Ausgabe März 1995

Chronik des Monats Januar 1995

6.1. - R u ß l a n d. Unter Vorsitz von Präsident Jelzin berät der russische Sicherheitsrät in Moskau über die Militäraktion in Tschetschenien (vgl. "Blätter", 2/1995, S. 132 L). Jelzin teilt vor dem Gremium mit, die Truppen des Innenministeriums sollten in nächster Zeit für "die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung und für die Entwaffnung der illegalen Einheiten" sorgen. Der Auftrag der Armee sei erfüllt. 

N a h e r O s t e n. Der französische Außenminister Juppé vereinbart in Paris mit dem irakischen Vizepräsidenten Aziz die Eröffnung einer französischen Interessenvertretung in Bagdad. Aziz ist der erste hochrangige irakische Besucher in einem NATOLand seit dem Ende des Golfkrieges von 1990/91. Die französische Regierung tritt für die baldige Aufhebung des von den Vereinten Nationen gegen den Irak verhängten Embargos ein. - Vom 25. bis 26.1. hält sich der Leiter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Amman auf. Arafat konferiert mit dem jordanischen König Hussein und unterzeichnet ein Rahmenabkommen über die gegenseitige Zusammenarbeit. In Presseberichten heißt es, die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Seiten über Jerusalem seien beigelegt worden (vgl. "Blätter", 2/1995, S. 133 L). Arafat erkenne die Aufsicht Jordaniens über die Heiligen Stätten in Ostjerusalem an, im Gegenzug unterstütze Hussein den Souveränitätsanspruch der Palästinenser auf den Ostteil Jerusalems.

8.1. - A l g e r i e n. Als Gäste der katholischen Sant'EgidioGemeinde in Rom verhandeln Vertreter von Oppositionsgruppen, darunter die verbotene "Front islamique du salut" (FIS), über einen Plan zur Beendigung des inneralgerischen Konflikts. Der Plan sieht die Einstellung der bewaffneten Auseinandersetzungen sowie Gespräche mit der vom Militär gestutzten Regierung über die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie vor.

B R D / R u ß l a n d. Bundeskanzler Kohl erklärt in einem Rundfunkinterview, die Bundesregierung lehne es ab, auf die russische Militäraktion in Tschetschenien mit Wirtschaftssanktionen zu reagieren. Jede Destabilisierung Rußlands bedeute eine Destabilisierung Europas und Asiens. Kohl bezeichnet den Tschetschenien-Kontlikt erneut als eine innerrussische Angelegenheit. Bundesverteidigungsster Rühe teilt am 9.1. mit, Rußland habe die für den Sommer d.J. geplante deutsch-russische Militärübung bei St. Petersburg abgesagt. Der Krieg in Tschetschenien ist am 19.1. Thema einer Debatte im Deutschen Bundestag in Bonn, die mit einer Regierungserklärung von Bundesaußenminister Kinkel eingeleitet wird. In einer einstimmig verabschiedeten Entschließung wird das russische Vorgehen als eine "schwere Verletzung der Prinzipien der OSZE... und der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen" verurteilt. Der willkürliche und schrankenlose Einsatz militärischer Gewalt sei unvertretbar. Kinkel trifft sich am 22.1. in der Botschaft der Bundesrepublik in Bern zu einem Gespräch mit dem russischen Außenminister Kosyrew. - Am 24.1. berichten Nachrichtenagenturen aus Moskau, der russische Verteidigungsminister Gratschow habe die Zusage zur Teilnahme an einer Sicherheitskonferenz in München für Anfang Februar zurückgezogen.

9.1. - J u g o s l a w i e n. Der amerikanische Unterstaatssekretär Holbrooke erklärt nach Gesprächen mit dem bosnischen Präsidenten Izetbegovic in Sarajewo, der Friedensplan der internationalen Kontaktgruppe für Bosnien gelte unverändert und sei "die Basis für weitere Verhandlungen". Izetbegovic widerspricht Holbrooke: vor weiteren Verhandlungen müsse der Friedensplan durch die serbische Seite angenommen werden. - Am 11.1. verpflichten sich die bosnischen Serben in einer Vereinbarung zur Umsetzung des Waffenstillstands (vgl. "Blätter", 2/1995, S. 134), die Zufahrtstraßen nach Sarajewo freizugeben und damit ihren Belagerungsring um die bosnische Hauptstadt zu lockern. - Am 12.1. gibt der kroatische Präsident Tudjman in einer von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Ansprache die Entscheidung der Regierung bekannt, das am 31. März d.J. auslaufende Mandat der Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) nicht weiter zu verlängern. Die "Blauhelme", die seit fast drei Jahren in der von Serben besetzten Krajina und in Ostslawonien stationiert sind, müßten das Gebiet spätestens Ende Juni verlassen. - Am 18.1. bezeichnen UN-Generalsekretär Boutros Ghali und Bundesaußenminister Kinkel bei einem Meinungsaustausch in Bonn die Forderung von Präsident Tudjman nach Beendigung der Präsenz der Vereinten Nationen in Kroatien als ein "falsches Signal". In einer Mitteilung über ein Treffen von Bundeskanzler Kohl mit Boutros Ghali am 19.1. heißt es u.a.: "Der Bundeskanzler und der Generalsekretär stimmten... darin überein, daß die weitere Anwesenheit von UNPROFOR in Kroatien von hoher Bedeutung für Frieden und Sicherheit in der Region" sei. Die kroatische Führung wird dringend aufgefordert, ihre Entscheidung vom 12.Januar d.J. zu überprüfen.

12.1. - O S Z E. Der Ständige Rat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befaßt sich auf einer Sitzung in Wien mit dem Konflikt in Tschetschenien und fordert nachdrücklich die unverzügliche Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel einer politischen Beteiligung der Krise". Dabei müsse die territoriale Integrität der Russischen Föderation voll berücksichtigt" werden. Die volle Einhaltung aller OSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen sei eine Angelegenheit, die alle Teilnehmerstaaten direkt betreffe. Generalsekretär Höynck erklärt nach der Sitzung vor der Presse, die OSZE wolle "im Dialog Einfluß auf Rußland" nehmen, Eine OSZEDelegation schlägt nach ihrer Rückkehr aus dem Krisengebiet einen sofortigen "humanitären Waffenstillstand" vor. Die Delegation beschuldigt auf einer Pressekonferenz in Moskau beide kriegführenden Parteien einer Verletzung der Menschenrechte.

13.1. - I t a l i e n. Staatspräsident Scalfaro beauftragt den bisherigen Schatzminister Lamberto Dini mit der Neubildung der Regierung. Dini, der Silvio Berlusconi ablöst (vgl. "Blätter", 2/1995, S. 134), kündigt die Bildung eines Kabinetts der "Technokraten" an. Die 54. Nachkriegsregierung wird am 17.1. im Quirinal vereidigt und erhält später das Vertrauen von Senat und Abgeordnetenhaus.

16.1. - E U. Nach der Erweiterung der Europäischen Union auf 15 Mitglieder (vgl. Blätter -, 2/1995, S. 134) konstituiert sich in Straßburg das ebenfalls vergrößerte Parlament. Die Zahl der Abgeordneten steigt von bisher 567 auf 626 (zur bisherigen Zusammensetzung vgl "Blätter", 1/1995, S. 124); Finnland ist künftig mit 16, Österreich mit 21 und Schweden mit 22 Abgeordneten vertreten. Der designierte neue Kommissionspräsident Jacques Santer (Luxemburg) setzt sich am 17.1. in seiner Antrittsrede - vor dem Plenum für eine verstärkte Integration in der Union ein und fordert einen "großen Integrationssprung vorwärts". Im Namen der Präsidentschaftspflicht der französische Staatspräsident Mitterrand zu den Parlamentariern. Der scheidende Kommissionspräsident Jacques Delors (Frankreich) wird feierlich verabschiedet. Das Parlament stimmt am 18.1. der Ernennung der neuen Europäischen Kommission mit 417 gegen 104 Stimmen bei 59 Enthaltungen zu. Die für fünf Jahre bestellten 20 Mitglieder der Kommission, darunter fünf Frauen, werden am 24.1. vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vereidigt. - Am 31.1. spricht sich der französische Ministerpräsident Balladur in Straßburg bei einem Besuch des "Eurokorps", dem Truppenteile Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens angehören, für die Schaffung eines einheitlichen Verteidigungssystems der Europäischen Union aus. Nur so werde die Union in die Lage versetzt, die internationale Szene mit ihrem ganzen Gewicht zu beeinflussen.

17.1. - G r o ß b r i t a n n i e n. Premierminister Major wendet sich im Unterhaus in London gegen zentralistische Bestrebungen in der europäischen Union. Die konservative Regierung werde jede weitere Erosion der britischen Souveränität zu verhindern wissen. Die Rede Majors wird in Presseberichten als eine Antwort auf die Antrittsrede des neuen EU-Kommissionspräsidenten Santer vor dem Europäischen Parlament bezeichnet.

17.-18.1. - R u ß l a n d / U S A. Der russische Außenminister Kosyrew und der amerikanische Außenminister Christopher treffen sich zu einem Meinungsaustausch in Genf. Themen sind nach Presseberichten die internationalen Auswirkungen des russisch-tschetschenischen Konflikts im Nordkaukasus sowie die Meinungsverschiedenheiten zwischen der NATO und Rußland über eine "Osterweiterung" der Allianz. Zur Diskussion steht auch ein mögliches Gipfeltreffen der Präsidenten Clinton und Jelzin im Mai d.J in Moskau. - Am 27.1. führt ein Beauftragter des tschetschenischen Präsidenten Dudajew ein Gespräch im amerikanischen Außenministerium. In Washington heißt es dazu, Schamsettin Jusuf, der sich als Außenminister Tschetscheniens bezeichnet, sei als Privatmann empfangen worden. Die russische Regierung protestiert gegen die Kontakte.

24.1. - U S A. Präsident Clinton legt dem Kongreß in Washington den jährlichen, "Bericht zur Lage der Nation" vor, in dessen Mittelpunkt die Innenpolitik steht. Clinton erneuert sein Angebot zur Zusammenarbeit mit der republikanischen Mehrheit des Parlaments. Zur Außenpolitik heißt es in dem Bericht, die Vereinigten Staaten könnten nicht stark im Inland sein, wenn wir nicht im Ausland stark sind". Die nationale Sicherheit sei "abhängig von unserer weiteren Führungsrolle in der Welt beim Streben nach Frieden, Freiheit und Demokratie".

26.-27.1. - P o l e n. Vertreter von 26 Staaten nehmen an den offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau teil. Zu den anwesenden Staatsoberhäuptern gehört auch Bundespräsident Herzog. Der Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, Maurice Goldstein, warnt in seiner Rede vor rechtsextremistischen und xenophoben Tendenzen, die in letzter Zeit wieder vermehrt Auftrieb erhalten hätten.

27.1. - A b r ü s t u n g. Das letzte Vorbereitungstreffen für die im April d.J. in New York stattfindende Überprüfungskonferenz zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (unterzeichnet am 1. Juli 1968, in Kraft getreten am 5. März 1970; Text in "Blätter", 7/1968, S. 767 ff.) wird beendet. In Presseberichten heißt es, es zeichne sich eine Mehrheit der Vertragspartner für eine Verlängerung des Vertrages um 25 Jahre ab. Eine von den Atommächten geforderte unbefristete Verlängerung werde dagegen von den meisten Entwicklungsländern abgelehnt. Als 168. Teilnehmerstaat war Algerien dem Vertrag am 12.1. beigetreten. 

E k u a d o r / P e r u. Vor dem Jahrestag des Protokolls von Rio (29. Januar 1942) werden bewaffnete Auseinandersetzungen aus dem Grenzgebiet der beiden Andenstaaten gemeldet. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, Zwischenfälle provoziert zu haben. Argentinien, Brasilien, Chile und die USA, die Garantiemächte des Protokolls, rufen die Streitparteien auf, die Kämpfe zu beenden und die Meinungsverschiedenheiten über den umstrittenen Grenzverlauf friedlich beizulegen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) wird mit einer Vermittlung beauftragt. 28.1. - U S A / V i e t n a m. Die Regierungen beider Staaten vereinbaren die Einrichtung gegenseitiger Verbindungsbüros ("liaison offices") in Hanoi und Washington. Von seiten des amerikanischen Außenministeriums wird dazu erläutert, es handele sich noch nicht um die Herstellung diplomatischer Beziehungen. Ein weiteres Abkommen betrifft die Rückgabe bzw. die finanzielle Entschädigung für beschlagnahmten diplomatischen Besitz nach dem Ende des Vietnamkrieges im Jahre 1975.

30.1. - E u r o p a r a t, Die russische Regierung sagt in einem an den Europarat in Straßburg gerichteten Dokument zu, sie werde nach der Aufnahme in die Organisation alle Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention einhalten. Bei der Ausarbeitung eines Gesetzes über nationale und kulturelle Autonomie werde Rußland die Empfehlungen des Europarates über den Schutz von Minderheiten berücksichtigen und die entsprechende Konvention innerhalb eines Jahres ratifizieren. - Am 31.1. empfiehlt die Parlamentarische Versammlung in Straßburg einstimmig die Aufnahme Lettlands als 34. Mitglied des Europarates.

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