Dokumente zum Zeitgeschehen

»Pflegereform – sofort und richtig!«

Gemeinsamer Appell des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, des Deutschen Pflegeverbands und der Volkssolidarität, 19.1.2012

Das Maß der Menschlichkeit einer Gesellschaft bemisst sich auch und vor allem am Umgang mit von Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung betroffenen Menschen. In Deutschland liegt in dieser Hinsicht vieles im Argen. Die Grenzen der Pflegeversicherung sind erreicht.

Wir nehmen in unserer praktischen Tätigkeit Verwerfungen wahr, vor denen die Politik nicht länger die Augen verschließen darf:

Der aktuelle Pflegebedürftigkeitsbegriff reduziert die Menschen auf ihre rein körperlichen Gebrechen und Fähigkeiten. Damit wird er dem tatsächlichen Unterstützungsbedarf vieler nicht gerecht, darunter die große Zahl demenziell erkrankter Menschen mit besonderem Zuwendungsbedarf. Hunderttausende pflegende Angehörige erhalten nach wie vor nicht die Anerkennung und Unterstützung, die sie brauchen, um eine langjährige Begleitung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen ohne Überschreitung der eigenen Kräfte sicherzustellen. Die Beschäftigten in der Branche stehen unter zunehmendem Kosten- und Leistungsdruckan der Grenze ihrer Belastbarkeit.

Fest steht: Wir müssen die Pflege in Deutschland vom Kopf auf die Füsse stellen, um die demografischen Herausforderungen, die vor uns liegen, zu meistern und auch in Zukunft eine menschenwürdige Pflege für alle Menschen sicherzustellen. Das ist ein Gebot des Anstands und der Ethik, aber ebenso der Vernunft.

Zeit für eine Pflegereform mit Substanz!

Es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern ein politisches Handlungsdefizit. Bereits 2009 hat der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs konkrete Vorschläge für eine Reform und zur Umsetzung vorgelegt. Seitdem hat die Politik drei Jahre quasi tatenlos verstreichen lassen. 2011 wurde zum „Jahr der Pflege“ ausgerufen, doch passiert ist nichts. Die nunmehr in Aussicht gestellten Leistungsverbesserungen sind längst nicht ausreichend.

Die Menschen dürfen nicht länger mit Einzelmaßnahmen vertröstet werden. Wir brauchen eine umfassende Pflegereform aus einem Guss und mit Substanz, die diesen Namen verdient. Politik darf keine Zeit mehr verlieren, sondern muss in Kenntnis der Pflegewirklichkeit, mit Tatkraft und wirklichem Lösungswillen Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegesituation ergreifen. Die Konzepte liegen auf dem Tisch, jetzt muss es an die Umsetzung gehen.

Keine Privatisierung des Pflegerisikos!

Geld allein garantiert keine gute Pflege, aber die Rahmenbedingungen für eine gute Pflege haben ihren Preis. Dies anzuerkennen sowie eine den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechende und gleichzeitig kostenbewusste Pflegefinanzierung herzustellen, ist eine der wesentlichen sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit.

Die Privatisierung des Pflegerisikos ist aus Sicht der Unterzeichner keine Lösungsoption. Eine menschenwürdige Pflege für alle sicherzustellen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und geht uns alle an.

Vier Säulen für eine grundlegende Pflegereform:

Wir fordern…
... die sofortige Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs.

Gute Pflege ist mehr als die Hilfe bei körperbezogenen Verrichtungen. Die Leistungen der Pflegeversicherung müssen sich an den individuellen Bedarfen der Betroffenen orientieren. Der vom Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs empfohlene Pflegebedürftigkeitsbegriff muss umgehend in einer nachhaltigen Pflegereform unter Berücksichtigung des Aspektes, dass die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs weitere finanzielle Mittel erfordert, umgesetzt werden.

... die wirksame Unterstützung pflegender Angehöriger.

Gute Pflege wird zu einem Großteil durch Angehörige erbracht. Rund 1 Million Menschen werden allein durch Verwandte oder Nachbarn zu Hause betreut und gepflegt. Jeder zweite der Pflegenden ist berufstätig. Was diese Menschen brauchen, ist dreierlei: einen klaren einklagbaren Rechtsanspruch, Zeit und materielle Absicherung. Das neue Familienpflegezeitgesetz wird diesen Anforderungen in keiner Weise gerecht. Hier muss nachgebessert werden.

... mehr Zeit für gute Pflege.

Gute Pflege braucht Zeit und kostet Geld. Der tatsächliche Pflegebedarf und damit der erforderliche Pflegeaufwand muss in den jeweiligen Pflegestufen, die die Orientierung für den Personaleinsatz geben, realitätsgerecht abgebildet werden. Personalschlüssel müssen eine angemessene Versorgung ermöglichen. Pflegesätze, Entgelte und Preise müssen sich an der geforderten Qualität orientieren, die Verhandlungsstrategien der Kostenträger dürfen nicht einfach auf Kosten- und Preissenkungen zielen. Die Politik muss die Refinanzierung entsprechend sichern.

... eine Reform der Pflegeausbildung.

Gute Pflege braucht Nachwuchs und muss Perspektiven bieten. Die Pflegeausbildung ist neu zu konzipieren. Mit Abschluss der Pflegeausbildung muss ein direkter Einstieg in alle Tätigkeitsfelder des Gesundheitswesens und der Pflege möglich sein. Das gesamte Bildungssystem muss deutlich durchlässiger gestaltet werden. Die Kosten der Altenpflegeausbildung sind auf alle Versicherten umzulegen – analog zum Umlageverfahren der Kosten der Krankenpflegeausbildung in den Krankenhäusern. Da es sich bei Pflege um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt, ist auch über eine Finanzierung aus Steuermitteln nachzudenken.