Rede der CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Leipzig, 14.11.2011
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freunde! „Deutschland kann mehr“, das war das Motto unseres Leipziger Parteitages des Jahres 2003. „Wir haben den Ehrgeiz, Deutschland in zehn Jahren wieder ganz nach vorne zu bringen, unter die drei besten Nationen Europas“. Das war der Kernsatz des Antrages, den wir damals in Leipzig beschlossen haben. Heute, acht Jahre später, können wir sagen: Wir haben dieses Ziel erreicht.
Deutschland kann mehr. Wir haben Deutschland wieder an die Spitze geführt. Wir sind nicht mehr Schlusslicht in Europa. Wir sind Stabilitätsanker in Europa. Wir sind die Wachstumslokomotive. Erinnern wir uns doch einmal: Gerhard Schröder hatte Deutschland 5 Millionen Arbeitslose hinterlassen. Wir haben den Trend gebrochen und die Zahl der Arbeitslosen auf unter 3 Millionen gesenkt. Noch nie hatten so viele Menschen Arbeit wie heute, und das ist gut so, liebe Freunde.
In einigen Städten und Regionen haben wir heute in Deutschland Vollbeschäftigung. Das straft all jene Lügen, die uns für dieses Ziel immer wieder verspottet haben. Deshalb sage ich auch hier: Unter 3 Millionen Arbeitslose, das ist eine tolle Zahl, das ist ein tolles Resultat. Aber wir werden nicht ruhen, bevor wir nicht all den Menschen, die arbeiten können, Arbeit gegeben haben. Vollbeschäftigung bleibt unser Ziel für eine menschliche Gesellschaft.
Das, was ich sage, heißt nichts anderes, als dass Deutschland wieder unter den drei besten Nationen Europas ist. Deutschland geht es so gut wie lange nicht mehr. Wir wissen, das ist ein Verdienst sehr vieler. Aber es ist auch ein Verdienst der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Darauf können wir gemeinsam stolz sein. Wir haben unser Land vorangebracht.
2003 hatten wir uns ein Ziel gesetzt. Jetzt, acht Jahre später, haben wir dieses Ziel erreicht, schneller als gedacht, obwohl die äußeren Rahmenbedingungen in den letzten Jahren immer schlechter geworden sind. Warum konnte uns das gelingen? Es konnte uns gelingen, weil wir schon damals, zu Oppositionszeiten, unsere Verantwortung für Deutschland ernst genommen haben; denn ohne die Unterstützung der Union gerade im Bundesrat hätte Bundeskanzler Schröder niemals wichtige Teile der Agenda 2010 durchsetzen können, niemals! Es konnte gelingen, weil wir seit Leipzig 2003 mal schneller, mal langsamer, aber immer wieder Schritt für Schritt wichtige Weichenstellungen vorgenommen haben: Rente mit 67, den Einstieg in die Entkopplung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten, den für viele viel zu langsamen Einstieg in mehr Steuergerechtigkeit, die Konsolidierung des Haushalts sowie den Vorrang für Bildung und Forschung.
Wie war all das möglich? All das war nur möglich, weil wir, so groß die Herausforderungen, so rasant die Veränderungen, so widrig die Umstände auch waren, einen festen Kompass, ein festes Wertefundament haben. Dieser Kompass, liebe Freunde, leitet uns seit 65 Jahren. Seit 65 Jahren gibt er uns Halt und Orientierung.
Dieser Kompass ist unveränderlich. Es sind unsere Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Sie prägen das Gesellschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft, ein Gesellschaftsmodell, mit dem ein Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital, wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit gefunden werden kann. Diese Grundwerte prägen genauso unser Denken, unser Denken in Partnerschaften, in Bündnissen, in Bündnissen für unser außen- und sicherheitspolitisches Handeln, in der Allianz unserer Verbündeten und Partner in der Europäischen Union und in der transatlantischen Partnerschaft. Da sichern wir unsere Werte und unsere Art, zu leben. Nicht zuletzt, sondern – im Gegenteil – vorneweg und alles bestimmend für uns als Christlich Demokratische Union ist dabei unser christliches Menschenbild.
Aus ihm, liebe Freunde, leiten wir ab, was die Würde des Menschen umfasst: Die Würde des Menschen, geboren und ungeboren, gesund, krank oder sterbend, diese Würde ist unveräußerlich.
So machen wir seit 65 Jahren Politik aus Verantwortung vor Gott und den Menschen. „Voll Gottvertrauen wollen wir unseren Kindern und Enkeln eine glückliche Zukunft erschließen“, so heißt es im Gründungsaufruf unserer Partei von 1945. Das macht das Wesen der Christlich Demokratischen Union Deutschlands aus. Mit diesem Kompass dienen wir Deutschland als die große Volkspartei der Mitte.
Liebe Freunde, das ist und das bleibt die Motivation, auch heute. Deshalb: Der Kompass ist unveränderlich, doch der Kontext, die Zeiten, in denen wir leben und arbeiten, die verändern sich, und zwar fortlaufend; ich sage: manchmal geradezu atemberaubend. Wenn wir allein auf dieses Jahr blicken: Die Veränderungen in Nordafrika, in Nahost. Menschen feierten zum Jahresbeginn auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Es gab die ersten freien Wahlen in Tunesien. Gaddafi ist in Libyen gestürzt worden. Es gibt einen Aufstand in Syrien; das Land ist von der Arabischen Liga suspendiert. Im März dieses Jahres wurde Japan nach einem Erdbeben und einem Tsunami von einer dramatischen Reaktorkatastrophe heimgesucht. Durch das Internet haben wir völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten. Damit verbunden sind bahnbrechende Chancen. Vielleicht, nein, sicher ist das ein Umbruch so groß wie die Erfindung der Buchdruckerkunst.
Gleichzeitig, neben diesen Chancen sehen wir aber auch Bedrohungen: durch Straftaten, durch Industriespionage, durch Cyberattacken. Wir erleben immer wieder im Bereich der inneren Sicherheit Unvorstellbares. Gerade in diesen Tagen müssen wir vermuten, dass es schreckliche Gewalttaten aus dem Bereich des Rechtsextremismus gibt. Terrorismus im rechtsextremen Bereich, meine Damen und Herren, das ist eine Schande, das ist beschämend für Deutschland, und wir werden alles tun, um die Dinge aufzuklären und den Menschen gerecht zu werden.
Wir erleben im Bereich der äußeren Sicherheit, dass all das, was wir über die Jahrzehnte des Kalten Krieges, der Abschreckung gelernt haben, heute keine Gültigkeit mehr hat. Wir haben asymmetrische Bedrohungen. Wir haben den internationalen Terrorismus. Wir müssen darauf reagieren. Wir sehen, dass China, Indien, Brasilien aufstreben. Mit ihrem Aufstieg verschieben sich natürlich die Kräfteverhältnisse weltweit. Chinas Wirtschaft ist im dritten Quartal um 9 Prozent gewachsen, und das war der niedrigste Wert in den letzten zwei Jahren. Es gibt heute eine internationale wirtschaftliche Verflechtung wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Kommen wir zurück nach Deutschland: Wir sehen einen tiefgreifenden demografischen Wandel. Es gibt mehr Schüler mit Migrationshintergrund. Familien ziehen viel häufiger um. Vor allen Dingen leben in Deutschland aber immer weniger Menschen, die im Durchschnitt immer älter werden. In den kommenden zehn Jahren werden die Schülerzahlen in Deutschland um 30 Prozent sinken. Das geschieht in Deutschland vor einer Folie, die zeigt, dass weltweit genau die umgekehrte Tendenz festzustellen ist. Da passiert das Gegenteil: Die Weltbevölkerung nimmt weiter rasant zu. 1950, als unsere CDU fünf Jahre alt war, gab es 2,5 Milliarden Menschen auf der Welt. Heute sind wir sieben Milliarden. 1950 war mindestens jeder Fünfte auf der Welt ein Europäer. Heute ist es jeder 14., und es werden noch weniger werden. Sie alle, alle diese 7 Milliarden Menschen wollen natürlich – ich habe vom christlich- liberalen Menschenbild gesprochen – Nahrung, Gesundheit, Energie. Ich sage ganz offen: Befriedigende Antworten auf die Frage, wie wir das alles sichern und gleichzeitig unsere natürlichen Ressourcen und das Klima schützen wollen, haben wir noch nicht.
Wenn wir das alles auf uns wirken lassen – vom Tahrir-Platz über das Internet bis zu den sieben Milliarden Menschen –, dann wird klar – ich glaube, damit sage ich nicht zu viel –: Wir leben in Zeiten epochaler Veränderungen. Wer in einer solchen Zeit glauben würde, dass wegen der epochalen Veränderungen unser Wertefundament, unser Kompass nicht mehr gelten würde, der hätte nicht verstanden, welche Kraft dieser Kompass für die Christlich Demokratische Union entfaltet, wie er uns leitet und wie er uns führt.
Liebe Freunde, wer umgekehrt in einer solchen Situation glauben würde, dass unser Kompass bedeutet, die Antworten für richtig zu halten, die vor 30 Jahren richtig waren, dass die Antworten von heute dieselben sind wie die vor 30 Jahren, dass die Antworten vor 30 Jahren dieselben sind wie vor 60 Jahren, der unterschätzt das Leben einer Volkspartei, der unterschätzt das, was die CDU immer stark gemacht hat. Wenn wir erfolgreich waren, dann haben wir es immer anders gemacht. Wie haben wir es gemacht? Als große Volkspartei der Mitte, schichten- und konfessionsübergreifend, ohne dogmatisches Ideologieverständnis, aber auf der Grundlage eines festen Kompasses haben wir immer wieder alte Antworten überprüft und neue gegeben, mit dem Sinn für die Realitäten des Lebens. Das macht die Stärke der CDU aus, liebe Freunde.
Das macht – davon bin ich überzeugt – auch unsere Stärke für die Zukunft aus. Was heißt das konkret?
Erstens. Geschieht in einem Hochtechnologieland wie Japan ein Reaktorunfall, dessen Folgen ja im Grunde bis heute nicht ganz absehbar sind und der nach allen vorherigen Risikoannahmen, nach menschlichem Ermessen nicht hätte passieren dürfen, dann hat das Folgen für die Verlässlichkeit von Risikoannahmen im Bereich der Kernenergie. Man kann es auch anders sagen: Das Restrisiko hat mit der Katastrophe von Fukushima ein Gesicht bekommen. Und wenn das so ist, dann – der Überzeugung bin ich – müssen wir daraus die Konsequenzen ziehen. Die heißen: In Deutschland schneller als ursprünglich geplant die Energiewende einleiten.
Liebe Freunde, ich will noch einmal daran erinnern: Brückentechnologie war die Kernenergie für uns seit langem; festgeschrieben in unserem Grundsatzprogramm. Es ging also nicht mehr um das Ob des Umstiegs – wir wollten immer umsteigen in das Zeitalter der erneuerbaren Energien –, sondern um das Wie, um einen Umstieg mit Augenmaß. Da sage ich: Natürlich bleibt eine riesige Aufgabe, aber die Welt hat sich durch Fukushima verändert, und deshalb müssen wir schnell aussteigen. Deshalb müssen wir schnellstmöglich aussteigen. Ich sage aber auch: Die Arbeit ist damit, dass dies beschlossen wurde, nicht getan, sondern jetzt müssen wir auch zeigen, wie wir das machen. Da sage ich – das unterscheidet uns von allen anderen –: Wir sagen, wie wir es machen, und nicht, wogegen wir sind.
Gegen alles zu sein, das mag der bequeme Weg sein. Gegen Speicherwerke, gegen neue Stromtrassen, gegen neue Kraftwerke, überhaupt gegen eine leistungsfähige Infrastruktur in Deutschland insgesamt, gegen Autobahnen, gegen moderne Bahnhöfe, gegen Breitbandversorgung – gegen all das zu sein, können manche sich leisten. Die Christlich Demokratische Union wird dabei nicht mitmachen, liebe Freunde.
Weil es uns gibt, wird nun endlich ein Endstück der Autobahn in Berlin mit einer Länge von 3,4 Kilometern gebaut. Das ist gut so, liebe Freunde: für eine moderne Großstadt, für eine Weltstadt wie Berlin. Danke schön dafür!
Weil wir das Land sind, das dafür ist, dass Infrastrukturprojekte entstehen, wünschen wir unseren Freunden in Baden-Württemberg von diesem Leipziger Parteitag alles Gute für die Volksabstimmung über Stuttgart 21, meine Damen und Herren.
Ich weise auf die Dialektik hin: Um Ja zu Stuttgart 21 zu sagen, muss man Nein sagen. Das ist dialektisch; aber ich glaube, das schaffen wir.
Liebe Freunde, mit einem Wort: Wir sind ein Land der großen Möglichkeiten. Das ist die Überzeugung der Christlich Demokratischen Union.
Zweitens. Wenn in Deutschland immer weniger und im Durchschnitt auch ältere Menschen leben, dann müssen wir daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen. Wir können doch nicht einfach so tun, als ginge es noch um die Bevölkerung des Jahres 1950. Das hat Folgerungen für die Altersversorgung. Das hat bedeutet: Wir müssen uns für die Rente mit 67 entscheiden. Ich füge hinzu: Natürlich müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Rente mit 67 nicht nur im Gesetzblatt steht, sondern dass die Menschen auch die Chance haben, bis zu diesem Lebensalter arbeiten zu können. Sonst versteht uns keiner. Auch das ist die Aufgabe der Christlich Demokratischen Union.
Es nützt auch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Wenn wir wollen – das ist unser Prinzip –, dass jeder Mensch die Gesundheitsversorgung bekommt, die er braucht, dann heißt das auf der anderen Seite, dass wir, im globalen Wettbewerb stehend, nicht die steigenden Gesundheitskosten an die Arbeitskosten koppeln können. Das heißt, wir brauchen eine Entkopplung. Darüber zu reden und das zu beschließen, war unsere Aufgabe. Wenn das so ist, zieht dies Folgerungen in der Pflege nach sich. Ich sage ausdrücklich: Wir haben jetzt einen ersten Schritt unternommen, uns besser um Demenzkranke zu kümmern. Die Krankheit Demenz ist für die ältere Generation die große Herausforderung der Zukunft. Davor können wir doch nicht die Augen verschließen und sagen: Beitragserhöhungen kommen für uns nicht infrage. – Gleichzeitig müssen wir weiterschreiten – das geht langsam, aber Schritt für Schritt –, um auch der jungen Generation durch Kapitaldeckung die Sicherheit zu geben, dass die Pflege auf festen Füßen steht.
Liebe Freunde, es muss auch veränderte Antworten auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit geben. Wir müssen Beruf und Familie enger und anders miteinander verzahnen. Denn unsere Überzeugung ist doch nach wie vor, dass die Familie der Kern unserer Gesellschaft ist, dass hier Werte vermittelt werden, dass hier Liebe gelebt wird, dass hier Zuneigung und Verantwortung lebenslang sind. Deshalb müssen die Familien geschützt werden. Deshalb müssen die Familien aber auch das Recht haben, ihre Entscheidung zu treffen, wie sie Beruf und Familie miteinander verbinden wollen.
Wir haben schon Mitte der 80er-Jahre gesagt: Unser Familienbild ist das der Wahlfreiheit. Wir haben uns immer schwer damit getan, weil jeder eine andere Vorstellung davon hatte, wie Wahlfreiheit aussehen soll. Ich sage, es war richtig, dass wir vor einigen Jahren begonnen haben, die Zahl der Kinderbetreuungsplätze für unter Dreijährige auszubauen. Das war dringend notwendig, und wir haben noch viel zu tun, um dies zu schaffen, liebe Freunde.
Aber es ist jetzt auch richtig, mit dem Betreuungsgeld den Eltern ein Zeichen zu geben, die sich entschieden haben, einige Jahre ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Das ist Wahlfreiheit: Ausbau der Krippenbetreuung und gleichzeitig Unterstützung.
Meine Damen und Herren, wenn die demografische Entwicklung unseres Landes ist, wie sie ist, dann wird das auch Folgen für das Bildungssystem haben. Ich weiß – ich habe das schon gesagt –, dass Schulpolitik Ländersache ist. Das ist richtig.
Das soll auch so bleiben, gar keine Frage. Wir haben genug im Bund zu tun. So ist es nicht. – Aber wichtig ist doch, liebe Freunde, dass eine große Volkspartei wie die Christlich Demokratische Union sprechfähig ist, dass wir unsere Prinzipien kennen, dass wir wissen, was wir wollen und was wir nicht wollen. Deshalb sage ich: Wir wollen keine Einheitsschule. Wir werden das Gymnasium erhalten. Das sind unsere Grundbedingungen, und dafür müssen wir kämpfen.
Schauen Sie sich doch heute einmal die Koalitionsverhandlungen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern an! Das Gymnasium wird keinesfalls von jeder Partei in Deutschland für richtig gehalten. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Gymnasium und gegen die Einheitsschule, liebe Freunde. Das ist es, was wir wollen.
Wir wollen auch nicht einfach die Hauptschulen abschaffen. Damit das vollkommen klar ist: Da, wo es funktionierende gute Hauptschulen gibt, können und werden sie bestehen bleiben.
Aber es lohnt sich auch hier nicht, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als ob jeder Bürgermeister vor Ort, der die Wahl hat, sich für keine Schule und dafür weiter entfernt eine Hauptschule zu entscheiden, sich sofort für die Hauptschule entscheiden würde. Die Wahrheit ist: Viele möchten die Schule behalten, auch bei weniger Schülern. Deshalb müssen wir Mittel und Wege finden, wie wir Real- und Hauptschule unter einem Dach organisieren können, liebe Freunde. Das ist die Antwort auf 30 Prozent weniger Schüler.
Wenn ich mir die PISA-Ergebnisse von Thüringen und Sachsen anschaue, die von 1990 an ein Zweiwegemodell hatten, dann kann ich nicht sagen, dass das Abendland damit untergeht. Das sind vielmehr vernünftige Lösungen in Zeiten des demografischen Wandels, liebe Freunde.
Das heißt also: Wir bringen mit unserem heutigen Konzept neue Herausforderungen und unsere Prinzipien in Einklang: exzellente Bildung, Leistungsgerechtigkeit, individuelle Förderung.
Wenn in Deutschland immer weniger und immer ältere Menschen leben, dann folgt daraus auch, dass wir der Wirtschaft Antworten auf die Frage nach qualifizierten Fachkräften geben müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich sage ganz eindeutig: Wir haben noch fast 3 Millionen Arbeitslose. Es geht vor allem darum, ihnen Arbeit zu geben, wo immer das möglich ist. Wenn wir aber Fachkräfte brauchen und wenn wir im Übrigen die Erfahrung gemacht haben, dass der Run auf Deutschland in Bezug auf die qualifiziertesten Köpfe gar nicht so groß ist, wie wir es uns manchmal vorstellen, dann müssen wir die Bedingungen dafür schaffen, dass die Menschen, die bei uns arbeiten wollen und exzellent sind, auch bei uns arbeiten können und nicht woandershin in die Welt gehen. Auch das gehört zu einem erfolgreichen Land.
Wenn sich die Dinge ändern – und sie ändern sich massiv, wenn Sie sich einmal anschauen, dass in den deutschen Großstädten die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund bei der Einschulung zum Teil 50 Prozent und mehr erreicht –, dann ist das Thema Integration ein Kernthema, auf das wir richtige Antworten finden müssen und auch schon gefunden haben. Was wäre denn ohne die CDU? Es gäbe keine Sprachtests in den Schulen und bei den Kleinkindern. Es gäbe keine Integrationskurse, wo die Sprache erlernt wird. Wir waren es, die gesagt haben: Sprache und Chancen in einem Land gehören zusammen. Wer hier lebt, muss auch unsere Sprache sprechen. – Das hat sich durchgesetzt, bei allen und parteiübergreifend.
Drittens. Liebe Freunde, wenn wir feststellen, dass sich die Sicherheits- und Bedrohungslage seit dem Ende des Kalten Krieges völlig verändert hat, dann hat das natürlich auch Auswirkungen auf unsere Sicherheitsstruktur. Wenn wir im Übrigen feststellen, dass nur noch 13 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs zur Bundeswehr gezogen wurden, dann hat das auch Auswirkungen auf die Wehrpflicht. Deswegen haben wir vergangenes Jahr darüber diskutiert. Ich sage ganz unumwunden: Das war nicht nur eine weitreichende Entscheidung; vielleicht war es die weitreichendste Entscheidung der christlich-liberalen Koalition. Die CDU hat natürlich immer für die Idee des Staatsbürgers in Uniform gestanden. Ich sage Ihnen: Wir werden das auch weiter tun.
Auch auf der Ebene der Freiwilligenarmee nach der Aussetzung der Wehrpflicht ist die Idee des Staatsbürgers in Uniform keine Idee, die uns nicht mehr berührt. Wir werden die Reservisten stärken. Wir werden eine Bundeswehr haben, die weiter die Achtung und Unterstützung gerade der Christlich Demokratischen Union Deutschlands hat.
Viertens. Wenn wir feststellen und es hautnah erleben, dass Globalisierung nicht mehr nur ein sperriges Wort für irgendwelche intellektuellen Debatten ist, sondern dass die Welt in einer Form dicht verbunden und vernetzt ist, dann hat auch das Auswirkungen. Dieser Tage blicken wir von Berlin, Tokio, Peking, London, New York und Neu-Delhi, in allen Metropolen der Welt tagein, tagaus auf eine Schuldenkrise, die auch andere Kontinente umfasst, zum Beispiel Amerika, die aber vor allen Dingen Europa erschüttert. Wir spüren, dass diese Schuldenkrise Auswirkungen auf die ganze Welt hat.
Damit, liebe Freunde, kommen wir zum Kern dessen, worum wir uns kümmern müssen und was uns beschäftigt. Was bedeutet diese Schuldenkrise eigentlich? Sie bedeutet doch nichts anderes, als dass wir Menschen zulasten unserer Zukunft leben, und das im Übrigen nicht nur im Bereich der Finanzen, sondern in vielen anderen Bereichen auch. Überall stoßen wir auf Verhaltensweisen, die auf Dauer nicht gutgehen können. Wir wissen das, und wir spüren es in dieser Zeit ganz besonders.
Überall stoßen wir auf ein Denken, das kein Morgen kennt: ökologisch, sozial, ökonomisch. Wir sehen eine globale Finanzwirtschaft, in der alles seinen Preis hat, aber immer weniger einen Wert. Alexander Rüstow, einer der Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft, hat vor Jahrzehnten formuliert, dass die Wirtschaft – ich füge hinzu: die Finanzwirtschaft ist ein Teil der Wirtschaft – „Dienerin der Menschlichkeit“ zu sein hat.
Man mag es angesichts der dramatischen aktuellen Turbulenzen kaum noch aussprechen: die Finanzwirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit. Aber nur, weil viele nicht mehr wissen, was das heißt, ist der Satz noch lange nicht falsch. Er ist heute genauso richtig wie am Anfang der Sozialen Marktwirtschaft. Er ist visionär, und auch für die Finanzwirtschaft gilt: Sie hat Dienerin der Menschlichkeit zu sein, wenn sie den Geboten der Sozialen Marktwirtschaft entsprechen will.
Wir müssen es schaffen, dass dieser Satz ernst genommen wird. Die Wirtschaft und die Finanzwirtschaft müssen den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Das heißt doch nichts anderes als das, was uns immer geleitet hat: im Zweifel für den Menschen. Das muss bei jeder Entscheidung unser Handeln leiten. Im Zweifel für den Menschen, damit es gerecht zugeht: Genau das ist das Verständnis unseres christlichen Menschenbildes.
Aber seien wir doch ehrlich: Immer mehr Menschen – dem begegnen wir täglich – zweifeln daran, dass es nach diesen Prinzipien in der Globalisierung gerecht zugeht. Ich sage es ganz deutlich: Auch in Deutschland – man muss immer zuerst zu Hause anfangen – gibt es Unternehmen, die sich einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne liefern, statt einen Wettbewerb um die besten Köpfe und Ideen zu veranstalten.
Es ist richtig: Es gibt Menschen, die zwei oder manchmal auch drei Jobs haben und am Ende trotzdem noch zu wenig in der Tasche haben, um vernünftig leben zu können. Das ist mit einer menschlichen Gesellschaft nicht vereinbar.
Deshalb möchte ich ausdrücklich der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft danken, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat.
Ich habe sechs Regionalkonferenzen gemacht, liebe Freunde. In all diesen Konferenzen hat nicht die CDA wieder einmal gesagt, was an den Arbeitsbedingungen schlecht ist, sondern in all diesen Konferenzen war spürbar, dass neben dem Thema des Euro die Arbeitsbedingungen ein Thema sind, das viele unserer Mitglieder umtreibt. Deshalb müssen wir darauf Antworten finden.
Niemand von uns will einen flächendeckenden gesetzlichen, einheitlichen, politisch festgelegten Mindestlohn.
Wir sind überzeugt, dass die Tarifautonomie als Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft ein wesentlicher Bestandteil ist und gestärkt werden muss.
Aber, liebe Freunde, zur Realität gehört auch, dass heute längst nicht mehr so viele Beschäftigungsverhältnisse von der Tarifautonomie erfasst sind, wie das früher der Fall war. Jetzt können wir doch nicht einfach sagen: Weil die Tarifautonomie richtig ist, kümmern wir uns um das Ergebnis überhaupt nicht mehr. – Deshalb sagen wir:
Wir wollen dort eine Lohnuntergrenze, wo es keine Tarifverträge gibt. Wir wollen nicht, dass Menschen ohne jeden rechtlichen Schutz leben. Da wir aber wollen, dass die Tarifautonomie gestärkt wird, orientieren wir uns an dem, was Branchentarifverträge, die allgemeinverbindlich erklärt wurden, aussagen und was heute gültig ist. Weil wir das nicht selber machen wollen, bitten wir die Tarifpartner, genau dies vorzunehmen: jedem eine Richtung, eine Orientierung, damit man weiß, wo die Lohnuntergrenze ist, aber nicht politisch definiert, sondern von den Tarifpartnern auf der Grundlage bestehender Tarifverträge festgelegt. Das ist unsere Haltung, und diese Haltung ist richtig.
Damit – ich hoffe, Herr Hundt sieht es genauso – stärken wir die Tarifautonomie, liebe Freunde. Damit nehmen wir sie aber auch in die Pflicht. Denn wir können nicht weggucken und sagen: „Wenn das an vielen Stellen nicht mehr passiert, dann interessiert es uns nicht“, sondern dann müssen wir handeln, auch politisch handeln, aber nicht auf Feldern, von denen wir nichts verstehen; wir müssen vielmehr diejenigen, die etwas davon verstehen, ermutigen, selber zu handeln. So gehen wir dabei vor, meine Damen und Herren.
Als es nach dem Zweiten Weltkrieg darum ging, Deutschland wieder aufzubauen, hat sich die CDU für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stark gemacht, die eine Alternative zum Marxismus, aber auch – ich zitiere – „zur Versumpfung des Kapitalismus“ sein sollte. So hat Walter Eucken das damals ausgedrückt. Es geht also um eine Wirtschaftsordnung, die den Menschen dient und nicht zulasten unserer Zukunft geht. Weil wir heute global vernetzt sind, müssen wir es schaffen – so groß die Aufgabe auch aussehen mag -, die Werte und Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft weltweit zu verankern: für Gerechtigkeit und für Nachhaltigkeit.
Jedes Jahr bestimmen Wissenschaftler einen sogenannten Earth Overshoot Day, das heißt, einen Tag, an dem die Menschen alle regenerativen Ressourcen verbraucht haben, die unsere Erde pro Jahr zur Verfügung hat. Seit 1987 wird dieser Tag gemessen. 1987 war es der 19. Dezember. In diesem Jahr war es der
27. September. Seit diesem Tag leben wir auf der Welt von der Substanz.
Das steht für das Denken, das kein Morgen kennt. Wir wissen, dass dieses Denken falsch ist. Jeder von uns weiß das. Aber warum fällt es uns so unglaublich schwer, dieses Wissen auch in Handeln umzusetzen? Darauf geben Forscher der Columbia- Universität in New York einen spannenden Hinweis. Sie sagen nämlich: Für ein anderes Handeln braucht der Mensch nicht nur die Einsicht, sondern immer auch einen Anlass. Oft ist das ein unerfreulicher Anlass. Das ist vielleicht das Erfreuliche am Unerfreulichen: dass dieser Anlass die Möglichkeit zur Umkehr sein kann.
Was haben wir seit 2008 erlebt? Wir haben eine Bankenkrise erlebt. Wir haben die Wirtschaft gestützt. Wir haben einen Wirtschaftseinbruch von fünf Prozent gehabt. Wir haben anschließend eine Staatsschuldenkrise erlebt. Wenn uns das alles nicht genug ist, die Schuldenkrise in Europa als Anlass zu sehen, unser Leben anders zu gestalten, dann werden wir die Zukunft nicht bauen können.
Deshalb müssen wir diesen Anlass beim Schopfe packen.
Lassen Sie uns diese Krise deshalb als Entscheidung verstehen – das ist auch die Bedeutung des Wortes „Krise“ –, als eine Entscheidung zu einem Wendepunkt in der Art, wie wir unsere Politik gestalten: für Europa und für Deutschland, wie es das Motto unseres Parteitages ist.
Genau in dieser Lage führt uns wieder unser Kompass, unser Wertefundament. Für die CDU ging es immer darum, ein vereintes Europa zu schaffen, und zwar ein Europa, das den Menschen dient, sodass wir nach Jahrhunderten fürchterlichen Blutvergießens in Frieden und Freiheit leben können. Das war der Urgedanke nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ich frage Sie: Wo können wir diesen Gedanken besser ermessen als hier in Leipzig? Hier steht das Völkerschlachtdenkmal. Hier hat halb Europa vor 200 Jahren Krieg gegeneinander geführt; Zigtausende Menschen haben ihr Leben verloren. Hier steht das Schillerhaus. Hier begann Friedrich Schiller die „Ode an die Freude“ zu schreiben, die von Ludwig van Beethoven vertont wurde und die heute unsere Europahymne ist. Hier in Leipzig war 1989 das Zentrum der friedlichen Revolution. Hier haben die Montagsdemonstrationen begonnen. Die Menschen der DDR haben nicht nur die Mauer zum Einsturz gebracht, sondern auch den Eisernen Vorhang in Europa gemeinsam mit vielen anderen heruntergerissen.
Die friedliche Revolution, sie gehört heute unauslöschlich zur Identität unseres Landes und zur Identität Europas. Ich füge hinzu: Sie gehört auch unauslöschlich zur Identität der CDU, der Christlich Demokratischen Union; denn wie keine zweite Partei hat die CDU an die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit geglaubt, liebe Freunde.
All das macht doch deutlich: Es war ein langer Weg, damit Europa in Frieden und Freiheit leben kann. Das Verdienst der Generation von Konrad Adenauer war es, dieses Europa aufzubauen. Das Verdienst der Generation von Helmut Kohl war es, die Einheit unseres Vaterlandes zu vollenden und den Kalten Krieg zu überwinden. Helmut Kohl hat uns dabei immer wieder gesagt – er hat recht –: Die Einheit Deutschlands und Europas sind zwei Seiten einer Medaille.
Diese Maxime gilt unverändert, aber der Auftrag unserer Generation ist es jetzt, die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa zu vollenden und eine Politische Union Schritt für Schritt zu schaffen; denn, liebe Freunde, der Euro ist weit mehr als eine Währung. Er ist das Symbol der europäischen Einigung. Er ist inzwischen das Symbol für ein halbes Jahrhundert Frieden, Freiheit und Wohlstand geworden. Das ist alles andere als selbstverständlich. Das merken wir, wenn wir uns Entwicklungen anderswo vor Augen führen. Deshalb sage ich auch immer wieder: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das wollen und werden wir verhindern, liebe Freunde. Dafür arbeiten wir, weil es ein so großes historisches Projekt ist – für Europa, für Deutschland. Wenn es Europa nicht gut geht – das ist die Wahrheit –, geht es auch Deutschland auf Dauer nicht gut. Wir brauchen Europa, damit es Deutschland gut geht. Wir brauchen Europa, weil wir Europäer im globalen Konzert nur gemeinsam eine Stimme haben. Wir brauchen Europa, weil es die Grundlage unseres Wohlstands ist. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union. Neun Millionen Arbeitsplätze hängen direkt am Euro. Wir brauchen Europa, weil wir nur gemeinsam unsere Werte verteidigen und schützen können. Allein, mit gut ein Prozent der Weltbevölkerung, richten wir in dieser Welt wenig aus.
Dennoch – das ist die harte Wahrheit zur Zeit dieses Parteitages –: Europa ist heute in einer der schwersten Stunden, vielleicht in d e r schwersten Stunde seit dem Zweiten Weltkrieg. Für uns muss nur klar sein: Davon dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Wir haben es geschafft, 2008 die Finanzkrise zu überwinden, und zwar genau nach dem Motto: Deutschland wird gestärkt aus dieser Krise herauskommen. – Jetzt müssen wir es schaffen, dass Europa stärker aus seiner heutigen Krise herauskommt, als es in sie hineingegangen ist.
Ich habe vor ein paar Tagen, am 9. November, an einer Konferenz mit dem Titel „Falling Walls Conference“, also „Mauerfälle-Konferenz“, teilgenommen. Wissenschaftler aus aller Welt haben am 9. November dieses Jahres darüber diskutiert: Was sind die nächsten Durchbrüche? Wo müssen als Nächstes Mauern auf der Welt fallen, damit wir die Zukunft gestalten können, ähnlich wie es am
9. November 1989 war? Um im Bild dieser Konferenz zu bleiben: Für Europa ist genau ein solcher Durchbruch in eine neue Phase notwendig. Es ist Zeit für einen Durchbruch zu einem neuen Europa.
Wenn wir diesen Durchbruch zu einem neuen Europa wagen, dann müssen wir über den Tag hinaus denken. Indem wir die Schuldenprobleme dauerhaft überwinden – nur dadurch! –, können wir zeigen, dass unser Kontinent es schaffen kann, nicht weiter zulasten der Zukunft zu leben.
Ich sage: Jede Generation hat ihre politische Herausforderung. Jede politische Generation muss immer wieder neu unter Beweis stellen, dass sie auf der Grundlage des Wertefundaments die richtigen Antworten zu den heutigen Realitäten gibt. Die historische Bewährungsprobe unserer Generation ist es, zu zeigen, dass unser Kontinent, unser Europa, es schaffen kann, den Augenblick der Krise zu einer Wende zum Guten zu nutzen: für ein Denken an das Morgen und für ein Denken an die Menschen.
Was bedeutet das? Wir brauchen einen Rettungsschirm, um den Euro zusammenzuhalten, um Mauern zu errichten, wenn es zum Beispiel in Griechenland um eine Umschuldung geht, um sozusagen die Stabilität unserer Währung als Ganzes zu sichern. Aber parallel dazu brauchen wir – das war immer unser Ansatz – eine Verbesserung der Haushaltsführung in vielen europäischen Ländern. Gleichzeitig brauchen wir die Bereitschaft dieser Länder, mehr für ihre Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Das sind wieder zwei Seiten ein und derselben Medaille. Liebe Freunde, das haben wir immer und immer wieder gesagt.
Gleichzeitig spüren wir, dass etwas in Europa noch unvollendet ist. Die Entscheidung für den Euro, das war eine wegweisende Entscheidung. Aber nicht umsonst hat man damals davon gesprochen, dass wir eine Politische Union brauchen. Was heißt das für uns heute? Für uns heute heißt das: Wir müssen die Struktur der Europäischen Union weiterentwickeln; das heißt: nicht weniger Europa, sondern das heißt: mehr Europa; das heißt: Europa so aufzubauen, dass der Euro eine Zukunft hat, liebe Freunde.
Es ist im Grunde erstaunlich gewesen, dass sowohl die Märkte als auch die Politik zehn Jahre lang nichts von dem bemerkt haben wollen, was da im Euro-Raum los war. Jahrelang war es möglich, Schulden zu machen, ohne Sanktionen der Märkte, ohne Sanktionen im Rahmen des Stabilitätspaktes. Länder wurden in die Euro-Zone aufgenommen, obwohl doch wahrscheinlich ziemlich viele ahnten, dass sie die Voraussetzungen dafür nicht erfüllten. Ausgerechnet ein Land wie Deutschland hat damals selbst den Stabilitäts- und Wachstumspakt verletzt und ihn dann auch noch verändert und abgeschwächt. Das war unter Rot-Grün so, meine Damen und Herren, und das hat der Sache nicht geholfen.
Diejenigen, die das verursacht haben oder mit verursacht haben – ich will mal gerecht sein –, sagen jetzt: Weil wir den Stabilitätspakt abgeschwächt haben, weil wir ihn selbst nicht erfüllt haben, müssen wir jetzt die Vergemeinschaftung der Schulden betreiben und sofort Euro-Bonds einführen. – Dazu kann ich nur sagen: Das wird uns nicht in eine vernünftige Zukunft Europas, eines Europas, das an morgen denkt, führen.
Aber wir müssen in die Zukunft blicken. Die Lehre aus all diesen Fehlern, Versäumnissen und Lebenslügen heißt: Wir brauchen ein neues Verständnis unserer gemeinsamen Verantwortung in und für Europa. Wahr ist doch: Bislang haben wir uns in der europäischen Familie nicht entscheiden können, ob wir als Familienmitglieder verantwortungsbewusst handeln, wenn wir uns um die Belange der anderen Familienmitglieder nicht kümmern, oder ob wir verantwortungsvoll handeln, wenn wir uns einmischen.
Heute erleben wir etwas, das wir so stark noch nicht erlebt haben, aber in Zeiten dieser Krise ist es natürlich so: Irische Sorgen sind slowakische Sorgen, griechische Sorgen sind niederländische Sorgen, spanische Sorgen sind deutsche Sorgen. Es sind unser aller Sorgen, Sorgen aller 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Das heißt nichts anderes, als dass unsere Verantwortung eben nicht mehr an den Grenzen unserer Länder endet, sondern dass unsere Verantwortung darüber hinaus geht. Man kann es auch so sagen: Wir alle sind Teil einer europäischen Innenpolitik. Wir fangen jetzt erst an, zu verstehen, was das für unser Denken und Handeln jeden Tag bedeutet. Es kann sich daraus etwas Gutes entwickeln, wenn wir auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Innenpolitik zu einer wirklichen gemeinsamen europäischen Verantwortung finden.
Genau dafür steht unser Denken von Solidarität und Eigenverantwortung: Helfen, aber gleichzeitig die Erwartung äußern, dass jeder seine Hausaufgaben macht. Die geltenden Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts wurden etwa 60-mal nicht eingehalten. Passiert ist nichts. Liebe Freunde, wie oft wollen wir das noch erleben? Deshalb sage ich: Wir wollen, dass es automatische Sanktionsmechanismen gibt, dass es, wenn jemand die europäischen Verträge in Form des Stabilitäts- und Wachstumspakts verletzt, wirklich Durchgriffsrechte gibt, dass es ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof gegen solche Staaten gibt, dass dies nicht belanglos bleibt, sondern dass wir diese Schwächen des Lissaboner Vertrages dahingehend verändern, dass es gemeinsame Verantwortung gibt.
Liebe Freunde, ein Weiteres: Wir brauchen mehr klare Regeln für die Finanzmärkte. Die Finanzmärkte und die Banken waren sicherlich nicht die alleinigen Ursachen - ich habe über die Ursache gesprochen -, aber sie waren Brandbeschleuniger der Krise. Wir haben Gier erlebt, wir haben Zockerei erlebt, wir haben Kasino-Kapitalismus erlebt. Das alles ist das Gegenteil von sozialer Marktwirtschaft.
Deshalb ist soziale Marktwirtschaft immer die Notwendigkeit, Leitplanken zu setzen, Regeln zu setzen, in deren Rahmen die Märkte arbeiten können. Wir dürfen nicht nachlassen, dies immer wieder einzufordern, auch wenn es global nicht ganz einfach durchzusetzen ist.
Dazu gehört das Verbot von Leerverkäufen. Wie sind wir gescholten worden, als wir es alleine gemacht haben. Jetzt macht es schon ganz Europa. Dazu gehört die Einführung einer Bankenabgabe. Wir sagen ausdrücklich in unserem Antrag - wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht -: Wir brauchen eine Finanzmarkttransaktionssteuer, und wenn es global, wenn es in ganz Europa nicht geht, dann zumindest im Euro-Raum, damit dieser Raum seine Verantwortung für die Zukunft zeigt, liebe Freunde.
Das Schwierige an der Krise, in der wir heute stehen, ist, dass sie nicht über Nacht entstanden ist, sondern dass sie das Ergebnis von jahrzehntelangen Verfehlungen ist. Warum ist das schwierig? Solch eine Krise kann man nicht mit einem Paukenschlag, nicht mit einem Befreiungsschlag überwinden. Vielmehr haben wir einen langen anstrengenden Weg vor uns, für den wir im Übrigen weltweit noch viel werden werben müssen. Ich sage: Unser Europa ist jede Mühe und jede Anstrengung wert, ein Europa des Friedens, der Freiheit, des Wohlstands, ein Europa, das den Menschen dient. Dieses Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft in der globalen Welt. Deshalb ist jetzt der Augenblick zu handeln. Deshalb ist jetzt der Augenblick voranzuschreiten. Deshalb heißt es: Wir müssen zu Hause das tun, was notwendig ist, und gemeinsam in Europa die Werte, die uns wertvoll sind, verteidigen.
Liebe Freunde, manchmal fragen wir uns, ob wir das schaffen können. Ich sage: Warum sollen wir nicht diese große Herausforderung meistern können? Wir haben es in der Geschichte der Christlich Demokratischen Union immer wieder geschafft. Die Währungsreform 1948, die Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die Westbindung, der NATO-Doppelbeschluss, die Vollendung der deutschen Einheit, die Vollendung der europäischen Einigung - das alles sind Aufgaben, bei denen es in der Vergangenheit immer erfolgreich gelungen ist. Das sieht im Rückblick leicht aus, man hätte aber viele Fehler machen können.
So schließt sich der Kreis. Warum haben wir das geschafft? Wir haben es geschafft, weil wir immer die Kraft und die Fähigkeit hatten, in einer sich manchmal ganz schleichend, sich manchmal geradezu atemberaubend schnell verändernden Welt die notwendigen neuen Antworten zu finden. Wir haben es geschafft, weil wir unseren Kompass aus unseren Werten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität haben, weil wir unseren Kompass mit dem christlichen Menschenbild haben.
Dass das nicht immer einfach ist, spüren wir im Augenblick jeden Tag. Über die vergangenen Monate, diese Tage und Wochen, können wir, glaube ich, gemeinsam sagen: Sie gehören zu den anspruchsvollsten, die wir seit Jahren erlebt haben. Es sagt sich immer so leicht: Wir betreten Neuland. Das ist wahr. Aber wenn wir Neuland betreten, müssen wir dies immer in dem Bewusstsein tun, dass das Wohl der Menschen unser Maßstab ist, dass das Wohl unseres Landes und das Schicksal unseres Landes uns anvertraut sind. Das haben die politischen Generationen vor uns erlebt, und nun erleben wir es. Deshalb ist es an uns, nicht an Rückschlägen oder Niederlagen zu verzweifeln oder uns entmutigen zu lassen.
Wir haben in diesem Jahr Rückschläge und Niederlagen erlebt. Ich sage Hamburg, ich sage Bremen, und ich sage Baden-Württemberg. In Baden-Württemberg haben wir nach fast 60 Jahren die Regierungsverantwortung verloren. Es ist an uns, jetzt die richtigen Lehren daraus zu ziehen und mit neuer Kraft loszulegen. Ich sage: Die Bundes-CDU wird gemeinsam mit den Freunden in Baden-Württemberg genau daran arbeiten. Lieber Thomas Strobl, viel Kraft, viel Gemeinsamkeit, viel Aufbruch! Baden- Württemberg braucht eine gute Zukunft, und diese ist nicht ohne die CDU zu denken.
Genauso ist es an uns, aus den Erfolgen Kraft zu schöpfen. In Sachsen-Anhalt mit Reiner Haseloff an der Spitze und in Mecklenburg-Vorpommern haben die Menschen gesagt: Wir wollen die CDU in Regierungsverantwortung sehen. In Rheinland-Pfalz macht Julia Klöckner einen super Job. Mach Kurt Beck weiter die Hölle heiß, liebe Julia, das braucht er, und das brauchen wir! Das sind gute Taten.
Liebe Freunde, wer hätte noch vor wenigen Wochen auch nur einen Pfifferling auf Frank Henkel, auf unsere Berliner Freunde gegeben? Jetzt ist Rot-Rot Vergangenheit. Macht etwas daraus in Berlin in der Regierungsverantwortung. Wir wünschen euch allen Erfolg.
Das, liebe Freunde, macht uns Mut für die wichtige Landtagswahl in Schleswig- Holstein im kommenden Jahr. Das, was Peter Harry Carstensen aufgebaut hat, das soll Jost de Jager gemeinsam mit der ganzen CDU fortsetzen können. Lieber Jost de Jager, liebe Freunde in Schleswig-Holstein, kämpft! Wir kämpfen mit euch. Wir brauchen einen Erfolg in Schleswig-Holstein.
Liebe Freunde, ich mache mir keine Illusionen und sage es ganz unumwunden: Ohne die Unterstützung so vieler könnten wir das, was uns fordert, nicht bewerkstelligen. Auch die nächsten Tage, Wochen und Monate werden uns fordern. Das ist so in dieser Zeit. Ich kann sie namentlich alle gar nicht erwähnen: Volker Kauder, Hermann Gröhe, Horst Seehofer, Gerda Hasselfeldt, die Wahlkämpfer in den Ländern, das Präsidium und der Bundesvorstand, das Konrad-Adenauer-Haus, die Landes-, Bezirks- und Kreisvorsitzenden, die Ortsvorsitzenden, die Mitglieder der Bundesregierung und der Bundestagsfraktion sowie die Ministerpräsidenten. Eigentlich müsste ich jedem ausführlich danken. Weil die Zeiten so schwierig sind, ist es wichtig, dass wir uns untereinander verstehen.
Ich sage Ihnen ganz offen: In diesen schwierigen Zeiten, in denen wir jeden Tag ungewohnte Entscheidungen zu treffen haben, ist es für mich von allergrößter Wichtigkeit, die Vorsitzende einer Partei zu sein, die hinter mir steht und die aufgrund vieler Erfolge in der Vergangenheit einen Kompass hat. Dieser Kompass führt und leitet uns auch bei schwierigen Entscheidungen und Situationen, wie wir sie heute haben. Dieser Kompass zeigt uns, wie wir den richtigen Weg finden, den vor uns noch keiner gegangen ist.
Liebe Freunde, es ist keine kleine Aufgabe, wenn wir den Durchbruch für ein neues Europa schaffen wollen. Wir haben aber keine andere Wahl. Wir müssen bereit sind, diese Aufgabe anzunehmen und neue Wege zu gehen, wir müssen bereit sind, unsere Art zu leben, zu ändern und zu sagen: Wie wir unsere Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben haben, so müssen wir sie nicht nur jetzt mühselig bei jeder Haushaltsberatung erfüllen, sondern wir müssen innerlich davon überzeugt sein, dass wir damit ein zukunftsfähiges Leben ermöglichen. Die Christlich Demokratische Union hat die Aufgabe, einen solchen Weg den Menschen aufzuzeigen, damit sie weiter in Wohlstand leben können. Das ist unsere Aufgabe.
Genau dies hat viele vor uns angetrieben. Deshalb ist es wichtig, dass wir von diesem Parteitag das gemeinsame Signal aussenden: Wir verzagen nicht, wir jammern nicht, wir nörgeln nicht, sondern wir wissen, dass wir eine Aufgabe haben. Wenn wir diese Aufgabe erfüllen, wenn wir zukunftsfähig sind, wenn wir an das Morgen denken und wenn wir es damit ernst meinen, den Menschen zu dienen, dann wird die Christlich Demokratische Union die große Volkspartei der Mitte bleiben. Das möchte ich, und zwar mit Ihnen gemeinsam. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.