Studie der Friedrich Ebert Stiftung zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland, 12.11.2012
Zusammenfassung
Die Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Nicht eine kurze Episode geschichtlicher Entwicklung soll mit dieser Formulierung gekennzeichnet werden, sondern eine übergreifende Erfahrung seit Beginn der Moderne. Treffender noch, als eine bestimmte historische Epoche als »Moderne« zu bezeichnen, ist es, Moderne als Prozess zu beschreiben. In Abgrenzung zur Vorgängerstudie »Die Mitte in der Krise« wollen wir mit der vorliegenden Untersuchung nicht zuletzt auf langfristige Prozesse aufmerksam machen, die die Moderne kennzeichnet: Ihr Merkmal ist die Beschleunigung und die beständige Erfahrung von Ungewissheit. Die kapitalistische Ökonomie ist weniger Motor dieser Entwicklung als selbst von ihr angetrieben. In diesem Sinne ist auch die Entwicklung einer nachfordistischen (von der klassischen Fabrik abweichenden), obgleich immer noch kapitalistischen Produktionsweise und auch die digitale Revolution mit all den Konsequenzen für die ihr unterworfenen Individuen in das Wechselspiel von Moderne und Gegenmoderne und die Dialektik der Aufklärung eingebunden. Erfahrbar werden sie für die Gesellschaftsmitglieder durch die Beschleunigung und das Gefühl des Ausgeliefertseins an eben diese Prozesse.
Die Virulenz rechtsextremer Einstellung und auch die Aktivitäten von Neonazis und Rechtspopulisten können nur vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Entwicklungsbewegungen der Gesellschaft verstanden und nachhaltig bekämpft werden. Dabei sorgen die von uns beschriebenen Entwicklungen für Brüche (in Traditionen, Erwerbsbiographien, Persönlichkeiten), sie verändern Formationen (von Familie, Produktion, Gesellschaft) und finden als Produkte der Moderne in Phänomenen wie dem Fundamentalismus ihre antimoderne Negation. Dies alles wirkt direkt und indirekt auf die politischen Einstellungen der Menschen nicht zuletzt auf ihr soziales Miteinander in der Öffentlichkeit und in der Sphäre der Politik.
Die Ergebnisse
Die Aufgabe war es, wie in allen »Mitte-Studien«, im Anschluss an die Formulierung »Extremismus der Mitte« von Lipset den Rechtsextremismus als Problem der Mitte zu untersuchen. Den Begriff der »Mitte« begreifen wir einerseits deskriptiv, andererseits hat er analytische Stärke. Der Begriff einer gesellschaftlichen Mitte bezeichnet das, was zwischen »oben« und »unten« ist, häufig die »Normalverdiener/innen«, das heißt die Mittelschicht. Diese steht im Verhältnis zu »oben« und – viel wichtiger – zu »unten«, was die ständige Gefahr des sozialen Abstiegs impliziert, wenngleich in »guten Zeiten« auch das Versprechen des Aufstiegs. Mit der gesellschaftlichen Lage ist immer auch die politische Einstellung verbunden. Eine reichhaltige Literatur verweist daraus folgernd auf die besondere Latenz autoritärer bzw. rechtsextremer Einstellung in der »Mitte«. Die »Mitte« ist aber nicht nur ein analytischer Begriff der Soziologie. Vielmehr werden mit diesem Begriff normative ordnungspolitische Vorstellungen entweder implizit oder explizit transportiert und ausgedrückt. Das unterstreicht die Brisanz, die der »Mitte« anhaftet. In diese Untersuchung gehörte deshalb auch eine Darstellung der politischen Einstellungen, des Partizipationsverhaltens und der wirtschaftlichen Lage.
Im Rahmen der Untersuchung rechtsextremer Einstellungen ging es insbesondere darum, die Phänomene Antisemitismus und Islamfeindlichkeit näher zu betrachten. Im Folgenden sollen die Ergebnisse diskutiert und Denk- und Handlungsrichtungen skizziert werden, die aus den Ergebnissen folgen. Die Frage, die sich von Anfang an mit den »Mitte- Studien« verband, bleibt aktuell: Was kann in Politik und Gesellschaft getan werden, um die Arbeit gegen Rechtsextremismus zu intensivieren und die Demokratie zu stärken? Ergänzend war zu fragen, wie stark primärer und sekundärer Antisemitismus ausgeprägt ist und ob zwischen Islamkritik und Islamfeindschaft zu unterscheiden ist. Ein neuer Zugang ist, die politischen Einstellungen von Migrantinnen und Migranten mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich zu untersuchen.
Der Sockel rechtsextremer Einstellungen ist weiterhin hoch
Der Sockel der rechtsextremen Einstellung ist in Deutschland nach wie vor hoch. Während 2010 die Hoffnung bestand, dass mit der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen ein wirkungsvolles Mittel gefunden wurde, um antidemokratischen Einstellungen zu begegnen, muss die Zusammenfassung diesmal verhaltener ausfallen. Auch wenn es in Ost- und Westdeutschland abwärtsdriftende Regionen gibt, so lässt sich die Konsequenz aus der Schwäche der Wirtschaft am besten mit den empirischen Ergebnissen für Ostdeutschland verdeutlichen. Knapp 16% der Ostdeutschen haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Das ist der höchste in den »Mitte-Studien« bisher gemessene Wert, und die gegenwärtige Tendenz ist steigend. Besonders besorgniserregend ist, dass in der Erhebung eine neue Generation des Rechtsextremismus sichtbar wird. Bisher konnte immer ein Zusammenhang zwischen Alter und rechtsextremen Einstellungen festgestellt werden, d.h. die Jungen schienen weniger empfänglich. Doch gerade die jungen Ostdeutschen fallen nun zunehmend mit hohen Zustimmungswerten auf. Die Strukturprobleme in Ostdeutschland, die auch 20 Jahre nach der Wende nicht adäquat adressiert sind, schlagen sich hier nieder, wie auch das Gefühl einer Generation, nicht gebraucht zu werden. Blicken wir in die europäischen Nachbarländer, aber eben auch in bestimmte Regionen in (West- und Ost-)Deutschland, so stimmen die enorme Jugendarbeitslosigkeit und die insgesamt unsicheren Aussichten der Menschen pessimistisch, gerade was die (regionale) Verbreitung rechtsextremer und anderer Formen menschenverachten- der Einstellung betrifft.
Es ist weniger die durchschnittliche Einschätzung z.B. der wirtschaftlichen Lage, die Sorgen bereitet. Allerdings scheint es Gruppen zu geben, die mehr und mehr aus der Gesellschaft »herausfallen«. Robert Castel hat für diese Entwicklung den Begriff der »Überflüssigen« geprägt (Castel 2000). Damit gehen auch Abstiegsängste von nicht direkt betroffenen Menschen einher, namentlich solcher, die sich selbst ökonomisch und politisch in der »Mitte« verorten. Das Aufbrechen antidemokratischer Einstellung vollzieht sich in Momenten, in denen eine bis dahin integrierende Autorität, z.B. eine starke Wirtschaftsmacht, genau dieses Integrationspotenzial verliert.
Noch einmal wollen wir davor warnen, den Rechtsextremismus (wieder) als ostdeutsches Problem zu klassifizieren. Wie wir 2008 in einem Bundes- ländervergleich gezeigt haben (Decker & Brähler 2008), sind es bei näherer Betrachtung nicht die Differenzen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Bundesländern, die auffallen. Vielmehr scheinen die sozioökonomischen Strukturmerkmale der Bundesländer entscheidend zu sein. Stadtstaaten (Hamburg, Berlin) schneiden grundsätzlich besser ab als ländlich geprägte, weniger industrialisierte Flächenstaaten. Die von uns gemessene Ausländerfeindlichkeit ist zudem nicht etwa da besonders hoch, wo sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen täglich begegnen, sondern dort, wo kaum Migrantinnen und Migranten wohnen. Auch wenn wir die Verhaltensebene des Rechtsextremismus betrachten, können wir nicht von einem »ostdeutschen« Phänomen sprechen. Sogenannte »Freie Kräfte« oder »Autonome Nationalisten« sind im Westen genauso stark organisiert wie im Osten. Gewalt und andere Übergriffe fallen hier wie dort immer wieder durch ihre erschreckende Brutalität auf.
Was sich in der Gegenüberstellung von Ost und West jedenfalls zeigt, ist das Abkoppeln ganzer Regionen von der gesamtstaatlichen bzw. europäischen Entwicklung. Diese zurückgelassenen Regionen bringen für die Demokratie langfristig viel schwerwiegendere Probleme mit sich als »nur« hohe Arbeitslosenzahlen oder Verschuldungsraten. Diese Situation darf keinesfalls unbeantwortet bleiben. Und natürlich geht es dabei um politisch hart umkämpfte Verteilungsfragen, nämlich um die Verteilung von Arbeit und Wohlstand.
Politische Einstellung bei Migrantinnen und Migranten
Erstmals haben wir in unserer Auswertung nach dem Migrationshintergrund der Befragten unterschieden und auch Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die sonst nicht in der Auswertung berücksichtigt werden, miteinbezogen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund häufiger politisch und sozial marginalisiert fühlen. Besonders für Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft trifft dies eindeutig zu. In den immer wieder aufflammenden »Integrationsdebatten«, die allzu oft in Polemik verhaftet bleiben, sollte diesem Umstand höhere Aufmerksamkeit gezollt werden. Menschen, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion, müssen gleichermaßen sozial und politisch integriert sein.
Nicht überraschend war die niedrigere Verbreitung rechtsextremer Einstellung unter Migrantinnen und Migranten. Allerdings ist die Zustimmung zum Autoritarismus-Kurzfragebogen sogar etwas höher ausgefallen als bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund. Außerdem konnten wir einen deutlichen Unterschied zwischen den Befragten mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft hinsichtlich des Antisemitismus fest- stellen: Während letztere sich sehr viel seltener sekundär antisemitisch zeigen, übertreffen sie die Deutschen (mit und ohne Migrationshintergrund) beim primären Antisemitismus.
Antisemitismus
Einen eigenen Abschnitt haben wir in der vorliegenden Untersuchung dem Antisemitismus gewidmet. Schon in der Einleitung haben wir außerdem auf das Phänomen der Kommunikationslatenz im Zusammenhang mit Antisemitismus hingewiesen. Die deskriptiven Befunde verdeutlichen die gesamtgesellschaftliche Virulenz des Antisemitismus. Zumindest Fragmente der verschiedenen Arten von Judenfeindschaft sind in sehr großen Teilen der Bevölkerung verbreitet. Dies zeigt sich in Zu- stimmungsraten zu einzelnen judenfeindlichen Äußerungen von bis zu 62%. Auf der Dimensionsebene, also in der durchschnittlichen Zustimmung je Teilphänomen, liegen die Werte für den primären Antisemitismus bei 11,5% und für den sekundären Antisemitismus bei 23,8%.
Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, dreht sich das Verhältnis bei Migrantinnen und Migranten ohne deutsche Staatsbürgerschaft um. Soll heißen: Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft (mit und ohne Migrationshintergrund) scheinen den sogenannten »Anti-Antisemitismus- Konsens« zu teilen – sie äußern sich weniger primär antisemitisch. Dass dies nicht unbedingt für ein geringeres Potenzial an Antisemitismus spricht, sondern vieles durch Kommunikationslatenz verdeckt wird, zeigen die Zustimmungswerte beim sekundären Antisemitismus. Befragte ohne deutsche Staatsbürgerschaft fühlen sich scheinbar einfach nur weniger an den offiziellen Konsens gebunden.
Islamfeindschaft und Islamkritik
Im Jahr 2012 ist ein enormes Potenzial an islamfeindlicher Einstellung zu konstatieren. Es lohnt sich allerdings, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Gruppen, die entsprechende Ressentiments auf sich ziehen, aus- wechselbar zu sein scheinen. Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre waren »die Asylbewerber« öffentlich den größten Anfeindungen ausgesetzt, davor waren es »die Gastarbeiter«.
Die rassistische Grundlage der Islamfeindlichkeit macht auch den Unterschied zur Islamkritik aus. In unserer Analyse haben wir eine Gruppe herausgegriffen, die sich nicht islamkritisch, aber islamfeindlich äußert. Das zeigt am Extremfall, dass Islamfeindlichkeit sich eben nicht auf eine mitunter sehr wohl legitime Islamkritik stützen kann.
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