Dokumente zum Zeitgeschehen

»Die Ausländerbehörde hat eine Zweitduldung erteilt«

Gutachten des Juristen Andreas Fischer-Lescano zum Einigungspapier des Berliner Senats mit den Geflüchteten vom Oranienplatz, Juni 2014

Zusammenfassung des Rechtsgutachtens Fischer-Lescanos in Thesen:

Das Einigungspapier Oranienplatz ist mangels einer Einigung kein öffentlich-rechtlicher Vertrag, sondern es enthält mehrere hoheitliche Verpflichtungen in Form von Zusicherungen einseitiger Natur.

Das Einigungspapier Oranienplatz verpflichtet den Senat des Landes Berlin gegenüber den „gelisteten“ Personen, im Wege der Umsetzung durch den zuständigen Senator für Inneres und Sport die Ausländerbehörde Berlin zu verpflichten, die Zuständigkeit gegenüber denjenigen Personen zu übernehmen, die sich bislang im Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde befanden und für diesen Bereich im Besitz einer Duldung sind oder waren oder denen die Abschiebung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeordnet wurde. Für die Personen, die auf der Liste stehen und in der Gerhard-Hauptmann-Schule wohnten, steht diese Verpflichtung unter der aufschiebenden Bedingung des jeweiligen individuellen Auszugs aus der Schule.

Die Durchführung von Einzelfallverfahren gegenüber Personen mit einer Aufenthaltsgestattung bzw. Personen im Asylverfahren darf nicht an die Bedingung des Auszugs aus der Schule geknüpft werden.

Den Personen gegenüber muss für die Dauer des Verfahrens die Abschiebung ausgesetzt werden, soweit eine solche Aussetzung der Abschiebung rechtlich erforderlich für den Verbleib in Deutschland ist. Dieser Sicherung des Aufenthaltes wird die Erteilung einer Duldung, nicht hingegen die Erteilung einer Duldungsfiktion gerecht, da dies dem Zweck und den übrigen Bestimmungen des Einigungspapiers nicht entspricht. Auch nach Ablauf des Einzelfallverfahrens verbleibt die Zuständigkeit bei der Ausländerbehörde Berlin.

Das Einigungspapier Oranienplatz verpflichtet den Senat weiterhin konkret und verbindlich, den in Bezug genommenen Flüchtlingen vom Oranienplatz einen Zugang zu Deutschkursen und zu Berufsausbildung, Studium und Arbeitsmarkt zu ermöglichen, insoweit dies nach den auf dem Einigungspapier beruhenden aufenthaltsrechtlichen Papieren rechtlich möglich ist.

Indem es die Ausländerbehörde Berlin über einen längeren Zeitraum hinweg unterließ, die räumliche Beschränkung von geduldeten Personen aus dem Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde durchzusetzen, hat die Ausländerbehörde konkludent die Zuständigkeit übernommen und den betreffenden Personen konkludent eine Zweitduldung erteilt. Die Personen haben einen Anspruch auf Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung.

Das Land Berlin hat durch die Einweisung der Personen in Gemeinschaftsunterkünfte und durch die Gewährung von finanziellen Leistungen, die den Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes entsprechen, angesichts der evidenten und groben Überschreitung der Vorgaben des § 11 Abs. 2 AsylblG den betreffenden Personen gegenüber eine Umverteilung vorgenommen bzw. gegenüber den vorher an anderen Orten geduldeten Personen die Zuständigkeit übernommen und konkludent eine Duldung erteilt. Die Personen haben gegenüber der Ausländerbehörde einen Anspruch auf Erteilung einer Duldungsbescheinigung.

Aus der Duldung des Protestcamps durch den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg als solchem und dem unterlassenen Einschreiten des Senates im Wege der Bezirksaufsicht erwachsen keine unmittelbaren aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen. Allerdings wurde durch das Unterlassen von bezirksaufsichtsrechtlichen Maßnahmen und damit durch die faktische Duldung des Protestcamps die konkludente Übernahme der Zuständigkeit bzw. die konkludente Erteilung von Duldungen rechtlich verfestigt.

Soweit das Land Berlin die Zuständigkeit für Personen übernommen hat, die vorher dem Zuständigkeitsbereich einer anderen Ausländerbehörde unterlagen, ist es verpflichtet, Leistungen nach dem AsylblG einschließlich der medizinischen Versorgung zu gewähren.

Das vollständige Gutachten Prof. Dr. Fischer-Lescanos und Dr. Lehnerts im Auftrag der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen und die Beauftragte für Integration und Migration finden Sie hier (Juni 2014).

Das dem entgegenstehende Gutachten Prof. Dr. Kay Hailbronners im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Frank Henkel, CDU)  finden Sie hier (September 2014).

Das „Einigungspapier Oranienplatz“, ausgehandelt zwischen den Geflüchteten und der Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) für den Berliner Senat finden Sie hier (März 2014).