Ausgabe November 1991

Chronik vom 6. September bis 5. Oktober 1991

6.9. - U d S S R. Der neugeschaffene Staatsrat (vgl. "Blätter", 1O/1991, S. 1278 f.) tritt unter Vorsitz von Präsident Gorbatschow in Moskau zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. In einem Beschluß wird die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens formell anerkannt. Der sowjetische Außenminister Pankin erklärt dazu: "Die baltischen Staaten sind nun von der Sowjetunion getrennt und unterstehen internationalem Recht." Die Frage der staatlichen Anerkennung Georgiens wird dagegen von der Tagesordnung gestrichen. - Am 24.9. treffen die Führungen der Republiken Armenien und Aserbeidschan eine Vereinbarung über die Beilegung ihres Streits über das Gebiet Nagorny Karabach. Das Dokument wird in der russischen Stadt Schelesnowodsk in Anwesenheit von Präsident Jelzin unterzeichnet. Nagorny Karabach soll seinen autonomen Status zurückerhalten. - Am 25.9. erklärt der ukrainische Präsident Krawtschuk nach einem Treffen mit Präsident Bush im Weißen Haus, seine Republik strebe einen atomwaffenfreien Status an und unterstütze daher entsprechende sowjetische-amerikanische Abrüstungsvereinbarungen.

- N a h e r O s t e n. Der amerikanische Präsident Bush fordert den Kongreß auf, das Ersuchen Israels um Kreditgarantien in Höhe von zehn Mrd. Dollar vorerst nicht zu behandeln und die Beratung für 120 Tage auszusetzen. Die mögliche Absicht der Regierung in Tel Aviv, die Geldmittel für die Ansiedlung sowjetischer Juden in den besetzten Gebieten zu verwenden, könne den Friedensprozeß im Nahen Osten gefährden. Bush folgt mit seiner Entscheidung einer Anregung von Außenminister Baker. - Am 8.9. kündigt der israelische Ministerpräsident Schamir in einer Rede zum jüdischen Neujahrstag die unverminderte Fortsetzung der Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten an und spricht dabei von "Groß-Israel". Schamir erklärt am 9.9. in einem Rundfunkinterview, Israel werde der geplanten Nahost-Friedenskonferenz fernbleiben, wenn es mit der Zusammensetzung der palästinensischen Delegation nicht einverstanden sei. Darüber bestehe zwischen Israel und den USA völlige Übereinstimmung.

- C D U. Der stellvertretende Parteivorsitzende und letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, legt alle Parteifunktionen nieder und gibt später auch sein Bundestagsmandat auf. Anlaß sind tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten zwischen den ostdeutschen Landesverbänden und der Parteizentrale in Bonn, die sich an einer Kontroverse zwischen CDU-Generalsekretär Rühe und de Maiziere entzündet hatten.

7.9. - J u g o s l a w i e n. Entsprechend einem Beschluß der EG-Außenminister (vgl. "Blätter", 10/1991, S. 1158) beginnt in Den Haag eine Friedenskonferenz über Jugoslawien, an der Mitglieder der jugoslawischen Bundesregierung und die Präsidenten der Republiken teilnehmen. Den Vorsitz führt der ehemalige NATO Generalsekretär Lord Carrington (Großbritannien). Die bewaffneten Auseinandersetzungen auf kroatischem Territorium gehen jedoch weiter, die Bundesarmee und die Nationalgarde Kroatiens geben sich gegenseitig die Schuld an den Kampfhandlungen. - Am 8.9. votieren rund 75% der Wahlberechtigten Mazedoniens für die Bildung eines unabhängigen und souveränen mazedonischen Staates. Dieser Staat solle das Recht haben, "einem Bund souveräner Staaten Jugoslawiens beizutreten". - Am 25.9. verhängt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein "allgemeines und vollständiges Embargo für alle Lieferungen von Waffen und militärischer Ausrüstung an Jugoslawien". Der Beschluß gründet sich auf Kapitel VII der UN-Charta ("Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen"; Text in "Blätter", 10/ 1973, S. 1125 ff.). Der Rat appelliert "an alle Parteien", die Waffenstillstandsvereinbarungen vom 17.9. und vom 22.9. strikt einzuhalten und alle Aktionen zu unterlassen, die zur Erhöhung der Spannungen beitragen könnten. - Am 3.10. faßt das von der serbischen Fraktion dominierte Staatspräsidium in Anwesenheit des Verteidigungsministers, seines Stellvertreters sowie des Generalstabschefs der Bundesarmee den Beschluß, künftig Entscheidungen mit der "Mehrheit der anwesenden Mitglieder" zu treffen. Die Armeeführung erhält volle Unterstützung im Vorgehen gegen Kroatien. Der Beschluß trägt den Titel "Zur Arbeit unter Kriegsbedingungen" und verweist zur Begründung auf eine "unmittelbare Kriegsgefahr". In Presseberichten werden die Vorgänge im Staatspräsidium als "Staatsstreich" bezeichnet.

- B l o c k f r e i e B e w e g u n g. Zum Abschluß einer Ministerkonferenz in Accra (Ghana) wird eine Erklärung unter dem Titel "Eine Welt im Übergang: Von der Verminderung der Konfrontation zur wachsenden Zusammenarbeit" veröffentlicht, die eine Positionsbestimmung der Blockfreien Bewegung (Non-Aligned Movement/NAM) nach ihrer Gründung vor 30 Jahren (vgl. "Blätter", 1/1962, S. 5) enthält. Die Bewegung (gegenwärtig 103 Mitglieder) sei "die größte politische Gruppe in der Geschichte" und repräsentiere "die Mehrheit der Nationen". Am 19.9. gibt der argentinische Präsident Menem den Austritt seines Landes aus der Blockfreien Bewegung bekannt. Außenminister di Tella erklärt dazu am 20.9. vor der Presse, nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Konfrontation sei die Bewegung ihrer Grundlage beraubt und werde "weiterhin von nichtdemokratischen Regimen manipuliert". Tella spricht von einem "lebenden Anachronismus".

9.9. - A b r ü s t u n g. Vertreter der Teilnehmerstaaten der NATO (16 Mitglieder) und des ehemaligen Warschauer Vertrages (zuletzt 6 Mitglieder; zur Auflösung vgl. "Blätter", 8/1991, S. 902) setzen in Wien ihre zuvor in Ottawa (Februar 1990; vgl. "Blätter", 4/1990, S. 389) und Budapest (April 1990) geführten Verhandlungen über ein System gegenseitiger Luftüberwachung fort. Die 22 Delegationen beschließen zunächst, den drei baltischen Staaten einen Beobachterstatus einzuräumen. Das Projekt "Offener Himmel" (Open Sky) soll der Überwachung eingegangener Abrüstungsvereinbarungen dienen.

10.9.-4.10. - K S Z E. Im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) findet in Moskau das dritte Treffen einer "Konferenz über die menschliche Dimension" statt (Text des Schlußdokuments des zweiten Treffens in Kopenhagen vgl. "Blätter", 8/1990, S. 1008 ff.). Die Eröffnungsansprache hält Präsident Gorbatschow. Vor Beginn des Treffens werden Estland, Lettland und Litauen als unabhängige Staaten in die KSZE aufgenommen. In einem abschließenden Dokument vereinbaren die 38 Mitgliedstaaten einen Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte, der im Falle von Verstößen die Entsendung von Berichterstattern in das betreffende Land vorsieht; die Frage möglicher Sanktionen bleibt offen. In Presseberichten heißt es, u.a. habe sich die britische Delegation gegen weitergehende Regelungen ausgesprochen, weil sie eine "Einmischung!" in ihre Nordirlandpolitik befürchte.

11.9. - U d S S R / K u b a. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem in Moskau weilenden amerikanischen Außenminister Baker teilt Präsident Gorbotschow mit, die Sowjetunion werde demnächst Verhandlungen mit Kuba über die Beendigung ihrer militärischen Präsenz auf der Insel führen. Die Beziehungen der UdSSR zu Kuba sollten sich in Zukunft auf rein politischer und wirtschaftlicher Basis bewegen. Die sowjetische Ankündigung wird in einer Erklärung der kubanischen Regierung vom 14.9. kritisiert. Die "einseitig getroffene Entscheidung" bedeute "grünes Licht für die USA, ihre aggressiven Pläne gegen Kuba zu verwirklichen". Die USA werden aufgefordert, ihren Marinestützpunkt Guantanamo auf Kuba ebenfalls aufzugeben. Zu Verhandlungen trifft der stellvertretende sowjetische Außenminister Nikolajenko am 20.9. in Havanna ein.

13.9. - A f g h a n i s t a n. Die Außenminister Pankin (UdSSR) und Baker (USA) kommen in Moskau überein, die gegenseitigen Waffenlieferungen an die Bürgerkriegsparteien in Afghanistan zum 1. Januar 1992 einzustellen. In einer gemeinsamen Erklärung unterstützen beide Regierungen die Vorschläge zur Beilegung des Konflikts von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar (vgl. "Blätter", 7/1991, S. 743).

16.9. - P h i l i p p i n e n / U S A. Der philippinische Senat lehnt es ab, den Vertrag über die Benutzung des US-Marinestützpunktes Subic Bay um weitere zehn Jahre zu verlängern. Die USA hatten eine jährliche Pachtsumme von 200 Mill. Dollar angeboten. Die Regierung in Manila erklärt am 3.10., sie erwarte die Räumung der Basis innerhalb von drei Jahren. 17.9. - U N O. In New York beginnt die 46. Generalversammlung der Vereinten Nationen, zu deren Präsidenten Botschafter Samir S. Shihabi (Saudi-Arabien) gewählt wird. Mit der Aufnahme Mikronesiens, der Marschall-Inseln, der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) und der Republik Korea (Südkorea) sowie der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen steigt die Zahl der UN-Mitglieder von 159 auf 166 Staaten (vgl. "Blätter", 11/1990, S. 1286). - Am 27.9. sprechen sich die Außenminister der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates nach einer Unterredung mit Generalsekretär Perez de Cuellar in einer gemeinsamen Erklärung für eine Stärkung der Organisation der Vereinten Nationen aus, die eine "zentrale und wachsende" Rolle in den internationalen Beziehungen und bei der Errichtung einer neuen internationalen Ordnung spielen müsse. Zur Konfliktverhütung habe eine "präventive Diplomatie" hohe Priorität.

25.9. - E l S a l v a d o r. Die Regierung und die Nationale Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) unterzeichnen am Sitz der Vereinten Nationen in New York in Anwesenheit von UN-Generalsekretär Perez de Cuellar ein Abkommen, um den seit fast zwölf Jahren andauernden Bürgerkrieg beizulegen. Zur Überwachung des Friedensprozesses wird ein Komitee eingesetzt.

26.9. - R u m ä n i e n. Ministerpräsident Roman legt Präsident Iliescu sein Demissionsgesuch vor und reagiert damit auf anhaltende Demonstrationen von Bergarbeitern, die zeitweise Parlament und Regierungsgebäude besetzt und den Rücktritt des Ministerpräsidenten gefordert hatten. In Presseberichten heißt es, Roman halte Neuwahlen für den besten Ausweg aus der innenpolitischen Krise. Präsident Iliescu beruft am 1.10. den ehemaligen Finanzminister Stolojan an die Spitze der Regierung.

27.9. - U S A / U d S S R. Präsident Bush kündigt in einer Fernsehansprache überraschend neue einseitige Abrüstungsmaßnahmen der USA an. Dazu gehören der Rückzug der in der Bundesrepublik und Südkorea stationierten atomaren Artilleriegeschosse und deren Vernichtung. Das gleiche gilt für die noch vorhandenen 123 LanceKurzstreckenraketen einschließlich der Nuklearsprengköpfe. Die Alarmbereitschaft für die strategische Bomberflotte, die mit nuklearen Waffen ausgerüstet ist, soll ab sofort aufgehoben werden. Der Präsident schlägt der Sowjetunion Verhandlungen über einen gemeinsamen Verzicht auf alle ballistischen Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen vor. Nach der Ankündigung des Präsidenten wird im Kongreß die Forderung nach Kürzungen bei den übrigen Rüstungsprogrammen erhoben und dabei vor allem auf die geplante Neuentwicklung des Bombers B-2 hingewiesen. - Am 5.10. legt Präsident Gorbatschow ebenfalls Pläne für weitreichende Abrüstungsschritte vor. Gorbatschow spricht von einer drastischen Verringerung der taktischen Atomwaffen zu Lande und zur See und verkündet ein einjähriges Moratorium für sowjetische Atomtests. Die Sowjetunion habe beschlossen, die strategische Rüstung über die im START-Vertrag vereinbarten Begrenzungen hinaus zu reduzieren. Gorbatschow teilt mit, er habe vor Bekanntgabe seiner Abrüstungsvorschläge mit Präsident Bush telefoniert und dabei ein neues Gipfeltreffen angeregt.

29.9. - B r e m e n. Bei den Wahlen zum Landesparlament (Bürgerschaft) verlieren die alleinregierenden Sozialdemokraten unter Bürgermeister Klaus Wedemeier ihre bisherige absolute Mehrheit. Stimmengewinne erzielen vor allem die CDU sowie die rechtsgerichtete Deutsche Volksunion (DVU). Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen (Angaben in %) auf die im Landesparlament vertretenen Parteien: SPD 38,8 (1987: 50,5), CDU 30,7 (23,4), Grüne 11,3 (10,2), FDP 9,4 (10,0), DVU 6,1 (3,4). Die Wahlbeteiligung beträgt 72,2% (75,6%). Zusammensetzung der neuen Bürgerschaft (100 Abgeordnete): SPD 41 (54), CDU 32 (25), Grüne 11 (10), FDP 10 (10), DVU 6 (1). (Zu den Ergebnissen der Wahl vom 13. September 1987 vgl. "Blätter", 2/1988, S. 254.) 30.9. - H a i t i. Eine aus drei Mitgliedern bestehende Militärjunta unter Armeebefehlshaber Raoul Cedras übernimmt die Macht. Präsident Jean-Bertrand Aristide muß das Land an Bord eines venezolanischen Flugzeuges verlassen. Bei den Vereinten Nationen und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wird der Staatsstreich verurteilt und die Wiedereinsetzung von Aristide gefordert.

3.10. - S c h w e d e n. Das Parlament wählt mit 163 gegen 147 Stimmen bei 23 Enthaltungen den konservativen Parteivorsitzenden Carl Bildt zum neuen Ministerpräsidenten. Bildt, der an der Spitze ein er bürgerlichen Koalitionsregierung steht, ist Nachfolger von Ingvar Carlsson, dessen bisher regierende Sozialdemokratische Partei bei den Reichstagswahlen vom 15.9. große Stimmeneinbußen hinnehmen mußte; ihr Stimmenanteil war von 43,2% (1988) auf 37,6% zurückgegangen.

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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