Ausgabe August 1992

Chronik vom 6. Juni bis 5. Juli 1992

6.-7.6. - N a h e r O s t e n. Die Außenminister Jordaniens, Libanons und Syriens sowie Vertreter der PLO beschließen in der jordanischen Hauptstadt Amman, vor weiteren bilateralen Gesprächen mit Israel das Ergebnis der bevorstehenden Wahlen zur Knesset (23.6.) abzuwarten. Die Minister fordern in einer Erklärung verstärkten Druck der internationalen Staatengemeinschaft auf Israel. - Am 17.6. kritisiert der Präsident des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, Botschafter Paul Noterdaeme (Belgien), die Haltung der irakischen Regierung, die bei der abschließenden Demarkation der Grenze zu Kuwait die gebotene Kooperationsbereitschaft vermissen lasse. Der Irak bringe wieder jene Gebietsansprüche in die Diskussion ein, die er schon bei der Annexion Kuwaits geltend gemacht habe.

7.6. - T s c h e c h o s l o w a k e i. Aus den Wahlen zu den beiden Kammern des Bundesparlaments (Volkskammer und Nationalitätenkammer) sowie zu den Landesparlamenten (Nationalräten) gehen zwei Gruppierungen mit entgegengesetzten politischen Programmen mit je rund 35% der Stimmen als Sieger hervor: im tschechischen Landesteil die Koalition der Demokratischen Bürgerpartei und der Christdemokratischen Partei (ODS/KDS) unter Vaclav Klaus, im slowakischen Landesteil die Bewegung für eine demokratische Slowakei (HZDS) unter Vladimir Meciar; die Wahlbeteiligung beträgt 85%. Nach ersten Kontakten zwischen beiden Politikern über die Bildung einer Bundesregierung erklärt Klaus am 9.7., er halte die Tschecho-Slowakische Föderation für verloren. Man habe sich auf die Abhaltung eines gleichzeitigen Referendums mit gleich lautender Frage in beiden Landesteilen geeinigt. Ein Termin stehe noch nicht fest. - Am 19. 6. schließen Klaus und Meciar ein Rahmenabkommen über politische Zusammenarbeit (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen"). Eine gleichzeitig ausgearbeitete Programmerklärung für die neue Föderalregierung sieht die weitere Abtretung von bundesstaatlichen Kompetenzen an die Teilrepubliken vor. Von den bisher zwölf Bundesministerien sollen nur noch fünf (Auswärtiges, Verteidigung, Inneres, Finanzen und Wirtschaft) erhalten bleiben. Das Mandat der Regierung wird ausdrücklich zeitlich begrenzt. Am 1.7. ernennt Präsident Havel ein Übergangskabinett, dem neben Ministerpräsident Jan Strasky vier Vizeministerpräsidenten und fünf Fachminister angehören. - Am 3.7. stellt sich Präsident Havel, dessen Amtszeit am 5. Oktober d.J. abläuft, im Parlament zur Wiederwahl. Havel, der einziger Kandidat ist, verfehlt in zwei Wahlgängen die vorgeschriebenen Mehrbeiten. In Presseberichten beißt es, die Wiederwahl des Präsidenten sei am negativen Votum der slowakischen Abgeordneten gescheitert.

8.6. - J u g o s l a w i e n. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisiert den Generalsekretär, die Schutztruppe für Jugoslawien (United Nations Protection Force/UNPROFOR) um weitere 1100 Mann zu verstärken. In einer Resolution werden die Bürgerkriegsparteien aufgerufen, umgebend die Bedingungen für den Transport humanitärer Hilfsgüter nach Sarajewo und in andere Teile von Bosnien-Herzegowina zu schaffen. Für den Flugplatz von Sarajewo wird die Einrichtung einer Sicherbeitszone vorgeschlagen. - Am 15.6, bestimmt das Parlament der nur noch aus Serbien und Montenegro bestehenden "Bundesrepublik Jugoslawien" (vgl. "Blätter", 6/1992, S. 644) in Belgrad den Schriftsteller Dobrica Cosic zum Präsidenten für eine Amtszeit von vier Jahren. Cosic gehört keiner Partei an und gilt als Anhänger eines neuen serbischen Nationalismus. Die Opposition, die in beiden Kammern (Rat der Bürger und Rat der Republiken) die Wahl boykottiert hatte, deutet später die Bereitschaft zu Gesprächen mit den neuen Präsidenten an. Cosic beauftragt am 1.7. den in den USA lebenden Geschäftsmann Milan Panic, ebenfalls parteilos, mit der Bildung einer Regierung.

9.6. - G r i e c h e n l a n d. Das Parlament protestiert in einer fast einstimmig angenommenen Resolution gegen die Verwendung des Namens "Mazedonien" durch die ehemalige jugoslawische Teilrepublik mit der Hauptstadt Skopje. Die Benützung dieses Namens gefährde Frieden und Stabilität auf dem Balkan, denn sie berge "territoriale Gelüste" in sich. 10.6. - E G. Das Europäische Parlament befaßt sich in Straßburg mit den Auswirkungen des dänischen Referendums über die Verträge von Maastricht (vgl. "Blätter", 7/1992, S. 774). In einer mit 230 gegen 55 Stimmen angenommenen Resolution wird erklärt, der Ratifikationsprozeß solle fortgesetzt und ein rechtlicher Ausweg gesucht werden, der die Verwirklichung der Union auch mit reduzierter Mitgliederzahl ermögliche. Der Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion, der stärksten Fraktion im Parlament, Jean-Pierre Cot, vertritt in der Debatte die Ansicht: Weiterentwicklung der EG mit Dänemark wenn möglich, ohne Dänemark wenn nötig. - Vom 26.-27. 6. findet der Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Lissabon statt. Auf der Tagesordnung steht u.a. die baldige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Als mögliches Aufnahmedatum wird der 1. Januar 1995 genannt.

11.6. - B a d e n - W ü r t t e m b e r g. Der Landtag bestätigt mit 96 von 145 Stimmen Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) im Amt. Teufel, bisher Chef einer CDU-Alleinregierung, steht künftig an der Spitze einer "Großen Koalition" aus CDU und SPD. Von den anwesenden 109 Abgeordneten der Koalitionsfraktionen verweigern 13 dem Ministerpräsidenten ihre Stimme. Einziger Gegenkandidat ist Rolf Schlierer, Vorsitzender der Fraktion der Republikaner (15 Abgeordnete), für den 19 Stimmen abgegeben werden. Die CDU stellt in der Landesregierung sieben, die SPD fünf Mitglieder. (Zu den Ergebnissen der Landtagswahlen vom 5. April d.J. vgl. "Blätter", 5/1992, S. 518).

- Ö s t e r r e i c h / I t a l i e n. Der österreichische Außenminister Mock überreicht dem italienischen Botschafter Quaroni in Wien eine Note, mit der eine jahrzehntelange Kontroverse zwischen beiden Ländern über den Autonomiestatus der deutschsprachigen Provinz Südtirol formell beigelegt wird. In der Note heißt es, die Regierung in Rom habe ihre Verpflichtungen aus dem "Südtirolpaket" erfüllt. Außenminister Mock spricht von einem "Stück europäischer Geschichte", das Modellcharakter für andere Länder haben könne. Der Streitfall geht zurück auf das Jahr 1919, als Südtirol von Österreich abgetrennt und Italien zugesprochen wurde.

14.6. - U N O. In Anwesenheit von 120 Staats- und Regierungschefs wird in Rio de Janeiro (Brasilien) die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development/UNCED) beendet. Zu den Ergebnissen der Konferenz 13.-14.6.) gehören eine "Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung", ein umfangreicher Aktionsplan "Agenda 21" sowie Prinzipien zum weltweiten Umgang mit dem Wald. Diese Dokumente sind völkerrechtlich nicht verbindlich. Mehr als 150 Staaten unterzeichnen während der Konferenz die Konventionen zum Klima- und Artenschutz. Der amerikanische Präsident Bush begründet vor dem Forum noch einmal die Weigerung der USA, sich der Artenschutzkonvention ebenfalls anzuschließen. Die Konvention enge die Möglichkeiten der Biotechnologie ein und der Finanzierungsmechanismus sei ungeklärt.

- B r a n d e n b u r g. Mit einer Mehrheit von 92,8% stimmt die Bevölkerung in einem Referendum der neuen Landesverfassung zu (vgl. "Blätter", 6/1992, S. 645). Die Wahlbeteiligung liegt bei nur 49%

15.6 - A l b a n i e n. Während eines Besuches in Washington warnt Präsident Sali Berisha vor einem Übergreifen des Jugoslawienkonflikts auf die zu 90% von Albanern bewohnte serbische Provinz Kosovo. Dies könne Mazedonien und Albanien in den Konflikt hineinziehen und möglicherweise einen Balkankrieg auslösen.

15.-18.6. - U S A / R u ß l a n d. Der russische Präsident Jelzin hält sich zu Gesprächen mit Präsident Bush in Washington auf, wo er am 17.6. auf dem Capitol eine Rede vor beiden Häusern des Kongresses hält. Bush und Jelzin unterzeichnen eine "Charta für amerikanisch-russische Partnerschaft und Freundschaft" und einigen sich auf eine zusätzliche Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen. Gegenüber dem START-Vertrag, der eine Obergrenze von je 6500 bis 8500 vorsieht, soll die Zahl der Nuklearsprengköpfe auf je 3000 bis 3500 vermindert werden. Die landgestützten Langstreckenraketen mit Mehrfachsprengköpfen (russische SS-18 und SS24 sowie amerikanische MX-Raketen und Minuteman-3) sollen bis zum Jahr 2003 vollständig beseitigt werden. Für die seegestützten Interkontinentalgeschosse ist eine Obergrenze von je 1750 Nuklearsprengköpfen vorgesehen, was für die USA eine Reduzierung um rund 50% bedeutet.

17.6. - P h i l i p p i n e n. In Manila wird das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 11. Mai d.J. veröffentlicht und der ehemalige Verteidigungsminister Fidel Ramos mit einem Stimmenanteil von 23,6% zum Sieger erklärt. Der Anteil für die wichtigste Gegenkandidatin Miriam Defensor Santiago ist mit 19,7% angegeben. Frau Santiago spricht von Wahlbetrug und kündigt an, sie werde das Ergebnis vor dem Obersten Gerichtshof anfechten.

18.6. - I r l a n d. Die Bevölkerung billigt mit einer Mehrheit von 68,7% der abgegebenen Stimmen in einem Referendum den Verfassungszusatz über die Rafifizierung der Maastrichter Verträge (vgl. "Blätter", 2/1992, S. 133). Die Wahlbeteiligung liegt bei 57,3%.

19.6. - W E U. Unter dem Vorsitz von Bundesaußenminister Kinkel tagt der Ministerrat der Westeuropäischen Union (WEU) im Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg bei Bonn. Auf einem anschließenden Treffen mit den Außen- und Verteidigungsministern Bulgariens, Polens, Rumäniens, Ungarns und der Tschechoslowakei, sowie der drei baltischen Staaten wird beschlossen, ein gemeinsames "Konsultationsforum" einzurichten, das mindestens zweimal jährlich am künftigen Sitz der WEU in Brüssel (bisher London) zusammentreten soll. Zu den Beschlüssen des Ministerrats, die in einer "Petersberg-Erklärung" niedergelegt sind, gehört die Bildung eines militärischen Planungsstabes, der u.a. "die Vorbereitung von Eventualfallplänen für den Einsatz von Streitkräften unter der Ägide der WEU" koordinieren soll (vgl. "Dokumente zum Zeitgeschehen").

23.6. - I s r a e l. Der regierende Likud-Block unter Ministerpräsident Itzhak Schamir muß bei den Parlamentswahlen eine schwere Niederlage hinnehmen und die Führung an die oppositionelle Arbeiterpartei unter Itzhak Rabin abgeben. Nach dem vorläufigen Endergebnis stellt die Arbeiterpartei 44 (bisher 39), der Likud 32 (bisher 40) Abgeordnete in der 120 Mitglieder umfassenden Knesset.

25.6. - T ü r k e i. Auf Initiative von Ministerpräsident Demirel treffen sich die Staats- und Regierungschefs von elf Staaten der Schwarzmeerregion in Istanbul und unterzeichnen ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Vertreten sind neben der Türkei Delegationen aus Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Griechenland, Moldawien, Rumänien, Rußland und der Ukraine.

26.6. - B R D / T s c h e c h o s l o w a k e i. Als letzte parlamentarische Instanz ratifiziert der Bundesrat in Bonn den Nachbarschaftsvertrag mit der Tschechoslowakei vom 27. Februar d.J., der damit in Kraft treten kann (vgl. "Blätter", 7/1992, S. 772 und S. 878 ff.). Von den 16 Bundesländern stimmt nur Bayern gegen den Vertrag. Ministerpräsident Streibl (CSU) erklärt zur Begründung, Bayern betrachte sich als das "Schirmland der Sudetendeutschen" und nehme ihre berechtigten Interessen wahr. Die Staatsregierung seien "weiterhin der Auffassung", daß das Münchner Abkommen von 1938 "rechtswirksam zustande gekommen ist".

28.6. - I t a l i e n. Präsident Scalfaro vereidigt ein neues Kabinett, dem wiederum Vertreter der Vier-Parteien-Koalition aus Christdemokraten (DC), Sozialisten (PSI), Sozialdemokraten (PSDI) und Liberalen (PLI) angehören. Ministerpräsident ist Giuliano Amato (PSI), der Giulio Andreotti (DC) ablöst.

29.6. - A l g e r i e n. Der im Januar d.J. eingesetzte Präsident Mohammed Boudiaf (vgl. "Blätter", 3/1992, S. 260) fällt einem Attentat zum Opfer. Neues Staatsoberhaupt wird Ali Kafi, ein Mitglied des Hohen Staatsrates.

1.7. - K S Z E. Die Teilnehmer der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte (KSE-Verhandlungen) einigen sich auf Obergrenzen ihrer in Europa stationierten Land- und Luftstreitkräfte; die Seestreitkräfte bleiben ausgeklammert. Für die Bundesrepublik ist eine Truppenstärke von 345 000 Mann vorgesehen. Vom 3.-5.7. konstituiert sich in der ungarischen Hauptstadt eine Parlamentarische Versammlung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und verabschiedet eine "Budapester Erklärung". Bundestagspräsidentin Süßmuth, die die Delegation der Bundesrepublik leitet, spricht von einem "Schritt zur Festigung des KSZE-Prozesses", der - das Gerüst der KSZE-Institutionen nunmehr komplettiert".

3.7. - B e l g i e n. Die Regierung faßt den Beschluß, die seit dem Ersten Weltkrieg bestehende Wehrpflicht im Jahre 1994 abzuschaffen. Gleichzeitig sollen die Armee personell reduziert und die Militärausgaben zunächst bis 1995 auf dem bisherigen Stand eingefroren werden.

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