll weiter im Mittelpunkt stehen. Es wird immer eine Debatte darum geben, welches konkrete Handeln der Allgemeinheit dient, auch weil sich die Gesellschaft entwickelt und neue Vorstellungen davon entstehen, was für das Zusammenleben wichtig ist.
Um Zivilgesellschaft in ihrer Breite abzubilden, sollten in einem neuen Gemeinnützigkeitsrecht die Funktionen von Zivilgesellschaft ausdrücklich anerkannt werden: Dienstleistung, Themenanwaltschaft, Wächter, Selbsthilfe, Mittler, Solidaritätsstiftung und politische Erörterung.
Dabei darf der gesellschaftliche Nutzen nicht durch die Auflistung von sich wandelnden Themen beschrieben werden, sondern sollte darüber definiert werden, welche Entwicklung in einer Gesellschaft befördert werden soll, wie z.B. die nach Integration und Inklusion, nach Partizipation und Empowerment sowie nach sozialem Zusammenhalt und Subsidiarität.
Formale Kriterien würden dem Anspruch auf Gemeinnützigkeit vorausgehen: Selbstverständlich ist wie bisher Verfassungs- und Gesetzeskonformität von Satzung und Tätigkeit notwendig. Auch das bestehende Verbot, Überschüsse an Mitglieder oder Eigentümer zu verteilen, bliebe bestehen. Hinzu kämen Regeln für eine öffentliche Rechenschaftslegung. Die Gemeinnützigkeit sollte in einem öffentlichen Register geführt werden, etwa als Ergänzung zum Vereinseintrag. Diese Regeln dienen der Kontrolle durch eine demokratische Öffentlichkeit.
Zivilgesellschaftliche Organisationen sollen einen Anspruch auf Freistellung von Ertrags- und Vermögenssteuern haben. Diese Prüfung muss an zivilgesellschaftlichen statt steuerlichen Gesichtspunkten orientiert sein und bundeseinheitlich erfolgen.
Forderungen zur Änderung der Rechtslage
Erste Schritte zu mehr Rechtssicherheit
Die in der Allianz zusammengeschlossenen Organisationen verfolgen langfristig das Ziel eines modernen Gemeinnützigkeitsrechts. Dazu beteiligen sich die Mitglieder der Allianz an einer umfassenden Debatte über Ziele und Regelungen. Ihr erstes Ziel ist es aber, den unhaltbaren Zustand der Rechtsunsicherheit im bestehenden Rechtsrahmen abzuwenden. Dazu werden konkret die folgenden Schritte vorgeschlagen:
Die Abgabenordnung (AO) muss so geändert werden, dass die politische Willensbildung durch zivilgesellschaftliche Organisationen den angemessenen Rechtsrahmen erhält und alle entsprechenden Ziele als gemeinnützig anerkannt werden.
Dazu muss § 52 (Gemeinnützige Zwecke) der AO an mehreren Stellen geändert werden:
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In Satz 1 ist die Formulierung, „Eine Körperschaft verfolgt gemeinnützige Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern“ durch den Zusatz „oder demokratischem“ zu ergänzen.
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Die Liste in Absatz 2 ist durch folgende Themen zu erweitern: Förderung der Wahrnehmung und Verwirklichung von Grundrechten, Frieden, soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz, informationelle Selbstbestimmung, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter.
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Das in Aufzählungsnr. 24 genannte Verbot, kommunalpolitische Ziele zu verfolgen, soll ersatzlos gestrichen werden.
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Der ebenda enthaltene Zusatz „im Geltungsbereich dieses Gesetzes“ soll ersatzlos gestrichen werden. Er behindert grenzübergreifendes Engagement.
In § 58 (steuerlich unschädliche Betätigungen) der AO ist aufzunehmen, dass die Beteiligung an der politischen Willensbildung unschädlich für die Gemeinnützigkeit ist.
Einige erst in den letzten Jahren in den § 51 (Allgemeines) derAO eingefügte Bestimmungen sind wieder zu streichen:
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Die in Abs. 2 gemachte Beschränkung, dass eine Tätigkeit im Ausland nur dann gemeinnützig ist, wenn die geförderten Personen ihren Wohnsitz in Deutschland haben oder wenn zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beigetragen wird.
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Der in Abs. 3 eingeführte Passus, „Bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extremistische Organisation aufgeführt sind, ist widerlegbar davon auszugehen, dass die Voraussetzungen des Satzes 1 nicht erfüllt sind.“
Die Änderung der AO erfordert ein Gesetzgebungsverfahren. Ein erster hilfreicher Schritt könnte aber bereits vorher durch den Bundesminister der Finanzen getan werden. Er kann mit einem „Federstrich“ die Rechtssicherheit für zivilgesellschaftliche Organisationen deutlich erhöhen, indem er den Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) von den Beschränkungen zur Beeinflussung der staatlichen Willensbildung befreit: Der AEAO zu § 52 AO, Randnr. 15 könnte neu lauten, dass „eine politische Tätigkeit danach unschädlich für die Gemeinnützigkeit ist, wenn eine gemeinnützige Tätigkeit nach den Verhältnissen im Einzelfall zwangsläufig mit einer politischen Zielsetzung verbunden ist und die unmittelbare Einwirkung auf die politischen Parteien und die staatliche Willensbildung gegenüber der Förderung des gemeinnützigen Zwecks weit in den Hintergrund tritt.“
Erste Schritte zu mehr Rechtssicherheit
Die in der Allianz zusammengeschlossenen Organisationen verfolgen langfristig das Ziel eines modernen Gemeinnützigkeitsrechts. Dazu beteiligen sich die Mitglieder der Allianz an einer umfassenden Debatte über Ziele und Regelungen. Ihr erstes Ziel ist es aber, den unhaltbaren Zustand der Rechtsunsicherheit im bestehenden Rechtsrahmen abzuwenden.
Die Allianz “Rechtssicherheit für politische Willensbildung”
Die Allianz “Rechtssicherheit für politische Willensbildung” ist ein Zusammenschluss von Organisationen und fordert, die Gemeinnützigkeit für Organisationen der Zivilgesellschaft zu sichern, die Beiträge zur politischen Willensbildung leisten.
Mitglieder der Allianz sind derzeit:
Bundesweit tätige Organisationen
Adopt a Revolution
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
Aktion 3. Welt Saar
Amnesty International
Attac
.ausgestrahlt
Brot für die Welt
Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus
Campact
Digitalcourage e.V.
Foodwatch
Forum Solidarische Ökonomie
Frauenverband Courage e.V.
Gen-ethisches Netzwerk e.V.
Germanwatch e.V.
Humanistische Union
Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
IPPNW (Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs)
kolko – Menschenrechte für Kolumbien e.V.
Komitee für Grundrechte und Demokratie
Medico International
Mehr Demokratie
Oxfam
Powershift e.V.
Robin Wood e.V.
Südwind e.V. – Institut für Ökonomie und Ökumene
Terre des Femmes
terre des hommes – Hilfe für Kinder in Not
Unabhängiges Institut für Umweltfragen
urgewald
Regional tätige Organisationen
Community e.V., München
Förderverein Netzwerk Selbsthilfe e.V., Berlin
Kommune Niederkaufungen
Lebenshaus Schwäbische Alb – Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.
Nord Süd Forum München e.V., München
Solidaridad e.V., Halle
Stiftungen
Bewegungsstiftung
ethecon – Stiftung Ethik & Ökonomie
Hannchen-Mehrzweck-Stiftung
Stiftung :do
Unterstützer der Allianz sind zudem:
ADEFRA e.V.
Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (BER)
Coordination gegen BAYER-Gefahren (CBG)
Flüchtlingsrat Hamburg e.V. – Offenes Plenum für antirassistische Arbeit
Guatemalagruppe Nürnberg
Internationale Liga für Menschenrechte (ILMR)
Lilith (Verein in Gründung), Bielefeld
Arbeitsstruktur der Allianz
Über grundsätzliche Fragen entscheiden die Mitglieder. Sie werden zu Erörterungen zur Strategie und zum Vorgehen eingeladen. Die Mitglieder bestimmen einen Beirat, der die operative Arbeit begleitet und die Arbeit der Koordinatoren beaufsichtigt. Derzeit besteht dieser Beirat aus Stephanie Handtmann (Attac) und Matthias Fiedler (Bewegungsstiftung). Die Koordinatoren erledigen und verantworten die operative Arbeit und sprechen öffentlich für die Allianz. Sie beraten sich bei Bedarf mit dem Beirat und den Mitgliedern.
Den Link zur Website finden Sie hier.