Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Verleihung des Abraham-Geiger-Preises, 2.12.2015
»Dass Juden heute in Deutschland wieder eine Heimat gefunden haben, dass sie in diesem Land eine Zukunft sehen – das ist und bleibt alles andere als selbstverständlich. Es ist und bleibt ein einzigartiger Vertrauensbeweis in die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Landes, wie sie in unserem Grundgesetz niedergelegt ist. [...] Das Grundgesetz hat von Beginn an identitätsstiftend und integrierend wirken können – im Nachkriegsdeutschland ebenso wie 1990 im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands. Das Grundgesetz hat Deutschland zu einem Land der Freiheit gemacht. Es war das Fundament zur Bewältigung aller Herausforderungen, die unser Land seit 1949 zu meistern hatte. Und es ist das Fundament, um auch die Herausforderungen bewältigen zu können, die sich uns aktuell stellen. Das sind vorneweg die vielen, vielen Menschen, die derzeit zu uns kommen, um bei uns Zuflucht vor Krieg und Terror zu finden. [...] Viele Aufgaben werden wir nur gesamteuropäisch und international lösen können: die Sicherung der europäischen Außengrenzen, die Verteilung von Flüchtlingen in Europa, die Verbesserung der humanitären Lage in den Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon und auch im Irak sowie der Situation der Flüchtlinge in der Türkei, die Möglichkeit legaler Migration statt illegaler Migration, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den jeweiligen Heimatländern, vorneweg in Syrien und im Irak. All das sind äußerst wichtige Aufgaben. Sie sollen heute Abend aber nicht im Mittelpunkt meiner Gedanken stehen. Vielmehr möchte ich mit Ihnen darüber nachdenken, welche Herausforderungen sich in diesem Kontext für das Zusammenleben bei uns in unserem Land stellen; nicht logistisch – das schafft ein so starkes Land wie Deutschland, wenn es weiter alle Kräfte bündelt –, sondern mit Blick auf unsere Identität und unser Selbstverständnis als Staat und Gesellschaft.
Deutschland wird sich verändern, die Frage ist wie
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – mit diesen Worten beginnt unser Grundgesetz. [...] Konkret führt das zum Beispiel zu unserem Verständnis, dass nicht anonyme Menschenmassen zu uns kommen, sondern Individuen. Es führt dazu, dass jeder, der zu uns kommt, das Recht hat, menschenwürdig behandelt zu werden – und zwar unabhängig davon, ob er unser Land wieder verlassen muss, weil er keine Bleibeperspektive hat, oder ob er schutzbedürftig ist und hier Aufnahme finden kann. [...] Während ich das sage, weiß ich sehr wohl, dass uns die Aufnahme und die Integration so vieler Menschen ohne Zweifel vor große Aufgaben stellen. Es ist und bleibt deshalb gar nicht hoch genug zu schätzen, welches Gesicht unser Land seit vielen, vielen Wochen zeigt. So viele Menschen engagieren sich – Ehrenamtliche wie Hauptamtliche. So viele Menschen helfen und wachsen über sich hinaus, lassen sich auch von Widrigkeiten und – ja, auch das – von Pöbeleien und Angriffen nicht entmutigen. [...]
Ich danke auch der jüdischen Gemeinschaft, deren Unterstützung so vielfältig, so großartig ist. Ich weiß, dass Sie die Größe der Herausforderung besonders gut ermessen können, denn Sie haben in den vergangenen 25 Jahren viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen und integriert. [...] Wir Menschen brauchen Veränderung, wenn wir nicht stehenbleiben, sondern uns weiterentwickeln wollen. Aber wie sich unser Land verändern wird, ob wir das überwinden können, was uns hindert, die globalen Herausforderungen unseres 21. Jahrhunderts erfolgreich zu bewältigen, und das bewahren, was uns in Jahrzehnten stark gemacht hat – das ist die eigentlich entscheidende Frage.
Leben eigener Wurzeln im Rahmen unserer Werte
Ich mache mir überhaupt keine Illusionen: Integration geschieht nicht über Nacht. Integration braucht Zeit und Geduld. Integration ist angewiesen auf die Offenheit derer, die schon hier leben, und Integration ist angewiesen auf die Bereitschaft derer, die zu uns kommen, unsere Art zu leben, unser Recht, unsere Kultur zu achten und unsere Sprache zu lernen. Konstitutiv für uns sind unsere Verfassungsordnung und die Regeln unseres Zusammenlebens. Das heißt, Menschen, woher auch immer sie kommen, müssen unsere Gesetze und unsere Verfassungsordnung anerkennen – unseren Rechtsstaat, die Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Absage an jede Form von Diskriminierung homosexueller Menschen, die Absage an jede Form von Antisemitismus. Deshalb will ich an dieser Stelle auch ausdrücklich sagen: Wir brauchen wahrlich nicht immer einig darin sein, welche konkreten Maßnahmen wir für unser Handeln auch in der aktuellen Flüchtlingsfrage als notwendig und richtig erachten und welche nicht. Aber ich werde es immer ernst nehmen, wenn Sie Ihre Sorgen vor Antisemitismus zum Ausdruck bringen – auch die, die Sie in diesen Wochen mit Blick auf die vielen Menschen aus Ländern äußern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel Teil des öffentlichen Lebens sind und von Kindesbeinen an vermittelt werden. Noch einmal: Es kommen Menschen mit jeweils individuellen Schicksalen und Lebensgeschichten. Darin liegt für unser Land – allen möglichen kulturellen Prägungen in anderen Erdteilen zum Trotz – eine große Chance; und zwar dann, wenn wir vermitteln, was wir mit Integration meinen: nicht das Vergessen eigener Wurzeln, sondern das Leben eigener Wurzeln auf der Grundlage und im Rahmen unserer Werte und unserer Gesellschaftsordnung, zu der der kompromisslose Kampf gegen jede Form von Antisemitismus zwingend dazugehört.
Kritik an Israels Politik als Deckmantel von Antisemitismus
[...] Leider erleben wir aber auch immer wieder, wie antisemitische Äußerungen und Übergriffe unter dem Deckmantel vermeintlicher Kritik an der Politik des Staates Israel daherkommen, tatsächlich aber nichts anderes sind als Hass auf Juden. Wir brauchen nur an die Ausschreitungen bei den propalästinensischen Demonstrationen im Sommer des letzten Jahres zu denken. Der Kampf gegen Antisemitismus ist unsere staatliche und bürgerschaftliche Pflicht. Antisemitische Straftaten werden konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt. Jenseits dessen braucht es Begegnung und Dialog, damit das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen auch wirklich gelingt. Begegnung und Dialog sind wesentliche Voraussetzungen für Toleranz. [...]«
Die gesamte Rede finden Sie hier.