Dokumente zum Zeitgeschehen

»Minijobs verdrängen sozialversicherungspflichtige Beschäftigung«

Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zu geringfügiger Beschäftigung, 4.10.2012

Gegenstand der Studie ist die Analyse der gegenwärtigen Beschäftigungssituation im Bereich der geringfügigen Beschäftigung („Minijobs“) sowie die Abschätzung der Wirkung verschiedener Reformoptionen, die auch Varianten zum derzeitigen Ehegattensplitting in der Einkommensteuer beinhalten. Das Segment geringfügiger Beschäftigung hat nach der Reform im Jahr 2003 enorm an Bedeutung gewonnen. Gegenwärtig sind mehr als sieben Millionen Menschen in so genannten 400 Euro-Jobs oder auch Minijobs beschäftigt. Geringfügige Beschäftigung als Sonderform der abhängigen Erwerbstätigkeit besteht von der Grundstruktur her aber bereits seit den 1960er Jahren. Maßgebliche Motive für die Einführung dieser Beschäftigungsform bestanden in der Vermeidung von Kleinstansprüchen in der Rentenversicherung sowie in der Linderung des damaligen Arbeitskräftemangels, um bislang auf dem Arbeitsmarkt Inaktiven eine Erwerbstätigkeit in geringem Umfang zu ermöglichen.

Die Intention besteht darin, die Aufnahme einer Tätigkeit mit geringer Stundenzahl für das Individuum finanziell attraktiver zu gestalten, indem diese von der Einkommensteuer und Sozialversicherung freigestellt wird. Aktuell besteht die folgende Regelung: Einkommen aus unselbstständiger Arbeit bis zu einer Höhe von 400 Euro im Monat unterliegt weder der Einkommensteuer noch der Sozialversicherungspflicht. Dies gilt sowohl für einen Minijob als alleinige Beschäftigung als auch für Nebentätigkeiten. Darüber hinaus ist geringfügige Beschäftigung auch für Zweitverdiener in Paarhaushalten steuer- und sozialversicherungsfrei, unabhängig von der Höhe des Erwerbseinkommens des anderen Partners. Ebenso können in Paarhaushalten auch beide Partner einen Minijob ausüben.

Im Gegensatz zu den Arbeitnehmern müssen Arbeitgeber für ihre geringfügig Beschäftigten Beiträge zur Sozialversicherung und Einkommensteuer abführen. Aktuell beläuft sich der Gesamtbeitragssatz auf etwas mehr als 30 Prozent des Bruttolohnes. Auf die gesetzliche Rentenversicherung entfallen 15 Prozent, auf die gesetzliche Krankenversicherung 13 Prozent. Zwei Prozent werden pauschal für die Einkommensteuer abgeführt. Schließlich werden Umlagen für Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, für entstehende Aufwendungen bei Schwangerschaft und Mutterschutz sowie für das Insolvenzgeld in Gesamthöhe von 0,77 Prozent erhoben. Diese Lohnnebenkosten liegen somit erheblich höher als die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, die sich im Jahr 2012 auf etwa 19,6 Prozent belaufen. Abgesehen von der Einkommensteuer- und Sozialversicherungsfreiheit unterscheiden sich Minijobs gerade in arbeitsrechtlicher Hinsicht nicht von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Regelungen wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüche etc. gelten auch im Bereich geringfügiger Beschäftigung. Trotz der Pauschalbeiträge begründet ein alleiniger Minijob in der gesetzlichen Krankversicherung kein eigenständiges Versicherungsverhältnis. In der gesetzlichen Rentenversicherung werden nur geringe Ansprüche erworben.

400 Euro-Jobs sind mit dem Prinzip „brutto gleich netto“ für ein breites Spektrum von Erwerbspersonen attraktiv. Schüler und Studenten nutzen sie als Beitrag zur Finanzierung der Ausbildung, während Rentner ihre staatlichen Altersbezüge damit aufstocken. Bezieher der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die zusätzlich erwerbstätig sind, wählen aufgrund der bestehenden Anrechnungsmodalitäten ebenfalls häufig einen Minijob. Schließlich bietet eine geringfügige Beschäftigung auch für Mütter (und Väter), die nach der Babypause zunächst in geringer Stundenzahl wieder erwerbstätig sein möchten, eine attraktive Einstiegsmöglichkeit.

An die Einkommensgrenze von 400 Euro schließt die so genannte Gleitzone an, die sich bis 800 Euro erstreckt. Im Rahmen dieser Gleitzone besteht vom Grundsatz her die volle Einkommensteuerpflicht. Bruttoeinkommen, das ausschließlich in einem Midijob erzielt wird, wird dennoch zumeist nicht zur Einkommensteuer herangezogen, da die jährlichen Einkünfte häufig unterhalb von Grundfreibetrag und weiteren Abzugsbeträgen liegen. Die zu leistenden Sozialversicherungsbeiträge werden demgegenüber mit ansteigenden Sätzen erhoben. Knapp oberhalb von 400 Euro liegt der Gesamtbeitragssatz bei 4,7 Prozent. Er wird mit steigendem Bruttoeinkommen sukzessive auf den normalen Arbeitnehmeranteil in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung angehoben.

Im Zuge des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz II“) im April 2003 ist die Gleitzone neu eingeführt worden, während die geringfügige Beschäftigung eine grundlegende Reform erfahren hat. Die Ziele dieser Reform bestanden darin, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse gegenüber der Schwarzarbeit attraktiver zu machen und sowohl Einstiegmöglichkeiten für arbeitsmarktferne Personen als auch Aufstiegsperspektiven für bereits geringfügig Beschäftigte zu schaffen. Die Möglichkeiten für geringfügige Beschäftigung wurden vor allem dadurch erweitert, dass die Einkommensgrenze von 325 auf 400 Euro angehoben und die vorherige Begrenzung der maximalen Arbeitszeit von 15 Stunden pro Woche abgeschafft wurde. In der Folge hat eine deutliche Expansion geringfügiger Beschäftigung stattgefunden. Die Zahl der Minijobber stieg von 4,2 Millionen im Jahr 2002 auf 7,4 Millionen im Jahr 2011. Davon üben knapp 2,5 Millionen einen Minijob im Nebenerwerb aus. Die Zahl der Midijobber ist seit der Einführung auf 1,3 Millionen gestiegen.

Mit der Expansion geringfügiger Beschäftigung sind aber auch problematische Aspekte dieses Arbeitsmarktsegmentes zu Tage getreten. Es zeigt sich, dass vor allem in der Zeit direkt nach der Minijob-Reform die Zunahme von 400 Euro-Arbeitsverhältnissen mit einem Rückgang von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung einhergegangen ist. Unterschiedliche Untersuchungsmethoden kommen zu dem Ergebnis, dass eine Substitution von Vollzeit- und Teilzeittätigkeiten mit längerer Wochenarbeitszeit durch geringfügige Beschäftigung stattgefunden hat. Das ermittelte Ausmaß dieses Effektes variiert jedoch zwischen den Studien. Besonders betroffen sind Tätigkeiten im Niedriglohnbereich und in einzelnen Branchen wie dem Einzelhandel und der Gastronomie.

Weiterhin ist davon auszugehen, dass die Befreiung von Einkommensteuer und Sozialversicherung, die zunächst dem Arbeitnehmer gewährt wird, teilweise auf den Arbeitgeber übergeht, weil dieser einen geringeren Stundenlohn zahlen kann. Dies gilt umso mehr, je höher die Arbeitslosigkeit ist und je mehr die Verhandlungsmacht beim Arbeitgeber liegt. Damit wird letztlich nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber subventioniert. Besonders betroffen sind geringqualifizierten Arbeitskräfte und so genannte Zweitverdiener in Paarhaushalten, also Personen, die von beiden Partnern das geringere Einkommen erzielen. Für diese Personengruppen spielen regional begrenzte Arbeitsmärkte, auf denen nur wenige Unternehmen agieren und dementsprechend hohe Nachfragemacht haben, eine besondere Rolle.

Beschäftigungspolitische Relevanz haben die Minijobs insbesondere auch für (potentielle) Zweitverdiener bei Verheirateten. Gerade für Ehefrauen, die nach der Phase der Familiengründung wieder gleitend ins Erwerbsleben zurückkehren wollen, erscheint geringfügige Beschäftigung zunächst sehr lukrativ, weil sie einen Einstieg mit geringer Stundenzahl ohne jegliche Steuern und Abgaben ermöglicht. Probleme entstehen jedoch, wenn die Arbeitszeit ausgedehnt werden soll oder wenn bei gleicher Arbeitszeit besser entlohnte Tätigkeiten ausgeübt werden können. Übersteigt das Bruttoeinkommen dadurch die Grenze von 400 Euro, wird das gesamte Einkommen ab dem ersten Euro der Einkommensteuer unterzogen. Die 400 Euro-Grenze stellt somit keinen Steuerfreibetrag dar, sondern eine Freigrenze. In vermindertem Maße gilt das auch in der Sozialversicherung, wo bei einem Einkommen knapp oberhalb von 400 Euro ein Beitragssatz von etwa 10 Prozent fällig wird, der mit zunehmendem Einkommen ansteigt.

Hinzu kommt die Ausgestaltung des Ehegattensplittings (Spezialform der gemeinsamen Veranlagung) in der deutschen Einkommensteuer. Erst- und Zweitverdiener unterliegen demselben Grenzsteuersatz, obwohl der Zweitverdiener zumeist ein deutlich geringeres Bruttoeinkommen erzielt. Zweitverdiener reagieren mit ihrem Arbeitsangebot in der Regel jedoch stärker auf Veränderungen beim Nettoeinkommen, sodass die Arbeitsanreize stark geschmälert werden. Alles in allem entstehen in einem gewissen Bereich oberhalb der 400 Euro-Schwelle extrem hohe effektive Grenzsteuersätze, die 100 Prozent deutlich überschreiten. Damit stellen Minijobs eine hohe Hürde für den substantiellen Wiedereinstieg von Müttern ins Erwerbsleben dar. Zwar ist die Aufnahme eines Minijobs zunächst lukrativ, der Übergang von geringfügiger in reguläre Beschäftigung lohnt sich dagegen umso weniger, wenn nicht gleich ein erheblicher Einkommenssprung möglich ist. Minijobs wirken somit wie eine Geringfügigkeitsfalle, die Mütter, die nach der Babypause zunächst nur in geringer Stundenzahl arbeiten wollen, an der beruflichen Entwicklung hindert, wenn mit zunehmendem Alter der Kinder auch längere Arbeitszeiten mit besserer Bezahlung möglich werden.

Weiterhin ist festzuhalten, dass geringfügige Beschäftigung in aller Regel keine Weiterbildungsmöglichkeiten und nur wenig Aufstiegschancen bietet. Außerdem entspricht bei mehr als der Hälfte der ausschließlich im Minijob Beschäftigten die ausgeübte nicht der erlernten Tätigkeit. Erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten solcher Personen können damit nicht produktiv eingesetzt werden. Schließlich werden im Rahmen von Minijobs nur geringe eigene Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erworben, was im Alter zu einer größeren Abhängigkeit der Frauen vom Partnereinkommen führt.

Es besteht somit politischer Handlungsbedarf im Segment der geringfügigen Beschäftigung. Dabei ist die Richtung, in die man gehen sollte, a priori noch nicht klar. Während einerseits manche fordern, Minijobs als systemwidriges Element im deutschen Beschäftigungssystem gänzlich abzuschaffen, sehen andere den Königsweg in einer weiteren Expansion mit Ausweitung der Verdienstgrenze. Zwischen diesen Extrempositionen sind verschiedene weitere Varianten denkbar. Aus der Literatur ist bekannt, dass die Minijobregelung bei verheirateten Paaren mit der Ausgestaltung der Ehegattenbesteuerung interagiert. Auch in diesem Bereich sind verschiedene Reformen denkbar, die sich im Wesentlichen in der Höhe des maximal möglichen Splittingvorteils unterscheiden.

Um die a priori unklaren Wirkungen solcher Reformmaßnahmen auf die Arbeitsmarktteilhabe, die resultierenden Beschäftigungsveränderungen, auf die Einnahmen und Ausgaben des Staates sowie auf die Einkommensverteilung quantitativ abschätzen zu können, sind vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit im Rahmen des Modells IZA␣MOD Simulationsrechnungen durchgeführt worden. Es handelt sich um ein empirisches Simulationsmodell, das auf einer Stichprobe des Sozioökonomischen Panels (SOEP) von 20.000 Personen in 11.000 Haushalten basiert. Eine wesentliche Besonderheit dieses Modells besteht darin, drei verschiedene Zustände nach Umsetzung eines Reformvorschlages zu simulieren. Zunächst werden rein saldenmechanisch die Auswirkungen auf das Budget der betrachteten Haushalte betrachtet. Verhaltensveränderungen werden in dieser Phase noch nicht betrachtet, so dass dieser Zustand quasi den „Morgen nach der Reform“ bezeichnet. In einem zweiten Schritt passen die Haushalte ihr Arbeitsangebot an. Hier wird also betrachtet, wie Individuen und Paare auf die individuellen finanziellen Auswirkungen der jeweiligen Reform reagieren. Im dritten Schritt wird schließlich betrachtet, wie sich die Arbeitsnachfrage der Unternehmen an das veränderte Arbeitsangebot anpasst. Auf diese Weise können quasi auch die langfristigen Auswirkungen von Reformen analysiert werden, wenn sich alle Akteure auf die neue Situation eingestellt haben.

Konkret wurden in der Simulation zwei Reformdimensionen untersucht: Veränderungen der Minijobregulierung und Veränderungen bei der Ehegattenbesteuerung. [...]

Insgesamt ist festzuhalten, dass Reformen im Bereich der Minijobs und mehr noch bei der Ehegattenbesteuerung zu nennenswerten Beschäftigungseffekten führen würden. Die letztendliche Bewertung einzelner Reformoptionen bzw. deren Kombinationen hängt dabei jedoch maßgeblich von den zugrunde liegenden Zielsetzungen ab. Soll etwa vor dem Hintergrund des erwarteten Fachkräftemangels vor allem die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, also die Zahl der Vollzeitäquivalente erhöht werden, sollten andere Reformen ergriffen werden (tendenziell stärkere Einschränkung von Splitting und geringfügiger Beschäftigung) als bei einem Zielkatalog, in dem die verstärkte Erwerbsintegration von Frauen und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze die Hauptrolle spielt (moderate Einschränkung des Splittings bei gleichzeitiger Ausweitung von Mini- und Midijobs). Die Simulationsergebnisse zeigen in jedem Fall, dass die Kombination aus Minijob- und Splittingreform größere Beschäftigungseffekte hat als alleinige Maßnahmen auf der einen oder anderen Seite. Kombinierte Reformen haben darüber hinaus stets positive Aufkommenseffekte und ergänzen sich bei der Reduktion der Einkommensungleichheit. Die gerade im Bereich der Splittingreformen beträchtlichen Umwälzungen müssten dabei nicht abrupt von heute auf morgen auf die Haushalte zukommen, sondern könnten über einen längeren Zeitraum hinweg sukzessive eingeführt werden. Damit käme es zu keiner Überforderung und die positiven Beschäftigungseffekte könnten sich mittelfristig einstellen.

Die vollständige Studie finden Sie hier.