Dokumente zum Zeitgeschehen

»Der Schlüssel für einen Neuanfang in der Ukraine liegt bei den politischen Eliten«

Positionspapier der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Krise in der Ukraine, 15.3.2014

Die Ukraine erlebt derzeit die schwerste Krise seit ihrer Unabhängigkeit 1991. Die Eskalation der Gewalt in Kiew, der dutzende Menschenleben zum Opfer fielen, separatistische Bestrebungen auf der Krim und die instabile Lage im Osten des Landes – all das ist neben Russlands verantwortungsloser Großmachtpolitik auch einer auf Eigennutz bedachten Elite anzulasten. Das korrupte und zusehends autoritäre Janukowytsch-Regime war der bislang extremste Ausdruck einer politischen Kultur, die auf die Bedienung von Partikularinteressen ausgerichtet ist und guter Regierungsführung keine Chance lässt. Nachdem im Zuge der Revolution in Orange schon einmal Hoffnungen in der Bevölkerung auf einen substantiellen politischen Wandel enttäuscht worden sind, ist es von zentraler Bedeutung, wie ukrainische Politiker jetzt und in Zukunft mit ihrer Macht umgehen.

Angesichts der Krimkrise mit ihren vielfältigen (sicherheits-)politischen und wirtschaftlichen Implikationen für die post-sowjetischen Staaten und die EU geraten Entwicklungen in der ukrainischen Innenpolitik leicht aus dem Blickfeld. Die ukrainische Regierung kann plausibel geltend machen, dass andere Fragen momentan zurückstehen müssen. Dabei übt die herrschende Elite schon jetzt eine bestimmte Form des Umgangs mit der Macht ein. Sowohl Brüssel als auch ukrainische zivilgesellschaftliche Akteure sollten die innenpolitische Entwicklung genau verfolgen, um einer Fortschreibung der schädlichen Verhaltensmuster vorzubeugen, die sich spätestens seit der Präsidentschaft Leonid Kutschmas (1994–2005) etabliert haben.

Der Schlüssel für einen genuinen Neuanfang in der Ukraine liegt bei den politischen Eliten. Sie müssen dafür ihre Einstellungen zur Macht auf der einen und zur Gesellschaft auf der anderen Seite grundlegend ändern. Unter solchen Umständen sind auch externe Akteure beim Umgang mit dem Land ganz anders gefordert als im Falle eines Streits über die Inhalte geplanter Reformen. In der Ukraine gilt es, eine inhaltliche Dimension überhaupt erst in die Politik einzuführen. Bisher wurde die Politik eher von Intrigen und Partikularinteressen bestimmt als von inhaltlichen Debatten über unterschiedliche Gesellschaftsmodelle oder die Folgen, die Maßnahmen wie die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU haben könnten. In vielen Fragen harrt die Ukraine immer noch an dem Punkt aus, an dem sie sich zu Anfang der Transformationsphase 1991 befand. In mancher Hinsicht hat sich die Situation sogar verschlechtert. Dies gilt nicht nur für politische Akteure, sondern auch für den nach wie vor sowjetisch geprägten Verwaltungsapparat. Wenn es um grundsätzliche politische Weichenstellungen ging, etwa um die Ausarbeitung oder Änderung der Verfassung oder um die Wahlgesetzgebung, hat sich die Elite in der Regel an kurzfristigen politischen Bedürfnissen einzelner Personen oder kleiner Gruppierungen orientiert. Die langfristigen Interessen des Landes hat sie dabei ebenso wenig berücksichtigt wie sie ein Verständnis von Gemeinwohl entwickelte. Gesetze wurden manipuliert bzw. selektiv angewandt, um bestimmte Interessen zu bedienen und Oppositionsfiguren auszuschalten. Statt Effizienz und Professionalität der Verwaltung allmählich zu steigern, wurde sie für private Zwecke missbraucht. Deshalb ist es in der jetzigen Phase äußerst wichtig, im Parlament (und anderswo) eine Kultur zu etablieren, die inhaltliche Debatten ermöglicht und begünstigt. Deren Zweck muss es sein, Reformen in Kernbereichen vorzubereiten und einzuleiten, die der Allgemeinheit dienen. Die Regierung muss beweisen, dass sie gewillt ist, Kompromisse mit andersdenkenden Akteuren zu suchen und inklusiv vorzugehen. Das wird insofern eine enorme Herausforderung sein, als dies einen Bruch mit der bisherigen Sozialisation und Erfahrung ukrainischer Politiker darstellt. Die heutige Elite ist der Versuchung ausgesetzt, schnelle Entscheidungen zu treffen, auf die auch die internationale Gemeinschaft drängt. Dennoch zählt in dieser Phase der Prozess genauso viel wie das Ergebnis. In der Vergangenheit waren Entscheidungsprozesse oft mit großen Mängeln behaftet, die das Ergebnis maßgeblich und negativ prägten. Das gilt sowohl für die Gesetzgebung als auch für die Entscheidungsfindung in der Exekutive. Wenn man diese Mängel in der ersten Herrschaftsphase der neuen Machthaber nicht beseitigt, droht die Gefahr, dass sie die alten problematischen Verhaltensmuster übernehmen.

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