Dokumente zum Zeitgeschehen

»Wir erleben eine zunehmend sozial gespaltene Demokratie«

Studie der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Demoskopie Allensbach zur Wahlbeteiligung in Deutschland, 10.6.2013

Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013

Vorwort  

Die Weiterentwicklung unseres demokratischen Systems ist schon immer ein Kernanliegen der  Bertelsmann Stiftung. In den letzten Jahren haben wir uns dabei vor allem darauf konzentriert,  Wege zu entwickeln und zu erproben, über die sich Bürger direkt, themenorientiert und ganz  konkret in politische Diskussionen und Entscheidungen einbringen können. Egal ob beim Bürgerdialog in der Kommune, beim ganztägigen Bürgerkompass auf Landesebene oder beim mehrwöchigen Bürgerforum mit dem Bundespräsidenten: Mit unseren Formaten wollen wir neues  Interesse für Politik wecken und gerade diejenigen zur aktiven Teilhabe motivieren, die sich aus  dem politischen Diskurs zurückgezogen haben.

Wer aber sind die Bürger, die sich nicht mehr am politischen Leben beteiligen? Was sind die  wichtigsten Gründe und Einflussfaktoren dafür, dass immer weniger Menschen am Wahlsonntag  ihre Stimme abgeben? Und wie nehmen die Deutschen das politische System und seine Parteien  im Jahr der Bundestagswahl 2013 insgesamt wahr?  

Der Blick in die Statistik ist eindeutig: Lag die Wahlbeteiligung im Bund bis Mitte der 80er Jahre  noch regelmäßig bei rund 90 Prozent, ist diese seither auf einen historischen Tiefstand von gerade  einmal knapp über 70 Prozent (2009) gesunken. Das ist ohne Frage eine besorgniserregende,  wenngleich nicht unmittelbar gefährliche Entwicklung. Im europäischen und internationalen Vergleich ist die Wahlbeteiligung in Deutschland immer noch überdurchschnittlich. Bedenklich wird  die Entwicklung erst, wenn vor allem bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder soziale Schichten  dem Urnengang fern bleiben. Genau diesen Trend belegt jedoch die vorliegende Studie der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Demoskopie Allensbach. Ob jemand wählen geht, hängt  demnach erheblich davon ab, wo er wohnt, welche Freunde er hat und ob in seiner Familie über  Politik gesprochen wurde. Zudem bleiben immer mehr Einkommensschwache und Bildungsferne  am Wahlsonntag zu Hause. So geben aktuell 68 Prozent aus der oberen Sozialschicht an, dass sie  bei der Bundestagswahl im September auf jeden Fall ihre Stimme abgeben werden. In der unteren  Schicht sagen dies dagegen nur 31 Prozent. All das zeigt: Wir erleben eine zunehmend sozial  gespaltene Demokratie.

Dazu kommt, dass das freie Wahlrecht heute deutlich weniger als staatsbürgerliche Pflicht verstanden wird als dies noch in den 80er Jahren der Fall war. Das gilt – wie diese Studie belegt – ganz  besonders für die jüngeren Generationen, wo die Nicht-Wahl inzwischen breite gesellschaftliche  Akzeptanz erfährt. Zwar steigt mit zunehmendem Alter das Interesse an Politik; ist aber die Politisierung einer Erstwähler-Generation niedrig, ist das bei späteren Wahlen kaum noch aufzuholen.  Insofern müssen wir uns wohl auf langfristig weiter sinkende Wahlbeteiligungen einstellen

Es gibt aber auch Positives zu vermelden: Die Studie zeigt nämlich auch, dass wir es in Deutschland nicht mit einer generellen Demokratieverdrossenheit zu tun haben. Im Gegenteil: Während  der Urnengang für die Deutschen an Bedeutung verliert, wächst die allgemeine Zufriedenheit mit der Demokratie und dem politischem System. Im Gegenzug sinkt der Anteil der Unzufriedenen  auf einen neuen Tiefstwert: Lediglich elf Prozent der Bundesbürger geben an, mit der Demokratie unzufrieden zu sein. Vor zehn Jahren sagten das noch nahezu drei Mal so viele. Und noch  ein Ergebnis mag auf den ersten Blick überraschen: Entgegen der landläufigen Meinung erkennt  eine wachsende Mehrheit von mittlerweile knapp zwei Dritteln der Bürger durchaus große Unterschiede zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien. Nur noch ein knappes Viertel ist aktuell  der Meinung, diese seien im Grunde nicht unterscheidbar – gerade mit Blick auf die anstehenden  Wahlkämpfe und das dort typische Bemühen um politische Zuspitzung ein interessantes Resultat.  

Welche Schlüsse ziehen wie aus all diesen Erkenntnissen für unser Ziel, die repräsentative Demokratie durch mehr politische Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen zu stärken? Auf eine Kurzformel  gebracht: Aktivierung und Erklärung statt Polarisierung. Denn ganz wesentlich wird es sein,  Strategien zu entwickeln, die Jüngere und sozial schwächere Menschen wieder mehr für Politik  begeistern. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich ganze Stadtteile von der politischen Teilhabe  abkoppeln. Wenn Politik am Küchentisch kein Thema mehr ist, muss politische Sozialisation mehr  als zuvor in der Schule stattfinden. Mit dem Schülerhaushalt hat die Bertelsmann Stiftung hier ein  erstes Instrument entwickelt, das Kinder schon früh in einen politischen Entscheidungsprozess  einbindet und so für dauerhafte Beteiligung motivieren soll.

Ausgehend von dieser Auftaktstudie werden wir weitere Herausforderungen für die Zukunft der  Demokratie in Deutschland analysieren. Wie wirkt sich Bürgerbeteiligung auf das bestehende politische System aus? Wie gestalten wir unsere Politik generationengerecht? Wie sieht die Zukunft  unserer Parlamente aus? Und wie müssen sich Parteien verändern, damit sie ihre zentrale politische Rolle weiter wahrnehmen können? Das sind die Leitfragen, die uns im Laufe des kommenden  Jahres beschäftigen werden.   

Dr. Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung

Prof. Dr. Robert Vehrkamp, Direktor des Programms Zukunft der Demokratie

Die vollständige Studie finden Sie hier.