Dokumente zum Zeitgeschehen

»Mindestlohn für Langzeitarbeitslose: 5,67 statt 8,50 Euro?«

WSI-Report des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, 15.6.2014

Mit der geplanten Ausnahmereglung für Langzeitarbeitslose beim Mindestlohn will die Bundesregierung die Beschäftigungschancen dieser Gruppe erhöhen und ihnen einen besseren Übergang in eine reguläre Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen. Die hier diskutierten Konsequenzen einer solchen Regelung legen jedoch den Schluss nah, dass im Endeffekt eher das Gegenteil eintritt und sich die Chancen für einen dauerhaften Wiedereinstieg ins Arbeitsleben sogar weiter verschlechtern werden.

Geht man davon aus, dass auch bei Langzeitarbeitslosen zukünftig keine sittenwidrigen Löhne gezahlt werden dürfen, so könnten die Löhne nach Einführung des allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro für diese Beschäftigtengruppe auf bis zu 5,67 Euro abgesenkt werden. Die Ausnahmeregelung beim Mindestlohn wirkt damit wie eine pauschale Lohnsubvention, die nach dem Gießkannenprinzip auf alle Langzeitarbeitslose übertragen wird, ohne dass damit individuelle Fördermaßnahmen verbunden wären. Im Ergebnis wird dies zu umfangreichen Substitutions- und Drehtüreffekten führen. Gerade bei eher gering qualifizierten Tätigkeiten wird für die Unternehmen ein starker Anreiz geschaffen, bestehende Beschäftigungsverhältnisse durch „billigere“ Langzeitarbeitslose zu ersetzen. Deren Beschäftigungsperspektive dürfte in vielen Fällen von vornherein auf maximal sechs Monate begrenzt sein, bevor sie wieder durch neue Langzeitarbeitslose ausgetauscht werden.

Bereits heute schaffen im Jahr gerade einmal 16 % aller Langzeitarbeitslosen den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt, von denen wiederum lediglich die Hälfte auch nach 12 Monaten weiterhin beschäftigt ist. Gerade bei der Rückkehr in stabile und langfristige Beschäftigungsverhältnisse spielen oft individuelle Fördermaßnahmen, die auch Eingliederungszuschüsse für Unternehmen enthalten können, eine wichtige Rolle. Eine wirksamere Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit müsste deshalb darauf setzen, die bestehenden individuellen Förderprogramme deutlich auszubauen. Stattdessen besteht nun sogar die Gefahr, dass von der nun vorgesehenen Pauschalsubventionierung durch die Ausnahmeregelung beim Mindestlohn negative Auswirkungen auf die etablierte Förderpraxis ausgehen.

Offensichtlich ist sich die Bundesregierung bei den zu erwartenden Arbeitsmarkteffekten, die von der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose ausgehen, selber sehr unsicher. So enthält das Mindestlohngesetz eine Selbstverpflichtung, wonach die Bundesregierung bereits nach zwei Jahren dem Parlament eine Evaluation dieser Regelung vorlegen soll, in der geprüft werden soll, ob die Ausnahme vom Mindestlohn tatsächlich die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt gefördert hat. Auf der Grundlage dieser Evaluierung soll dann entscheiden werden, ob diese Regelung weiter fortbestehen soll (Bundesregierung 2014: 51). Angesichts der erheblichen Risiken, die mit dieser Regelung verbunden sind, wäre es sehr viel plausibler den umgekehrten Weg zu gehen und erst einmal zu evaluieren, ob mit dem Mindestlohn tatsächlich negative Beschäftigungseffekte für Langzeitarbeitslose verbunden sind.

Schließlich wird in der gesamten Diskussion bislang völlig ausgeblendet, dass mit der Ausnahmereglung für Langzeitarbeitslose faktisch die Tarifautonomie untergraben wird. So wird de facto zweierlei Recht für Betriebe mit und ohne Tarifbindung geschaffen, das den nicht-tarifgebundenen Unternehmen einen deutlichen Wettbewerbsvorteil verschafft und damit einen Anreiz zur Absenkung von Tarifstandards oder sogar zur Schwächung der Tarifbindung setzt. Dies ist umso unverständlicher, als das diese Regelung sich in einem Gesetzespaket wiederfindet, dass den Titel „Stärkung der Tarifautonomie“ trägt. 

Bundesregierung (2014): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz), Deutscher Bundestag Drucksache 18/1558, 28.05.2014. 

Den vollständigen Bericht finden Sie hier.